Was die "narkotische Wirkung von Musik"; anlangt, sagt Christian Thielemann,
sei er "schwer empfänglich". Begonnen habe das schon, als er erstmals
den Tristan hörte. Und jedes Mal, wenn er vor dem Orchester stehe
bei einem Ring, dann wisse er, "warum ich Dirigent geworden bin".
Wieder gefunden habe er diese "anziehend narkotische Wirkung" auch bei
Pfitzner im Palestrina
Diese dunkle Rotwein-Instrumentierung
– das sei, was ihn fasziniere; und auch die Art, wie manche Ältere,
zumal Furtwängler, Musik gemacht haben. Was ihn heute "so
wahnsinnig" störe, sei der "absolut helle, überbrillante Klang", weshalb
er in seinen Aufnahmen auch so "rigide" achte auf dies völlig andere
Klangbild. Und wenn er "geohrfeigt" werde dafür, dann wisse er doch, es
sei angekommen, was er wollte.
Einen Sturm der Entrüstung hatte der Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin Christian Thielemann entfacht, als er vor zehn Jahren als frisch gebackener GMD ausgerechnet in Nürnberg, 29 Jahre jung und etwas ahnungslos, den Pfitznerschen Palestrina als Einstand wählte; fünfzig Jahre war das Werk dort nicht mehr erklungen, wie viele meinten: zu Recht. Thielemanns Aufsehen erregendes Palestrina-Dirigat dann im Januar 1997 an Londons Covent Garden spaltete nicht nur Presse und Publikum, sondern auch das "board of directors". Als unverschämt wurde empfunden, gerade den Palestrina auf die königliche Bühne zu stemmen, und dies als einzige echte Premiere in der Fünfzig-Jahre-Jubiläums-Spielzeit. Allerdings war diese Produktion die erste professionelle dieser Oper überhaupt im Vereinigten Königreich achtzig Jahre nach der Uraufführung unter Bruno Walter in München.
"Beglückende Momente"; neben "lärmend Irrelevantem" empfanden die einen Kritiker, eine Mischung aus "Exaltiertheit und Allgemeinplätzen", aus "Kitsch-Szenario mit teutonischer Ernsthaftigkeit und kontrapunktischer Korrektheit" die anderen. Ähnlich divergierend auch die Reaktionen dann ein halbes Jahr später beim Gastspiel dieser Produktion in New York; erstmals in Amerika erklang der Palestrina dort. Und immer wieder wurde angemerkt: diese Musik hinterlasse "Bitternis" beim Hören vor dem Hintergrund von Pfitzners Rolle im Dritten Reich. Verstörend sei an dieser Musik, dass sie den Nazis als Vorwand gedient habe gegen die so genannt entartete Kunst. Gleichwohl, meinte ein Kritiker der New York Times, jeder, der sich für Oper interessiere, müsse dies Werk gehört haben, und zumal in Thielemanns Leitung, und auch wenn beim Hören dieser in weiten Zügen autobiographisch gefärbten Künstler-Oper "Vergnügen und Pein" immer "eng beieinander" lägen.
Was für Thielemann an Pfitzner zählt, ist im Palestrina der eigen gefärbte Meistersinger- und Tristan-Ton, auch wenn er immer wieder sich ergießt in einen introvertierten Leidensmodus, die Engels-Reinheit von deutscher Seele, auch wenn sie eher gespielt wirkt, die Heroik à la Lohengrin im Käthchen-Vorspiel oder die etwas schwiemelige Schwüle in der Oper Das Herz. In der Brutalität des Palestrina-Mittelakts mit dem Konzil – "wenn man das so spielt, wie es gehört, hat man sich nach zehn Minuten die Finger durchgesägt" – hört Thielemann die grimmige Ironisierung der Kirche mit einem Wunschtraum-Papst, der am Ende zu dem Komponisten in die Kate gekrochen kommt, damit der ihm die gewünschte Messe im alten Stil komponiert. Die vielen kammermusikalisch fein ziselierten Instrumentalfarben im ersten und noch mehr im dritten Akt mit schon dem Vorspiel "zum Absaufen" - die haben es ihm angetan, "was Schöneres gibt es nicht".
So viel habe er bei Pfitzner gefunden, was ihm gefalle, so viel auch durch Pfitzner für sein Verständnis Schumanns und dessen Art des Instrumentierens gelernt, dass er sich im Innersten gedacht habe: "jetzt bloß Dir das nicht durch die Politik kaputt machen lassen!" Und die Reaktion des Publikums in London und New York hätten ja das eigene Gefühl bestätigt. Fast alle Vorstellungen waren ausverkauft. Die Leute kamen oft mehrmals, am Ende tobend. Für das Jahr 2001 ist eine neue Aufführungsserie mit neuen Sängern in London vereinbart. In seinen Sprödigkeiten und Schroffheiten erschließt das Stück sich ja tatsächlich nur schwer und gewiss nur einem begrenzten Publikum. Immer wieder lässt Pfitzner einen Melodie-Faden abreißen, lässt die Figur des Palestrina zurückfallen in eine Endzeit-Stimmung und todesmüde Depressivität – für Thielemann der einzige Punkt, an dem er Schwierigkeiten hat mit dem Stück.
Soll man einen Komponisten beurteilen nach seinen menschlichen Qualitäten und politischen Haltungen? Thielemann verweigert hier political correctness. Auch Wagner war gewiss kein Engel und so sympathisch wohl nicht, sagt er. Aber wer einen Tristan schreibt – vor dem "rutschen die Leute von hier bis nach Bayreuth und zurück; das sind Dinge, die sich entziehen". Thielemann pocht auf seinen Spaß beim Musizieren. Ihm gehe es um Musik und nicht um Politik. "Ich gehe einfach danach, ob mir was gefällt oder nicht", sagt er. "Und wenn Sie mir mit einer Huldigungskantate für Stalin kommen, und ich weiß das nicht, weil ich russisch nicht verstehe, und mir gefällt das, dann werde ich auch davor nicht zurück schrecken", setzt er kess eins drauf.
Für Thomas Mann war der Palestrina, als er ihn einst noch vor der Uraufführung kennen lernte, etwas "absolut Bezauberndes", in das er sich "sofort über beide Ohren verliebt" habe, ein "Stück sterbender Romantik", etwas "Letztes aus der Wagner-Schopenhauerschen Atmosphäre". Sogar einen Freundeskreis wollte er für Pfitzner organisieren. Was beide mehr und mehr entfremdete, war die an Pfitzner erst bewunderte, dann zur granteligen Rechthaberei umschlagende Diskutierlust, die immer weiter auseinanderdriftende Beurteilung der politischen Verhältnisse der Weimarer Zeit. Pfitzners, wenn auch zögerliche, Mitunterzeichnung des Anti-Mann-Manifests 1933 wegen des Autors kritischer Wagner-Gedenkrede zum 50.Todestag brachte den nie mehr gekitteten Bruch.
Als vor allem menschliches Problem möchte Thielemann Pfitzners immer tiefere Entfremdung von der Wirklichkeit begreifen, ausgelöst durch den Verlust auch seines Straßburger Kapellmeister-Amtes mit dem Ende des ersten Weltkriegs, seine in ihrem Ressentiment immer verbitterteren Attacken gegen Busoni und Schönberg und das Sich-Eingraben in eine vermeintliche "deutsche Volksoper", seine partielle Anbiederung an die Nazis, gipfelnd in jener noch über den Krieg hinaus manifestierten Nibelungentreue für den als Kriegsverbrecher verurteilten, wenn auch künstlerisch an ihm interessierten ehemaligen Generalgouverneur in Polen, Hans Frank. Zum anderen der ungeschmälerte und beneidete Erfolg des im Kalkulieren auf Wirkung ungleich versierteren und ob seiner Weltläufigkeit mehr geliebten Richard Strauss. Schon Hofmannsthal urteilte über Pfitzner als Theaterkomponist, ihm fehle "das Funkelnde, das Lockende, die Reizzone".
Aus seiner konservativen Grundhaltung macht Thielemann, der sich selbst mal als
"Wilder" bezeichnet hat, kein Hehl. Er möchte nicht , wie heute üblich, querbeet "herumhoppeln in diesen
Repertoires", er möchte in bestimmte Stücke sich vertiefen können und
andererseits nicht alles auswendig dirigieren müssen. Das bedeuten für
ihn die kapellmeisterlichen Traditionen. Seine Affinität zu Pfitzners
Fortschritts-Skeptizismus muss nicht, die zu dessen dunkel grüblerischem
Ton kann verwundern. Und so sehr er die Diskussionen um Pfitzner leid
ist, so sehr findet er sie doch "nützlich". Kunst ist nicht a priori
politisch, beharrt er; was ihn interessiert an Pfitzner, ist dessen ganz
besondere Farbe. Die hat er sich zu seiner eigenen erkoren. Von daher
auch seine neuerliche Affinität zu Hans Werner Henze und dessen
Klangsinn.
Man muss seinen Gefühlen vertrauen, sich loslassen, man muss "Dinge im Dunkeln lassen können", sagt er. Und auch wenn Pfitzner auch ihm in vielem eklektisch erscheint – aber was konnte er schon Neues finden, wo doch Richard der Einzige, wie Thielemann Wagner tituliert, "alles revolutioniert" hat, entgegnet er. "Wie komponieren nach Tristan" also das eigentliche Thema im Fall Pfitzner? Pfitzner als der Radikale, den man gezwungen hat, ein Konservativer zu sein, wie in Umkehrung des Schönberg-Worts Bernhard Adamy formuliert? Von der "Ratlosigkeit gegenüber Pfitzner" sprach der Kulturpsychologe Arthur Seidl schon 1913, vor dem Palestrina. Die Ratlosigkeit hat sich eher noch verstärkt.
Besonders Tröstliches hatte in der anschließenden Premieren-Feier noch der Senator zu verkünden, als er dem "großen Zauberer" Götz Friedrich für sein "Abschiedsgeschenk an Berlin" dankte. Es gebe in Berlin keinen "Opernkrieg", meinte Kultursenator Christoph Stölzl. Es gebe nur ein "kleines Problem", eine, wie er sagte, 400jährige Institution aus "aristokratisch-verschwenderischen Zeiten" überzuführen in eine neue Zeit mit ihrer demokratischen Regeln unterworfenen Buchführung. Aber man dürfe zuversichtlich sein hinsichtlich der neuen Ordnung. Umstürzlerisches werde es nicht geben. Auf "Entwarnung" stünden die Zeichen, seit der Bund "ein Türchen" aufgemacht, die Mäzene den "Ernst der Lage" erkannt hätten und sogar das Parlament erstmals "selbstkritisch" mit den Dingen sich befasse. Bald werde er etwas vorstellen, das über Weihnachten dann noch mal überschlafen und im kommenden Februar in einen Senatsbeschluss umgewandelt werde. Alle würden zufrieden sein. Ein "Ranking" der Berliner Opern werde es nicht geben. Alle drei Häuser würden "unmittelbar zum Publikum" arbeiten können. Wunder freilich dauern immer etwas länger. Aber "alles wird gut, wenn die Menschen guten Willens sind" - griff er die Botschaft der soeben erlebten Premiere auf.
Amahl und die nächtlichen Besucher.Gian Carlo Menottis 1951 entstandene Kinder-Weihnachtsoper ist des Hausherren Götz Friedrich letzte eigene, von ihm selbst an der Deutschen Oper verantwortete Premiere, sein Vermächtnis, wie er verlauten ließ vorab. Fast tragisch, dass er die ins amerikanische Wellblech-Milieu versetzte Drei-Königs-Botschaft nicht mehr selber "verkünden" konnte. Seit einer Woche liegt er im Krankenhaus. "Thrombose" lautet die offizielle Erklärung. Hinter vorgehaltener Hand flüstern die Auguren Ernsteres. Wie bei seiner ersten Inszenierung als Chef an der Bismarckstraße, 1981 mit Janáceks Gulag-Ahnung Aus einem Totenhaus, ließ Friedrich sich ein Bahngleis auf die Bühne bauen von Bühnenbildner Gottfried Pilz. Die drei Bettler-Weisen aus dem Morgenland soll es zu dem neuen König und seinen Verheißungen führen.
Etwas rührselig ist die von Menotti, dem musikalischen Bürger zweier Welten, selbst geschriebene Story. Der Legende nach ließ er sich dazu von Hieronymos Boschs Anbetung der drei Könige inspirieren. Es war die erste nur fürs Fernsehen komponierte und bei NBC auch uraufgeführte Oper - welch in der Tat wunderbare Zeiten! Die drei Bettel-Könige mit einem den nun schon opern-erprobten Aldi-Einkaufs-Wagen hinter sich herziehenden Pagen suchen Quartier bei einer alleinstehenden Mutter mit einem gehbehinderten Kind. Die will den Dreien was von ihren gesammelten Opfergaben heimlich stibitzen. Als sie ertappt wird, will Amahl - mit wunderbar weicher Stimme und bühnengewandt Thomas Timmer vom Tölzer Knabenchor - seine Krücken als Gabe für das gelobte Kind mit drauf legen. Und siehe - er kann plötzlich selbst gehen ohne Stützen. Friedlich tippelt das Quintett nun gemeinsam dem Stern nach mit dem Schweif, entlang den Bahngeleisen.
Zu einem eigens (von Douglas V. Brown) hinzukomponierten Vorspiel lässt Friedrich den Magier Igor Jedlin auftreten. Zur Freude der vielen Kinder im Parkett darf der aus leeren Papiertüten knallrote Tücher oder schneeweiße Tauben zaubern, Zeitungsseiten wie Götzenstatuen auf dem Finger balancieren und endlos Tennisbällchen aus dem Mund kotzen. Ein weiterer Kommentar - im Vorspiel seiner Luisa-Miller-Inszenierung jüngst ließ Friedrich von einem Heckenschützen das Bild des Territorialherren vom Haken schießen -, ein weiterer Kommentar zur Art der Verabschiedung des scheidenden Intendanten nach zwei Jahrzehnten aus seinem Berliner Amt? Man müsse ihn schon aus dem Haus tragen, hatte er alle Fragen zu einem möglichen selbst bestimmten Abschied noch bei seinem 65.Geburtstag vor fünf Jahren abgewehrt. Jetzt hat die deutsche Opernkonferenz, die selbsternannt ein Gegengutachten zum so genannten Stölzl-Papier erstellte, genau dies als einen der Hauptgründe herausgefunden in der misslichen Berliner Lage: dass zwei Patriarchen in Berlin zu lange zu fest in ihren Stellungen sich eingegraben hätten. Die gleichen x Opern-Weisen sagen das, die über Jahre mit ihrem "Hosianna" Friedrich als ihren König auf den Schild hoben. Nun zieht die Karawane weiter, sagt uns Amahl.
Alles ist gespannt, wie künftig die sich gestaltet: Ob Senator Stölzl etwa die Kraft hat, nach den programmierten Wechseln an Bismarck- und Behrenstrasse, auch für frische Lüftchen Unter den Linden zu sorgen oder ob er mit seinem weihnachtlichen "allen wohl und niemand weh" nur klein bei gibt. Friedrich immerhin, der anfangs immerhin auch einen Hans Neuenfels oder einen Achim Freyer als Regie-Konkurrenz an sein Haus zog, hat in seiner letzten Spielzeit noch einmal bewiesen, dass er beim allgemeinen Wettwerfen um die Speckwurst zu Korrekturen fähig ist. Amahl und Luisa Miller sind dafür schöne Beispiele - die ästhetischen Ergebnisse hin oder her. Bei Homoki an der Komischen Oper setzen wir fest darauf, bei Barenboim und Co aber warten wir noch immer, eher bange und ohne allzu viel Zuversicht.
Meuchelnde Finsterlinge schwappen durch die Szene. Die Pistolen liegen wie Essbesteck offen in der Vitrine. Briefe werden mit Flinten geschrieben und signiert. Jeder bedient sich hier gern der Schießwerkzeuge, und geballert wird mächtig. Auch wenn es nur Platzpatronen sind. Es ist wie im Berliner Opernkrieg.
Götz Friedrich verabschiedet sich aus der Regiekanzel des fast zwei Jahrzehnte von ihm geführten und fast bis ins Trudeln gebrachten Musik-Dampfers Deutsche Oper Berlin. Mit Verdis Luisa Miller hinterlässt er wenigstens noch eine Preziose der Opernliteratur. Zugleich versteht man aber auch, weswegen man dem 1849 für Neapel komponierten Werk, Verdis dritter Schiller Adaptation, so selten auf den Spielplänen begegnet. Es ist ein Rigoletto mit gebremstem Schaum. Die Zensur hat das Schillersche Auflehnungsdrama gegen Feudalwillkür Kabale und Liebe zu einer, wie bei Verdi ja geläufigen, Dreiecks-Eifersuchts-Geschichte mit Todesfolge schrumpfen lassen. Zu bewundern gleichwohl des Meisters musikdramatischer Spürsinn, seine immer wieder selbst in den nicht als "Meisterwerke" geltenden Opern zu beobachtende Fähigkeit, eher disparat scheinende Handlungsfäden zu bündeln in großen Ensembles.
Die Berliner Neuproduktion von Luisa Miller aus Anlass des im Jahr 2000 weltweit ausbrechenden "Verdi-Jahres" glänzt mit Stimmenpracht. Vor allem Ana Maria Martinez in der Titelpartie der einfachen Soldatentochter Luisa kann, immer mehr sich steigernd, beeindrucken durch eine außerordentlich feinfühlige Figurengestaltung. Ihr adeliger Liebhaber Rodolfo - Schillers Ferdinand, der aber wegen Namensgleichheit mit einem damals regierenden Bourbonen umbenannt werden musste im Libretto - ist der inzwischen sehr ins Heldentenorale gewachsene Richard Leech. Etwas unsauber in der Tongebung singt Igor Morosow den an den Rollstuhl gefesselten invaliden Vater der Luisa. Als hoffmanneske Zuhälter-Schatten-Figur Wurm versucht sich der spillerige Arutjun Katchinian. Den Oberschurken im Bratenrock, Graf Walter, gibt mit Sonorität Reinhard Hagen.
Götz Friedrichs Regie hat sich, noch ehe die Oper beginnt, ins Selbstzitat verabschiedet. Die Vorgeschichte vom Grafen-Mord, dem der regierende Walter seinen Aufstieg verdankt, wird wie eine Freischütz-Moritat mit vom Haken fallenden Bild nachgestellt. Alle Unsäglichkeiten der in die Tiroler Alpen verlegten Geschichte bebildern Friederich und sein Ausstatterpaar Gottfried Pilz und Isabel Ines Glathar mit getreulichem Naturalismus. Seidenpapier-Hänger im Alpenpanorama grenzen die intimen Räume ab. Pirouetten drehende Diener mit Gesichtsmasken sollen auf dem polierten Schachbrettmuster-Steinboden eine gespreizte Glas-Wasser-Operettigkeit beschwören. Als Gustaf Gründgens des Musiktheaters möchte Götz Friedrich sich wohl für die Geschichtsbücher empfehlen.
Das Publikum ist gnädig und bezieht ihn ein in die Jubelchöre für die Sänger, den Chor, das ganze Team. Die Regie-Schlachten sind geschlagen an der Bismarckstraße. Die aktuellen werden auf ganz anderem Felde geführt. Etwa dem des Orchesters. Und wie immer die Barenboimsche Staatskapelle als Lordsiegelbewahrer des Opernorchester-Klangs in der Stadt derzeit sich gebärdet, das Orchester der Deutschen Oper, von Christian Thielemann in den letzten Jahren auf Hochkurs getrimmt, muss mitnichten vor dem der Lindenoper kuschen. Im Gegenteil. So konzentriert, so transparent und klangschön sie ihren Verdi - zudem unter einem ganz kurzfristig eingesprungenen Dirigenten, Frédéric Chaslin - spielen, das mögen die Kollegen in Mitte bei ihrem Verdi eine Woche später mit Macbeth ruhig nachmachen.
Dass der Abend an der Bismarckstraße aber dann doch eher unbefriedigt lässt, ist dem ungenügenden Gesamteindruck zuzuschreiben. Das Stück erzählt bekam man nicht. Eher die selbstmitleidige Geschichte über den heimtückischen Abschuss eines Opern-Revierförsters vom Bilderhaken. Aber man darf ja nun nach einer kurzen Fermate vielleicht doch hoffen auf kommende Zeiten.
Einen "Dino des
Musiktheaters" nannten sie ihn, ein Arbeitstier
war er. Seine Bilanz: mehr als 170 Inszenierungen in
42 Jahren. Er selbst bezeichnete einmal als seine
"eigentlichen Universitäten" die Musik,
die Partituren, die Filme, nicht Opern-, nicht
Theater-Aufführungen. Und was er von seinem Lehrer Walter
Felsenstein vor allem gelernt habe: die
"Arbeitswut und eine unerhörte
Zeitdisziplin". 21jährig kam er zu ihm als
Praktikant an die Berliner Komische Oper.
Dabei
wollte der aus Naumburg gebürtige Anwaltssohn, wie
er seinem "liebsten Feind" einmal gestand,
eigentlich zu Brecht. "Aber
Brecht war ausverkauft" hinsichtlich
Assistenten-Stellen, und "ich wollte nicht einer
von vierzig sein". So wurde Felsenstein sein
"Chef", wie der liebevoll an der Komischen
Oper genannt wurde und wie Friedrich auch selbst sich
gern nennen ließ später an seiner Deutschen Oper.
Zu Felsensteins ewigem Kronprinzen stieg er auf.
Über zwanzig Jahre arbeitete er "unter ihm, mit
ihm"; es hatte ihn "gepackt", von
Felsenstein zu lernen, "was Oper sein kann",
wie man sie "ganz anders" machen kann, was
das heißen könnte Realismus - immer sich
fragen und es auf der Bühne begründen, warum einer
singt.
Seine Debüt-Inszenierung war 1958 in
Weimar Così fan tutte. Als seine wichtigsten
Aufführungen danach bezeichnete er die Jenufa
1964 an der Komischen Oper und 1970 die legendäre
Produktion von Porgy und Bess mit Manfred
Krug in der Hauptrolle. Einschneidende Zäsur in
Friedrichs Leben war das Jahr 1972. Beim Holland-Festival
konnte er Falstaff inszenieren und dann bei den
Bayreuther Festspielen den heftig angefeindeten Tannhäuser.
Zum Betriebskampfchor "Rote Lokomotive Leipzig"
fühlte sich da etwa der damalige CSU-Chef Franz
Josef Strauß ob des dumpfe Assoziationen
weckenden Getümmels auf der Wartburg versetzt. Ein
anschließendes Gastspiel in Drottningholm mit Così
nutzte Friedrich auf eine Weise, wie es viele machten:
Der DDR und seinem Ziehvater Felsenstein kehrte er
endgültig den Rücken.
In Hamburg bei August Everding
und ab 1976 an Londons Covent Garden, wo er mit einem
spektakulären Ring reüssierte, fand er neue
Wirkungsstätten. In aller Welt konnte er nun
inszenieren. Wien, München, Stuttgart, Zürich, Salzburg
und Oslo waren weitere Stationen. Dass er als
Felsensteins "Muster-Schüler" dann als
ausgegrenzter Republik-Flüchtling galt, war für ihn
immer eine Last. Die Abnabelung vom "Meister"
war jedenfalls keine innere. Sie musste eine
geographische und dann auch politische sein, weil man
damals nicht anders "ungestraft" kommen konnte
"von dem einen Deutschland in das andere".
Programmatisch
eröffnete er seine Generalintendanz an Berlins
Deutscher Oper 1981 mit Janáceks Gulag-Ahnung Aus
einem Totenhaus. Spektakulär sein zweiter Ring
1984, den er in einer Art Zeittunnel spielen ließ
und der auch in Tokyo und Washington viel Beifall
fand. Einen dritten Ring hatte Friedrich
noch einmal für das neue Opernhaus in Helsinki
gestemmt. Von seinen Uraufführungen bleiben in
Berlin vor allem Wolfgang Rihms Oedipus
(1987) und Hans Werner Henzes Verratenes
Meer (1990) in Erinnerung und zuletzt für seinen
Freund Siegfried Matthus dessen
Kronprinz Friedrich (1999) zur
Wiedereröffnung des Schlosstheaters
Rheinsberg. Dass
Friedrich neben sich einen Regie-Berserker wie Hans
Neuenfels ans Haus zog mit vielen umtosten
Inszenierungen wie Bernd-Alois Zimmermanns Soldaten
oder Verdis Rigoletto, oder dass er Achim
Freyer mit Glucks Orfeo oder Händels
Messias anfangs an das Haus zu binden wusste,
hat vor allzu großen stilistischen Einseitigkeiten
bewahrt.
Ein Glücksfall dann das Engagement
von Christian Thielemann als
Generalmusikdirektor, nachdem er mit
Giuseppe Sinopoli noch vor
dessen Amtsantritt sich überworfen hatte. Aber auch mit
Thielemann kam es schon bald zum Zerwürfnis wegen
Besetzungsfragen. Mit Friedrichs dritter Frau Karan
Armstrong wollte Thielemann nicht weiter musizieren.
Angespannt in den letzten Jahren hat das Klima an der
Bismarckstrasse vor allem aber, dass Friedrich in die
politische Schusslinie geriet wegen des Defizits an der
Deutschen Oper. Geschmerzt hat das ihn immer sehr, die
Kartenpreise wollte er erschwinglich halten, Oper wollte
er als "Bürgeroper". Gern reichte er den
Schwarzen Peter an die Politik zurück: die habe einmal
gegebene Finanzzusagen nicht eingehalten.
Ohnmächtig
schaute er dem Bedeutungsverlust der nach der Wende aus
der "Mitte" an die westliche Peripherie
gerückten Deutschen Oper zu. Nur widerwillig
stimmte er einem erzwungenen Ausscheiden aus seinem Amt
zum Ende dieser Spielzeit nach 20 Jahren zu. Bitter hat
er das auch auf der Bühne immer wieder kommentiert. Als
sein "Vermächtnis" hatte er seine letzte
Inszenierung bezeichnet, das Kinder-Weihnachtsmärchen
Amahl und die nächtlichen
Besucher von Gian Carlo Menotti.
Den Beifall bei der Premiere konnte er selbst nicht mehr
entgegen nehmen. Die Eingeweihten wussten, es stand sehr
ernst um ihn: Lungenkrebs.
Am 12.12.2000 ist Götz Friedrich
gestorben im Alter von 70 Jahren nach kurzer schwerer
Krankheit. Nicht einmal das Ende seiner
Generalintendanz der Deutschen Oper im Sommer 2001
konnte er noch erleben. Pläne für danach hatte er
trotz seiner schon beachtlichen Œuvres schon wieder
viele. Loslassen können - das hatte er nicht
gelernt, dieser Wotan und Mime des Musiktheaters in
einem. In Erinnerung bleiben wird er als Meister
eines populären musikalischen Volkstheaters,
als (durch DDR-Erfahrung) gewiefter und unermüdlicher Taktiker und
Streiter für sich und die Belange der Oper.
Schicksalhaft, unheimlich, gespenstisch-makaber scheint dieser Tod.
Noch lebhaft erinnert man sich jener Szene im Juni 1990:
Zu einer Extra-Pressekonferenz hatte der designierte GMD
der Deutschen Oper in ein Berliner Hotel geladen. Zur
offiziellen Jahrespressekonferenz der Deutschen Oper war
er nicht erschienen. Temperamentvoll zog er vom Leder
gegen den damaligen Generalintendanten Götz Friedrich. Lügen, Vertragsverschleppung warf er ihm
vor, übergangen fühle er sich, undemokratisch
behandelt, behindert in seinen Schallplattenplanungen mit
dem Orchester. Der definitive Rücktritt noch vor
Amtsantritt war nur eine Frage der Zeit.
Zwar eröffnete Giuseppe Sinopoli die Saison dann doch
mit der lange geplanten Strausschen Salome.
Und so glutvoll, klangschön, lautmalerisch nuanciert bis
ins Detail, so auftrumpfend in den Zarathustra-Tönen, so
glühend, brennend, sich verbrennend, schwelgend in den
Orientalismen und verschliert in den Endstadien des
Wahnsinns, so plastisch hatte man die Strauss-Partitur
nie gehört; die spätere CD-Produktion ließ den
Premiereneindruck kaum erahnen. Sinopolis Sinne
schweiften da aber auch schon zu dem neuen Orchester, das
um ihn buhlte und das er selbst als eines der ganz
wenigen schätzte mit einem ganz besonderen eigenen
samtigen Klang, Richard Wagners "Wunderharfe".
Im August 1992 trat Sinopoli in Dresden sein Amt an als
Chefdirigent der
Sächsischen Staatskapelle, programmatisch
mit einem Schönberg-Bruckner-Abend.
Ein Tüftler, ein Genauigkeitsfanatiker war er, alles wollte er selber im
Griff haben, impulsiv der Zeichengebung, mit dem ganzen
Körper gleichsam sprechend ähnlich Furtwängler, ein
Kopf- und Bauchmusiker mit stechendem Blick. Seine erste
Berufung war das Dirigieren aber nicht. Am 2.November
1946 in Venedig geboren, studierte er neben Musik und
Komposition auch Medizin und Psychiatrie in Padua und
promovierte. 1968 pilgerte er nach Darmstadt, Bruno Maderna
und Karlheinz Stockhausen waren seine Lehrer, in Siena
Franco Donatoni. Ab 1972 belegte er Dirigierkurse bei
Hans Swarowsky in Wien. 1975 gründete
er sein eigenes Ensemble "Bruno Maderna",
versuchte sich zu profilieren als Komponist. Der
gnadenlose Misserfolg seiner Oper Lou Salomé,
uraufgeführt 1981 in München in Götz Friedrichs Regie,
beendete diesen Zweig seiner Lebensplanung. Aber da war
er schon ein umworbener Dirigierstar. Nach einer frühen Aida
und einer Tosca (1976/77) in
Venedig kam mit Verdis Macbeth 1980 an der
Deutschen Oper Berlin der Durchbruch.
Hamburg, Wien,
London waren die nächsten Stationen.
Was seine Interpretationen auszeichnete, war die
strukturelle und philologische Durchleuchtung der
Partituren, ihre gleichsam explosive Ausdeutung. Sinopoli
glaubte nicht den überlieferten Texten, machte sich auf
"archäologische" Spurensuche nach dem
Verdischen Urtext in den Ricordi-Archiven. Unzählige
Schlampereien in den gedruckten Ausgaben konnte er
tilgen. Mit seinen textkritischen Vorarbeiten setzte er
neue Maßstäbe der Verdi-Interpretation. 1983 wurde er
Chefdirigent der Santa Cecilia Rom undauch beim
Philharmonia Orchestra London. Bruckner,
Mahler, Schumann, Strauss galt nun seine
besondere Liebe. Ein gleicher Erfolg wie beim
italienischen Repertoire war ihm hier nicht vergönnt. So
flimmernd und an Zwischentönen reich seine
Mahler-Interpretationen waren - die große Form zerfloss
ihm oft. Nicht unumstritten auch seine Wagner-Interpretationen.
1985, im Jahr seines Debüts an der
Met mit Tosca
und auch beim New York
Philharmonic, dirigierte er erstmals in
Bayreuth am Grünen Hügel: Tannhäuser,
ab 1990 den Holländer, ab 1994, dem Jahr seines
Scala-Debüts mit Elektra,
den Parsifal und im letzten Jahr den Flimm-Ring.
Ab 2003 wollte Sinopoli, nachdem er von der aussichtslosen Reform der
Römischen Oper sich verabschiedet
hatte, die Gesamtleitung der
Dresdner Semperoper übernehmen. Nun
ist Giuseppe Sinopoli gestorben, nach Herzinfarkt am Pult
zusammengebrochen im 3.("Nil"-)Akt einer Aida-Aufführung
am 20.April 2001 in Berlin. Mit
Götz Friedrich hatte der
inzwischen auch Archäologe vor zwei Jahren das Gastspiel
verabredet. Friedrich hatte es sich gewünscht als Bonbon
in seiner Abschiedsspielzeit an der Deutschen Oper und
äußeres Zeichen der Versöhnung. In einem
"Aida per
Götz Friedrich" überschriebenen Text, den
Sinopoli dem Programmheft beilegen ließ, notierte er,
was vor allem ihn selbst auch charakterisierte: Verbunden
habe beide die "radikale Betrachtungsweise
menschlicher Existenz, kompromisslos und ohne
Einschränkungen. Unsere Unnachgiebigkeit war der Grund
für Schwierigkeiten." Und fast prophetisch wie ein
Nachruf auch auf sich selbst die Friedrich in den Mund
gelegten Schluss-Worte, entnommen dem Ödipus des
Sophokles: "Du und diese Stadt ... im Wohlergehen erinnert Euch
immer mit Freude an mich, wenn ich tot sein werde."