„Wir
sind frei. Zerschlagen ist die Sonne. Es lebe die Dunkelheit! Und die
schwarzen Götter ihres Lieblings, das Schwein!“
So dichteten frohgemut die futuristischen Kraftmenschen. Feiern
wollten sie die Gefangennahme und Einkerkerung der Sonne, den
glorreichen Sieg der Technik über die kosmischen Kräfte und den
Biologismus, den strahlend dunklen Tag des Siegs von Über-Vernunft und
Über-Sinn über den zahnlosen gesunden Menschenverstand und die
symmetrische Logik.
1913, vor fast genau hundert Jahren war das: die symbolische
Hinrichtung des zaristischen Russland und seiner als verrottet
empfunden Kultur. Angerichtet wurde sie vom Gesamtkünstler-Triumvirat
Alexej Krutschonych (Text), Michail
Matjuschin (Musik) und Kasimir Malewitsch
(Ausstattung). Der Erfolg dieser Einkerkerung in Malewitschs späterem
suprematistischen Schwarzen Quadrat war so durchschlagend, dass der
erfochtene „Sieg über die Sonne“ nach zwei Aufführungen im Dunkel der
Archive verschwand.
Vor dreißig Jahren bei Berliner Festwochen holte man sie erstmals wieder hervor. Eine Gruppe aus Kalifornien versuchte sich daran nach Blumenkinder-Art. Jetzt tat das wieder eine freie Gruppe. Sie nennt sich Novoflot. Vier Komponisten hat sie darangesetzt, dem Fragment neues Leben einzuhauchen. Eine Woche lang werden fünf „Inszenierungen“ gezeigt, darunter „Trainingslager, Hirnbesichtigungen, Sternwarten und Parlamente der Zukunft“, wie es im Programmzettel heißt. Auftakt war am Sonnabend im Seitenflügel von Berlins „Hamburger Bahnhof“ eine Performance, betitelt „Das Gehirn des Hauses“.
Eine Frau bewegt sich in einem Säulen-Geviert puppenhaft, wie
ferngesteuert, gibt Laute von sich, die per Computer verarbeitet
werden. In einer Videoprojektion erscheint eine Fallschirmspringerin,
ein Mann räumt eine Waschmaschine weg und dafür ein Bierfass hin. Oder
zwei junge Mädchen dialogisieren per Video auf zwei gegenüberliegenden
Wänden Unverständliches, und die Performerin hämmert dazu vier
Hölzchen zu einem Quadrat. Zwischendurch gibt’s als Einlage vom
automatischen Klavier Schnipsel der Originalmusik von Matjuschin oder
aus Wagners Wesendonck-Liedern „Träume“.
Die zweite von insgesamt fünf Abteilungen, genannt „Die
gegenstandslose Welt“, frönt dann dem von den Futuristen geforderten
Verlangen nach Laienkünstlern in einer Weise, die vor allem peinlich
wirkt.
Wie in einer schulfunkartigen Musikalisch-Literarischen Soiree werden Ästhetik-Texte aufgesagt, die kein Pendent im Gezeigten haben. Ältere Chor-Damen wedeln ihre Glieder vor offenbar Familien-Fotos, die als Dia an die weiße Wand von Halle zwei der Akademie der Künste geworfen werden. Ein kleines Orchester intoniert dazu Klänge, die sich aus schwurbeligen Dämpfen immerhin zu Konturierterem aufschwingen. Noch drei weitere Performances an anderen Orten sind im Lauf der Woche angesagt. Mit dem eigentlichen Anlass dürften sie genauso wenig zu tun haben wie die beiden ersten. Außer dem flotten Übertitel. Aller Witz, Pfiff, Aufbruch von einst – Fehlanzeige.
Ob die Geld-Bewilliger vom Hauptstadtkulturfonds und anderen Töpfen wussten, worauf sie sich einließen? Das „Theater der Zukunft“, das den russischen Futuristen vorschwebte, ist dies – hoffentlich – nicht.
Die Frau mordete, fünfzehn mal in zwanzig Jahren. Erst aus Not, dann wohl immer mehr aus Gewohnheit und Lust. Erst den trunksüchtigen, syphilitischen Ehemann, dann die Mutter, die Kinder, den Vater, den zweiten Mann, den Bruder, schließlich Bekannte aus der Nachbarschaft. Sie experimentierte mit ihren Giften, Rattengift, wie man es in jeder Apotheke kaufen konnte – bis man endlich Verdacht schöpfte, sie verhaftete, hinrichtete und ihren Kopf in Spiritus einlegte. Sie war als Monster eine internationale Attraktion. Tausende wollten ihre Hinrichtung erleben. In ihrer Haft hatte sie die Vision, dass die Ermordeten alle wieder auferstanden. Sie litt unter ihren Psychosen.
Über den Fall der Gesche Gottfried schrieb Rainer Werner Fassbinder 1971 ein Theaterstück, das er dann auch verfilmte. Die Geschichte spielt im bürgerlichen Milieu: Bremen, frühes 19.Jahrhundert. Gesche war für ihre damalige Zeit recht gebildet, konnte lesen, schreiben, rechnen, wurde von ihren Eltern aber zwangsverheiratet mit einem brutalen, haltlosen Mann, den sie nicht liebte, der sie unterdrückte, und von dem sie sich mit ihrem ersten Mord befreien wollte, um selbstbestimmt als Geschäftsfrau ihr Leben weiter zu führen. „Bremer Freiheit“ nannte Fassbinder denn auch sein Theaterstück, das die von Rumänien-Deutschen stammende Adriana Hölszky 1988 für die damals noch von Hans Werner Henze geleitete Münchner Musikbiennale komponierte (Libretto: Thomas Körner). Untertitel: „Singwerk auf ein Frauenleben“. Es ist ein Versuch instrumentalen Theaters, wie er heute schon wieder Geschichte ist. Die Darsteller agieren außer mit ihren Stimmen auch mit Alltags-Gegenständen als Klangerzeugern, wie Bratpfannen, Dachrinnen, Kindertrommeln und -Trompeten. Die Todesdroge „Mäusebutter“ wird in einer Kaffeetasse gereicht.
Auf die Experimentierbühne des Berliner Konzerthauses gebracht hat das die von der Abwicklung bedrohte Berliner Kammeroper. Kay Kuntze hat sich dafür von Ausstatter Stefan Bleidorn mitten in den Raum einen schmalen, leicht ansteigenden Steg als Bühne bauen lassen, an deren Halfpipe-artig sich aufwölbendem Ende das Fallbeil wartet. Die Figuren agieren auf dieser Bühne fratzenhaft-grotesk, wie in einem Kasperletheater. Die Männer alle in kurzen Hosen, Gesche im bodenlangen, eng geschnürten schwarzen Kleid, immer auch wieder den Rock hebend oder zum Rockheben gezwungen. Immer neue Leichen als schwarze Säcke häuft Gesche auf dem schmalen Steg. Jeder Tote wird in einer Art Trauerzug vom kleinen Chor zu Grabe gesungen. Ihre letzte Leiche vor der Verhaftung versteckt Gesche unter dem ganzen Berg von Sack-Leichen.
Der Aufwand ist beträchtlich, den Berliner Kammeroper, Konzerthaus und das Kammerensemble Neue Musik Berlin unter Peter Aderhold betreiben für eine perfekte Produktion, erst der dritten seit der Uraufführung. Das Spiel des 11-köpfigen Solisten-Ensembles mit Annette Schönmüller in der Hauptrolle hätte man sich allerdings etwas differenzierter gewünscht. Adriana Hölszky ging es mit ihrer damals ersten Oper ja um das Vielschichtige, Schattenhaft-Doppelbödige der Figuren dieses deutschen Biedermeier. Dennoch viel Beifall am Ende, auch für den Mut der Kammeroper, sich an dies doch recht aufwändige Stück zu wagen. Und sicher ein Beweis auch für ihre Leistungsfähigkeit.
Afrikanische Trommeln
im gezirkelten Barock-Garten von
Hannover-Herrenhausen? Den Garten entwarf der Philosoph Gottfried
Wilhelm Leibniz. Er wollte hier einen Ort schaffen für allerlei
Kuriositäten und Experimente: Von Wundern der Ingenieurskunst, über
Scharlatanerie bis hin zu Theater und Oper. Für ihr neues Festival, das
Kunst, Wissenschaft und Alltag verbinden soll und das sie unter das
Motto „Die Macht des Spiels“ gestellt hat, dachte Elisabeth
Schweeger „zwingend“, wie sie sagt, an Christoph Schlingensief
und sein Operndorf REMDOOGO, das er in Burkina Faso zu bauen begonnen
hat.
SCHWEEGER: Weil er mit seinem Festspielhaus in Afrika versucht ein Festivalzentrum zu eröffnen und er es als sehr soziale Kunst sieht, mit Schulen, Ateliers, Ausbildungsstätten. Das Kunstdorf ist ein richtiger sozialer Lebensraum.
Sehen kann man in einem Seitenteil des Gartens die Modelle: das wie eine Schnecke geformte Festspielhaus, die ganze Anlage mit Schule und Sportplatz. Aufstellfiguren von Ziege, Schaf und Esel erinnern an die Fauna der Savanne. Auf Videos wird der Baubeginn dokumentiert.
Die erste Theater-Produktion des neuen Festivals galt einer der
frühesten Opern überhaupt, Monteverdis „Orfeo“. Eine junge Truppe um den
Dirigenten Olof Boman und den Regisseur
Alexander Charim versucht die Geschichte von der Gattenliebe
über den Tod hinaus in die Erfahrungswelt von heute zu ziehen. Für den
ersten Teil, das kurze gemeinsame Hochzeits-Glück des Paars, das aber
schon von zahllosen Eifersüchteleien durchgiftet ist, sitzen die
Besucher in der mit alten Fresken ausgemalten Galerie an langen Tischen
auf Bierzeltbänken.
In der Mitte ist ein briefmarkengroßes Podium, wo die Figuren
Körperkontakte pflegen, sich anbrüllen oder mit Goldkonfetti beregnen
dürfen. Die Verfolgungsjagden werden publikumsnah auch über die Tische
hin ausgeweitet. Mit Mühe identifiziert man die beiden Protagonisten,
ansonsten bleiben die Figuren schemenhaft. Irgendwann verschwindet
Euridice plötzlich in den Park. Und Orfeo hat nur noch ihre Schuhe
übrig.
Für den zweiten Teil, den Abstieg in die Unterwelt, wechselt man in
die gegenüberliegende Orangerie, wo eine Guckkastenbühne aufgebaut ist.
In die Unterwelt führt ein als Nachkomme von Kurt Cobain verpuppter
Caronte, der Monologe über die innere Leere von Menschen heute hält und
in Orfeo sich verbeißt. Orfeo vermag zwar das Höllentor zu sprengen.
Über den aus dessen Bänken gebauten Weg in Schneckenform – siehe
Schlingensief – findet er aber nicht hinaus. Und Euridice kommt zu dem
Schluss, es ist aus; er will gar nicht sie, sondern lieber Charon.
Mehr als drei Stunden dauert die Aufführung, reichlich strapaziös durch die vielen Einlagen. Es fehlt der Produktion entschieden an Gefühl für Proportionen. Dabei wird erstaunlich präzis musiziert von dem Berliner Ensemble „Kaleidoskop“. Auch unter den Sängern findet man hervorragende Stimmen. Insbesondere der Orfeo von Carl Ghazarossian kann mit einem sehr schmiegsamen, hellen Timbre überzeugen, aber auch Isa Katharina Gericke als Euridice und Nils Cooper als Pluto.
In seinem Eröffnungsvortrag hatte Hirnforscher Wolf Singer über Spiel als Training der Hirn-Fähigkeiten meditiert. Für die Opern-Macher war dies sicher ein gutes Training, das Vergnügen für den Zuschauer eher begrenzt.
27.Juni 2009
Es endet, wie es begann. Figuren in Schwarz hängen lemurenhaft auf Stühlen oder liegen am Boden in einem Raum, der wie eine Verlängerung des Theater-Innenraums erscheint. Die Drehscheibe kreist, bedeckt ebenfalls mit wie Leblosen. Ein Unglück hat alle erstarren lassen. Orpheus beginnt anfangs eine Kreidezeichnung am Boden zu fixieren, wo das Unglück passierte. Aus den Sitzenden formt sich langsam der Trauerchor. Tänzer-Paare zeigen erste meist Hebe-Figuren.
In Stuttgart versucht man sich an der auf den Bühnen heute rar gewordenen französischen Fassung von Glucks Reformoper „Orphée et Euridice“. Der Komponist erarbeitete sie 1774 für Paris auf Anregung von Königin Marie-Antoinette, seiner einstigen Musikschülerin. Angereichert ist dieser „Orphée“ nach dem Muster der Tragédie lyrique mit großen Ballettszenen. In Stuttgart hat Haus-Choreograf Christian Spuck Inszenierung und Choreografie übernommen. Und das spartenübergreifende Projekt wird zu einem Triumph für das ganze Ensemble in dieser für die Oper nicht gerade glückhaften Saison.
Als Rückblende und innere Wanderung zu der verlorenen Geliebten Euridice zeigt Spuck diesen „Orphée“. Der bei dieser Suche hilfreiche Amor ist allerdings eine flittrig-gebieterische Halbwelt-Ikone, die statuenhaft von ihren tänzerischen Amoretten herbeigetragen wird. Als Begleiter in die Unterwelt gibt sie Orpheus einen ihrer Amoretten mit (Alexis Oliveira). Der Furien-Tanz, Kampf mit den Geistern, die durch den Raum schwirren, virtuos über den Boden gleiten und die Wände empor klettern, ist einer der Höhepunkte des Abends.
Spiegelverkehrt und ganz in Weiß in der Ausstattung von Christian Schmidt und Emma Ryott dann das Elysium. Gleich sechs bis acht Eurydiken – in langen weißen Kleidern und mit roten halblangen Haaren, die sie immer wieder zu Stricken winden – harren dort des Orpheus. Vielleicht hatte er ja doch nicht nur diese eine Frau im Sinn. Und zurück in der vertrauten Welt muss das formal wieder vereinte Paar auf weit voneinander getrennten Stühlen – Amor ist streng – dem Begrüßungs-Ballett beiwohnen mit dem tragischen Unfall am Ende.
Grandios hat Spuck die heikle Aufgabe bewältigt, diese für den heutigen Geschmack schwierige französische Fassung der Gluck-Oper auf die Bühne zu bringen. Homogen integriert er die Tänzer. Sie verdoppeln nicht einfach, sondern haben ihren eigenen Part. Nicht ganz so glücklich kann man sein mit der musikalischen Seite. Nicholas Kok am Pult dirigiert etwas pauschal in vor allem zügigen Tempi. Der Tenor Luciano Botelho als Orphée findet erst allmählich zu einem runden Ton. Auch die Euridice 1 von Alla Kravchuk klingt über weite Strecken eher angestrengt.
Überhaupt scheint die Klang-Mischung der originalen italienischen Fassung von 1762 mit einem Altus als Orpheus stimmiger. Gleichwohl zeigt der Abend, dass diese französische Fassung heute noch funktionieren kann, zumal es Spuck gelingt, auch den Chor in sein Bewegungs-Konzept zu integrieren. Das Publikum dankte allen Beteiligten und vor allem auch den exzellenten Tänzerinnen und Tänzern des Stuttgarter Balletts mit standing ovations.
Die Kraft dieses Abends resultiert von einem Theater, das aus der Musik schöpft und nicht von einem übergestülpten modischen Konzept sich erdrücken lässt. Hätte das Stuttgarter Haus mehr davon – es stünde besser da.
In der
Bildästhetik nicht ganz „up to date“ mögen sie einem schon
vorkommen, diese Opern-Aufzeichnungen und -Verfilmungen, die vor 30 bis
50 Jahren unter der Regie von Walter Felsenstein entstanden. Mit hohem
technischem und finanziellem Aufwand wurden sie jetzt digital neu
aufbereitet und dank eines namhaften Sponsors auf DVD mit prächtigem
Begleitmaterial publiziert. Einmal mehr wird einem dabei die epochale
Leistung Felsensteins fürs Musiktheater deutlich. Und Musiktheater
empfand er immer vor allem als Theater, erweitert um die Dimension
Musik. Dabei wollte Felsenstein Oper vor allem auch für das
sprichwörtliche „Lieschen Müller“ machen: verständlich, begründbar,
nachvollziehbar. „Partnerschaft mit dem Publikum“ war eine seiner
Maximen, nachzulesen in dem Essay, den er 1959 in Bayreuth hielt und der
abgedruckt ist in dem deutsch-englischen, reich bebilderten Begleitband.
Eine andere seiner Maximen: Werktreue. Indes kann man gerade an den
Opern-Verfilmungen und zumal dem einzigen wirklichen Opern-Film,
Beethovens „Fidelio“, sehen, wie Felsenstein durchaus sich auch
Freiheiten erlaubte gegenüber einer Werkstruktur.
Den Auftrag für „Fidelio“ erteilte noch die Sowjetische
Militäradministration im Nachkriegs-Wien. Mit Hanns Eisler verfasste
Felsenstein das Drehbuch. Gedreht wurde zum Teil in offener Landschaft.
Einige Arien wie die Gold-Arie des Rocco wurden gestrichen. Die
Ouvertüre nutzten die Autoren, um die Vorgeschichte, die Machtübernahme
des finsteren Gefängnischefs Pizarro, zu zeigen. Als Darsteller wurden
Schauspieler eingesetzt. Durch Überblendungen oder „stumme“ Arien werden
immer wieder auch innere Vorgänge in den Figuren erhellt. Weniger als
Hohelied der Gattenliebe denn als Apotheose der Freiheit verstand
Felsenstein den „Fidelio“. Schlusseinstellung ist eine mehr-minütige
Kamerafahrt in die Höhe über eine in die Freiheit tanzende Menge. Diese
Freiheitsapotheose verhinderte, dass der Film 1956 zu den Berliner
Filmfestspielen uraufgeführt wurde. In der Kalte-Kriegs-Hysterie meinte
man, einem Regisseur, der „zwei Diktaturen hintereinander“ diente,
derartiges nicht abnehmen zu dürfen.
Weniger gravierend Felsensteins Eingriffe bei der Verfilmung seiner
Inszenierung der Offenbach-Oper „Hoffmanns Erzählungen“ (1970). Mit
einer hinzugedichteten Strophe des Lieds von Klein Zack gestaltete
Felsenstein den Schluss so um, dass die von ihm als Essenz der Oper
gedachte Verherrlichung der Liebe deutlicher würde. Hoffmann verdammt
die Liebe ja zuerst als „Gift“, nun wird daraus ein versöhnliches
Lebenselixier. Wieder einen anderen Weg der Adaptation geht Felsenstein
bei der Offenbach-Operette „Ritter Blaubart“, die er als zeitlose Satire
auf Speichelleckerei und Kriechertum verstand. Es war seine erste
Inszenierung nach dem Mauerbau. Da man die für die Wirkung (und zumal
auch für die Darsteller) eigentlich notwendigen Zuschauer-Reaktionen im
Studio nicht nachstellen konnte und höheren Ortes gewiss auch nicht
wollte, gestaltete er Anfang und Schluss offen wie eine Probe. Zu der
Verfilmung der hochgelobten Aufführung kam es erst 1973.
In einer nachgebauten Studiokulisse angelegt ist Janáčeks
„Schlaues Füchslein“; dies Filmmaterial zu restaurieren war am
schwierigsten. Die 1966 in der Umbauphase der Komischen Oper entstandene
Produktion mit ihrem Ineinander von Mensch und Tier zeigt am schönsten
Felsensteins unvergleichliche Kunst der Sängerführung. Auch musikalisch
gehört diese Produktion zu den Höhepunkten. Václav Neumann, der fast
alle 218 Aufführungen dirigierte, stand auch bei der Studio-Produktion
am Pult. So hohes musikalisches Niveau erreichte sonst nur die
„Othello“-Verfilmung (Felsenstein wählt die Originalschreibweise des
Namens) unter Kurt Masur 1969. Unübertroffen ist die Dramatik des
Sturmchores, wie Felsenstein die Chor-Solisten wogen lässt in einer
minutiösen Choreografie. Hanns Nocker als Othello widerlegt überzeugend
das Vorurteil, Felsenstein habe keine guten Sänger gehabt. Und
Felsensteins Meinung, diese Verdi-Oper sei eigentlich „unbekannt“ weil
für Stimmprotzerei missbraucht, wird in dieser Fassung nur allzu
nachvollziehbar durchaus belegt.
Problematisch die beiden Mitschnitte von Mozart-Fernseh-Übertragungen,
die dem Konvolut beiliegen: der 1966 zur Wiedereröffnung der Komischen
Oper inszenierte „Don Giovanni“ und der zehn Jahre später, nach
Felsensteins Tod, aufgenommene „Figaro“. War Felsenstein mit seiner sehr
düsteren, gleichwohl in der Durchdringung des Stoffs maßstabsetzenden
„Giovanni“-Arbeit selber so unzufrieden, dass er sie nach nur 31
Aufführungen absetzte, leidet der „Figaro“, seine letzte Arbeit,
merklich unter dem, was man ihm gern ankreidete: das überdeutliche, bis
zur starren Pose getriebene Spiel. Eine von Felsensteins
Sängerdarstellerinnen, Anny Schlemm, brachte es jetzt bei der
Vorstellung der Edition auf den Begriff „Hassliebe“, in der sie
Felsenstein als ihrem „Theatervater“ verbunden war. In beigefügten
„Giovanni“-Probenmitschnitten kann man dies gespannte Verhältnis auch
gut ablesen. Andererseits zeigt der Blick in den mit durchnummerierten
Planquadraten belegten Fussboden des Probensaals, wie zentimetergenau
Felsenstein die Bühne choreografierte auf größte „Durchschaubarkeit“ und
Spannung zumal auch der Chorszenen.
Ist das nun alles Historie? Gewiss hat die Komische Oper von heute mit
den Prinzipien ihres Gründervaters Felsenstein nur wenig noch gemein.
„Werktreue“, „Partnerschaft mit dem Publikum“ hat dort jetzt einen
anderen Klang. Zentral wurde ein für Felsenstein eher sekundärer Aspekt:
eine möglichst eigene Sichtweise auf ein Stück zu entwickeln für ein
jüngeres Publikum von heute. Dass dabei die Genauigkeit leiden, die
Intention eines Werks ins Zynische kippen kann, nimmt man in Kauf. Für
Felsenstein war bei aller satirischen Schärfe etwa im „Blaubart“ das –
pathetisch gesagt – humanistische Ziel immer präsent: mit Theater wenn
schon nicht die Welt verändern, so doch beim Zuschauer ein Nachdenken
darüber zu fördern. Die Wahrhaftigkeit seines Ansatzes ist es, was an
Felsenstein nach wie vor fasziniert. Und er formte sich dafür
Ausnahme-Darsteller wie Werner Enders, Rudolf Asmus,
Hanns Nocker, Anny
Schlemm. Leider konnte er nicht auch Ausnahme-Dirigenten an sich binden.
Václav Neumann und Kurt Masur zeigen, wie wichtig ein szenisch
mitdenkender Dirigent ist.
01. Februar 2008
Sebastian Baumgarten scheint endlich angekommen. Nun inszeniert er Oper im Hauptquartier des Dekonstruktions-Theaters, an Frank Castorfs Berliner Volksbühne. „Tosca“ steht auf dem Programmzettel. Mit der Puccinis hat diese Floria freilich nur sehr entfernt zu tun. Eher mit Sardou, dem Stichwortgeber für Puccinis Oper. Das Orchester sitzt wie schon in seiner Händel-Inszenierung des „Orest“ an der Komischen Oper hinten auf der Bühne, darüber eine zweite Spielebene mit Leinwand, vorn links ein kleinerer Bildschirm für die allfälligen Videoeinblendungen und Übermalungen. Das Bild, an dem Cavaradossi gepinselt hat, ist die Videoprojektion einer toten Frau. Drei Männer in pittoresken Unterhosen und mit Bergmannsleuchten untersuchen die Tote zu Beginn. Von Puccinis Musik hört man hin und wieder kleine Fetzchen, wie als Background; es spielt denn auch das Babelsberger Filmorchester. Und „gesungen“ wird eher à la „Dreigroschenoper“. Immerhin die Sängerin der Tosca (Kathrin Angerer mit Schwangeren-Bäuchlein) macht das ganz putzig.
Dazwischen wird endlos palavert, geschrien, gerannt, sich umgezogen, mit Pistolen geballert und im Theaterblut gebadet. Der aus Versehen am Ende nicht nur zum Schein sondern „richtig“ und auch noch von seiner eigenen Freundin Tosca erschossene Cavaradossi steht extra noch mal auf und taucht den Mund in die Schüssel mit Theaterblut, um auch richtig „tot“ zu sein. Die Figuren hocken zu Tisch wie bei Leonardo da Vincis „Abendmahl“. Gelacht wird wenig. Komisch ist immerhin ein Video-Federballspiel zwischen Tosca und ihrem Lover. Mucksmäuschenstill wird es nur bei der Arie der Tosca, die sie zum Klavier piepst. Vielleicht hätten die Zuhörer ja doch lieber das nicht dekonstruierte Original? Was überhaupt will Baumgarten mit seiner Dreigroschen-„Tosca“? Sagen, dass das mit Sex & Crime plus Opern-Diva auch nur eine frühe Variante von Boulevard ist; dass er selber gern von der Oper zum Schauspiel wechseln würde, aber nicht so recht kann; dass man ein TV-naturiertes Publikum so für Oper interessieren könnte?
Die „leuchtenden Sterne“ jedenfalls kommentiert Baumgarten mit dem Glitzern einer Discokugel, und Tosca intoniert dazu als Doris-Day-Double eine Schnulze. Alles wohl einfach nur Spaß, sehr privater Spaß. Als Zuschauer nähme man ja gern Anteil.
Zum Glück gibt’s ja noch das Internet. Und man kann sich dort einige der Puzzlestücke zusammensuchen, die man ansonsten aus dem, was da auf der Bühne passiert, nicht ohne weiteres erschließen kann. Dabei klingt die Anordnung schon spannend. Schnipsel aus dem Stummfilmklassiker „Die Büchse der Pandora“ von Georg Wilhelm Pabst (1929) werden kombiniert mit Musikausschnitten von Alban Bergs Vertonung des Frank-Wedekind-Stoffs „Lulu“ (1935), und diese werden über einander kopiert mit nachgestellten Szenen aus dem Sex-und-Stöhn-Musical „Oh! Calcutta!“, an dem auch einige sehr splendide Namen wie Samuel Beckett oder John Lennon mit gearbeitet haben und das sich zu einer der längst-lebigen Bühnenshows am Broadway mauserte.
„Lulu – oder: Wozu braucht die Bourgeoisie die Verzweiflung“ nennen der Dirigent Christian von Borries und die Videokünstlerin Catherine Sullivan ihre „Operavision“. Auf der Bühne der Berliner Volksbühne sieht man dazu vor einer Riesen-Leinwand, etwas in den Boden eingelassen, ein Orchester, die Berliner Symphoniker oder was von ihnen übrig blieb. Von Borries, der eine gewisse Berliner Szene-Bekanntheit erlangt hat durch seine „Musikmissbrauch“ genannten „Remixe“ – das sind Versuche, aus Melodie-Schnipseln von klassischer Musik durch Schleifenbildung, Loopings, neue Stücke zu generieren, die Bekanntes auch durch elektronische Verfremdung in neuem Licht erscheinen zu lassen –, von Borries kreiert aus Bergs Musik einen verfremdeten Sountrack.
Der stützt sich – Borries nennt das in der Computersprache einen „Alias“ – auf jene Suite, mit der die Oper in der von Berg nicht vollendeten zweiaktigen Fassung endet und die den Punkt markiert nach Lulus Heirat mit dem Verleger Dr.Schön und seiner Ermordung, was sie zur Flucht mit Schöns Sohn Alwa über Paris nach London motiviert. Immer wieder bekommt man diesen Abschnitt in einigen Abwandlungen und auch elektronischen Abmischungen eingespielt. Gelegentlich rotiert das auf die Drehbühne gesetzte Orchester auch um ein paar Grad. Dazu sieht man neben den Filmausschnitten sehr realistisch dargestellte Sex-Szenen aus dem „Calcutta“-Musical; und Anspielungen auch auf das Privatleben der Film-Hauptdarstellerin der Lulu, Louise Brooks, die in ihrem kessen Bubikopf auch die lesbischen Szenen äußerst lebensnah verkörpert. Des Weiteren: links und rechts im Seitenportal Fotos einer Gliederpuppe in wechselnden Positionen.
Was das Ganze uns sagen will, erhellt aus wie ein running gag mit eingeschnittenen Szenen der Videomacherin Catherine Sullivan. Zu sehen ist da ein alternder Lebemann, gemeint ist der Theaterkritiker und „Calcutta“-Hauptautor Kenneth Tynan, und eine gealterte Lulu-Louise Brooks. Vergeblich versuchen die beiden, zu sexueller Erfüllung zu kommen. Seinen Höhepunkt erlangt das Werk damit, dass der Alias-Theaterkritiker Tynan seine Alt-Lulu auf den Schoß nimmt und sie als Alias-Jack-the-Ripper hinterrücks erdolcht, während die Musik fast unhörbar vertröpfelt. Dies also ist der Autoren verzweifelte Rätsel-Lösung: Sex sells – weil er im realen Leben nicht immer Befriedigung erlangt. Wir haben das auf weniger verschwurbelte Art irgendwie aber doch wohl schon mal zu hören bekommen.
Die vorliegende Versuchsanordnung verdanken wir übrigens dem Berliner Hauptstadt-Kulturfonds, dessen Aufgabe es eigentlich ist, ungewöhnliche Projekte zu ermöglichen, für die es sonst keinen Etat gibt. Ungewöhnlich ist dies Projekt in der Tat, aber ungewöhnlich verquer und dilettantisch. Und die amtierende Leitung des Hauptstadtkulturfonds lehnt auch jede Verantwortung dafür ab. Die liege bei der zuvor dafür Zuständigen, Adrienne Goehler, die als interimistische Grünen-Kultursenatorin vor sechs Jahren ja auch sonst noch einige Duftmarken im Berliner Kulturleben hinterlassen hat. Man sieht: Es geht eben mit solchen Hinterlassenschaften nicht so einfach wie im Film. Sie müssen erlitten werden.
Der Haifisch kommt hier wirklich fast unhörbar und unsichtbar auf
ganz leisen Sohlen. Wie schwebend, schwimmend im Unterwasserstrom der Städte
gleichsam. Nur mit Punktscheinwerfen beleuchtet defilieren die Figuren
hier zum berühmten Mackie-Messer-Song, gesungen in fast originalem
brechtischen Ton, über die Vorbühne. Auf dem Vorhang flimmern in
wechselnden Radien Ringe von Glühbirnen wie bei einem Varieté, das auf
dem Dach rotierende Logo des BE variierend.
Robert
Wilsons „Dreigroschenoper“ – sein erster größerer Brecht – liest
sich wie ein Comic: Als Fortsetzungsgeschichte in Bildern mit
Sprechblasen und Songs, ähnlich wie seine „Freischütz“-Adaptation „Black
Rider“. Vorgänge wie das Betreten des Ladens von Mr. Peachum durch einen
beiseite zu schiebenden Vorhang werden akustisch aufgelöst mit
angedeuteten Gesten und unterstützenden Geräuschen aus der Tonregie.
Peachums Kleiderlager wird suggeriert durch Batterien längs und quer auf
fahrbaren Rahmen montierter Leuchtstoffröhren.
Auch der
Hochzeits-Pferdestall und das Gefängnis für MacHeath in Old Bailey
werden imaginiert durch raffiniert angeordnete Neonleuchten. Dazu darf
Polly (Christina Drechsler) als Braut trippeln und piepsen wie Otto
Waalkes mit auch satzschließenden 7zwerge-Gluckslauten. Mutter Peachum (Traute
Hoess) zeichnet sich aus durch neckische Rülps- und Schluckauf-Laute aus
dem Bürzel-Kleid. Vater Peachum als „Chef der Bettlerplatte“, wie er
hier heißt, Jürgen Holtz, tippelt gebückt als knickriges Männlein mit
grell geschminktem Faltengesicht und Judenkippa. Polizeichef Brown (Axel
Werner) steppt im schwarzen Reiterwams mit Stiefeln und weißen
Mond-Gesicht unterm Zylinder.
Eine Sondergala
ist der Auftritt der Jenny, Angela Winkler, die mit
zittrigen Trillern ihre Songs ausschmückt. Mit dem elegant wie ein
blonder Willy Fritsch als Mackie Messer drapierten Stefan Kurt
harmoniert sie bestens. Als reitender Bote bekommt Walter Schmidinger in
ellenlanger roter Königsschleppe einen wackligen Auftritt – er spricht
auch aus dem gleichsam filmischen Off die episierenden Zwischentexte.
Zum finalen Happy End senkt sich ein roter Plüschvorhang über der
Galgen-Szene. Die kleine Band sitzt unter Leitung von Stefan Rager im
Graben, nicht auf der Bühne. Alles wird wie im Musical elektronisch
verstärkt.
Im Vergleich zu der vor Jahresfrist auf der anderen Seite der Spree im
restaurierten Admiralspalast von Klaus Maria Brandauer eingerichteten
Magenbitter-„Dreigroschenoper“ ist diese eine eher caipirinha-süffige
„Light“-Version, im doppelten Sinn, wenn auch durch die stark
zergliedernde Comic-Form und die unglückliche Pauseneinteilung etwas
länglich wirkend.
Kläglich für ein Haus wie das „Berliner Ensemble“ das Programmheft, das
lediglich den nicht ganz unbekannten Brecht-Hauptmann-Text, dazu
Biografien von Brecht, Weill und Wilson und einige Zeichnungen und Fotos
bereit hält. Das Publikum zeigte sich am Ende gleichwohl enthusiasmiert,
spendete insbesondere Wilson und zumal der Jenny von Angela Winkler
stürmischen Beifall.
„Wahre Liebe fürchtet nicht“, liest man in Deutsch auf dem
Ziervorhang des Londoner Royal Oper House zu Beginn. Jürgen Flimms
Inszenierung von Beethovens „Fidelio“ ist solide, realistisch und ohne
Mätzchen.
Die Bühne zeigt auf der einen Seite die rostigen Gitterstäbe von
Gefängniszellen. In drei Etagen sind die Gefangenen übereinander
gestapelt. Manchmal lassen sie die Arme durch die Gitter hängen. Auf der
anderen Seite der private Bereich von Gefängniswärter Rocco. Heftig
flirtet dessen Tochter Marzelline mit dem jungen Helfer Fidelio. Sie
träumt von einer baldigen Heirat. Die roten Rosen, die ihr ihr anderer
Verehrer Jaquino mitgebracht hat, widmet sie um zum Brautstrauß. Und der
Vater segnet das Paar schon mal mit Stola, Sekt und einem Foto fürs
Familienalbum.
Eine Idylle bleibt das nicht. Dafür sorgt schon der brutale
Gefängnis-Rocco gefügig. Dessen moralische Entrüstung, dass er morden
soll, wobei er gleichzeitig die Scheine einsteckt, übergeht Pizarro mit
Häme. Rocco ist Mitwisser. Sie haben noch eine gemeinsame Leiche im
Keller, die schnellstens beseitigt werden muss. Die von Fidelio alias
Leonore auf der Suche nach ihrem Mann Florestan verfügte Öffnung der
Gefängnisgitter gestaltet Flimm eher schlicht. Die Gefangenen in ihren
angeschmutzten weißen Dresses treten, wackeln aus ihren Zellen, werden
dann von den Aufsehern weiter getrieben.
Für das Gefängnis-Verlies, in dem der Politgefangene Florestan an einer
Hundekette schmachtet, hat sich Flimm von Robert Israel einen düsteren
Betonschacht bauen lassen, dessen Interieur, ein Haufen Koffer links,
ein Haufen Schuhe rechts, an KZ-Bunker erinnert. Etwas spannungslos ist
die Schlussbefreiung geraten. Auf einem Podest eingerüstet sieht man da
eine Reiterstatue, als gleichsam Brechtscher Reitender Bote mit dem
Minister als Überbringer der Freiheitsbotschaft. Die Frauen dürfen den
Männern ihre Fesseln durchschneiden, auch Leonore die ihres Florestan.
Alle knien nieder, inklusive Minister und Gefängniswärtern, dankbar dass
es zu Ende ist mit dem Terror. Übeltäter Pizarro wird statt der Statue
auf das Pferd gesetzt mit nacktem Oberkörper und gefesselt. Die
Machtverhältnisse haben sich verkehrt.
Musikalisch setzt Dirigent Antonio Pappano im Graben von Anfang an klare
Akzente. Die Tempi sind frisch, nicht immer kommen Bühne und Orchester
zusammen. Das Orchester des Royal Opera House überrascht auch mit
einigen Unsicherheiten, zumal im Blech.
Star des Abends ist Karita Mattila als Fidelio alias Leonore. Sicher ist
sie in ihrem Auftreten, sicher in den dramatischen Höhen, auch wenn
gegen Ende ihre Stimmkraft etwas ermattet. Überzeugend gibt sie die
mutige, emanzipierte Frau, ähnlich den Frauen, die etwa in Argentinien
einst nach ihren von der Junta verhafteten Männern fahndeten. Etwas eng
in seinem musikalischen Ausdruck ist Endrik Wottrich als Florestan. Eine
anmutige, dann enttäuschte Marzelline ist Ailish Tynan. Es gab nur
sparsam Szenenbeifall. Und auch am Ende war der Beifall zwar einhellig
aber kurz.
Die Atmosphäre bei dieser Pfingstsonntag-Nachmittags-Premiere in London
war konzentriert, wenn auch nüchtern. Die Sicherheits-Hysterie mit
Taschenkontrollen schon am Eingang des Opernhauses ist allgegenwärtig.
Wohltuend aber auch, dass einem die seit Abu Ghraib sonst allfälligen
Gefängnis-Assoziationen hier erspart bleiben. Die nach London
übernommene Produktion stammt freilich aus dem Jahre 2000 von der New
Yorker Metropolitan Opera. Die Bedrohungen allerdings sind bei Flimm
schon hier sensibel vorausgeahnt. Krassere Zeichen braucht es gar nicht.
Beethovens Musik bleibt in ihrer vom Glauben an das letztlich Gute
durchdrungenen Kraft unberührt.
Eine Mischung ist das aus Museumsführung und tänzerischem Umspielen
der Sage von Apoll, der die Königstochter Melia heiraten will, und ihrem
Bruder Hyazinth, der einem anderen Bewerber um Melias Hand in die Quere
kommt und dabei sein Leben lassen muss.
Empfangen wird der Besucher in der Kuppelhalle des soeben frisch wieder
eröffneten Bode-Museums – ehemals Kaiser-Friedrich-Museum, benannt nach
dem einzigen um Frieden und Verständigung bemühten deutschen Kaiser der
Wilhelminischen Ära.
Ein Schauspieler erzählt in einem Prolog etwas von der Bedeutung, die
viele Herrscher vom antiken Rom bis zum Brandenburger Großen Kurfürsten
in die Figur des Apoll als Licht- und Heilsbringer hinein geheimnist
haben , um sich damit zu schmücken. Der Tänzer und Choreograf Ismael Ivo
erscheint auf der Freitreppe der Kuppelhalle, bekleidet nur mit einem
schleppenartigen schwarzen Rock. Auf dem Rücken ist er tätowiert mit
einem goldenen Sonnensymbol. Er lässt die Muskeln spielen. Die Solisten
singen dazu einige frühe kirchliche a-capella-Gesänge Mozarts, wegen der
halligen Akustik aber kaum recht intoniert.
Dann geht es vorbei an dem Schlüterschen Apoll in die mit Darstellungen
des sterbenden und wieder auferstehenden Jesus geschmückte Basilika des
Museums. Ein langer Steg ist da aufgebaut wie ein Catwalk, belegt mit
Rollrasen. Am hinteren Ende steht ein Opferstein. Ein Tänzer liegt
darauf, der Darsteller des Hyazinth. Am vorderen Ende ist das kleine
Orchester platziert.
Das Prinzip der Produktion ist eine Doppelung der Figuren: Jedem Sänger
ist ein Tänzer zugeordnet. Die Sänger agieren mal mit auf dem Steg, mal
davor. Mozart schrieb das lateinische Interludium von „Apollo und
Hyazinth“ 1767 für die Abschlussfeier des Salzburger
Universitätsgymnasiums, 11-jährig. Die Tänzer müssen vor allem Ismael
Ivo, den Star der Produktion, umspielen. Etwas selbstgefällig produziert
der sich und seinen Körper, wenn er etwa den Diskuswurf darstellt, bei
dem Apoll Melias Bruder getötet haben soll.
In Wirklichkeit ist der Mörder ja der Rivale Zephyr. Aus dem Mund des
Hyazinth zieht der einen endlos langen roten Faden, ein schönes Zeichen
für das rinnende Blut. Von Apoll wird Zephyr darauf in den Windgott
gleichen Namens verwandelt. Und dem toten Bruder der Braut nähert sich
Apoll nun mit einem Strauß von Hyazinthen. Die Verwandlung in die
gleichnamige Blume wird angedeutet mit einem Tütü, in das Hyazinth
schlüpft. So endet die etwa anderthalbstündige Aufführung. Die Hochzeit
des Apoll mit Melia findet nur musikalisch im Schlussterzett statt.
Etwas improvisiert Leichtes, wie Hingeworfenes hat diese Produktion. Um
eine tiefer lotende szenische Interpretation dieses antiken
Fruchtbarkeits-Mythos bemüht sie sich kaum.
Da vertraut man offenbar
ganz dem Ort und den mythologischen Figuren: Apollo, der Sonnengott, der
die vorzugsweise am Wasser gedeihende Hyazinthe kreiert und den leise
fächelnden Südwind Zephyr auf Distanz hält. Und das gespielt in dem Raum
des Museums, in dem die christliche Umdeutung des Mythos in die
Auferstehungsgeschichte verbildlicht wird.
Bei Ivo bekommt diese Produktion aber auch etwas geschmäcklerisch
Kunstgewerbliches. Dabei hat sie mit etwa der Sängerin Katharina Göres
als Melia eine sehr leichte, sehr locker ihre Koloraturen intonierende
Sopranistin zu präsentieren. Und in Yui Kawaguchi findet sie ein
wunderbar leichtfüßiges tänzerisches Pendent. Christoph Hagel,
Spezialist von Aufführungen, die sich vor allem durch besondere „locations“
auszeichnen, lässt als Dirigent den Berliner Symphonikern viel
Gelegenheit zur eigenen Entfaltung. Allerdings ist die Überakustik des
Raums doch auch eine gewisse Rezeptions-Bremse.
Am Ende gab es viel Beifall vom an den Längsseiten des Raums zu beiden
Seiten des Stegs sitzenden Publikum. Schön wäre es allerdings, würde bei
einer weiteren vielleicht geplanten Produktion dort nicht nur auf die
Prominenz von Namen geachtet, sondern etwas mehr auch auf die
theatralisch-ästhetische Qualität.
War das als ironischer Kommentar gemeint vorweg? Windgott Aeolus als Karnevalsprinz kommt herein geweht mit dem ganzen Götterzirkus. Er soll endlich die Backen plustern, die Windmaschine auf Sturm stellen, damit die bösen Trojaner, vornweg Æneas, nicht ungestraft entkommen, fordert die stierhörnige Juno.
Einen glücklicheren Abgang nach seiner 15-jährigen Amtszeit hätte man dem Stuttgarter Intendanten Klaus Zehelein schon gewünscht. Die „Uraufführung“ einer Oper von königlich schwedischer Protektion aus dem späten 18.Jahrhundert in der Regiepranke von Peter Konwitschny war angesagt. „Æneas in Karthago“ von Joseph Martin Kraus, einem Komponisten des Sturm und Drang, der beim theaterbegeisterten Schwedenkönig Gustav III sein Glück machte. Mit einem neuen, mit allen Raffinessen der Zeit ausgestatteten Opernhaus wollte Gustav sich in die Geschichte einschreiben. Ein großes Sujet musste her. Der König entwarf selbst das Libretto. Doch es ist vor allem weitschweifig, umständlich, selbstgefällig. Die vollständige Oper – sie hätte um die fünf Stunden gedauert – wurde nie aufgeführt, nur eine Bearbeitung sieben Jahre nach dem Tod des Königs und auch des Komponisten. „Æneas in Karthago“ ist eher eine politische Proklamation. Dido, der Karthagerkönigin, werden da des Schweden-Königs eigene Absichten über Friedenswillen aber auch Kampfbereitschaft in den Mund gelegt. Die Musik des aus dem Odenwald stammenden Komponisten Kraus viel arbeitet viel mit Wiederholungen, wartet auf mit Gluckschem Tremolo-Pathos und wechselt unvermittelt in rokokohafte Lieblichkeit. Dabei sind die stimmlichen Ansprüche zumal an die Partie der Dido gewaltig.
Die Aufführung in Stuttgart ist nun auch szenisch ein Torso. Regisseur Konwitschny musste krankheitshalber nach gut zwei Wochen die Probenarbeit abgeben. Was seine Assistenten und Intendant Zehelein als Supervisor aus dem Material machten, ist achtbar aber lückenhaft. Pfiffige Einfälle gibt es durchaus. Etwa die vielfältige Arbeit mit Puppen oder das Schifflein-Versenken im Prolog, wenn aus einem Trog Segel herauslugen und hinterher die ganze Mannschaft dem „Meer“ entsteigt. Auch die Hochzeit der Lebensabschnitts-Partner Æneas und Dido, wenn ihnen die jeweiligen Volksgruppen Geschenk-Krimskrams in solchen Mengen abliefern, dass die Helfer mit dem Entsorgen gar nicht nachkommen. Oder auch das Schlussbild, wenn die Bühne zum Jubeln sich füllt mit Asterix- und Obelix-Kriegern, die zum Sturm auf Rom rüsten. Allerdings erinnert gerade das Schlussbild der Bühne von Hans-Joachim Schlieker doch auch an eine sehr viel ambitioniertere Inszenierung des gleichen Stoffs – Berlioz’ „Trojaner“ –, die Zehelein vor vielen Jahren in Frankfurt als Dramaturg mit verantwortete.
Den Hautgoût dieser königlichen Politpropaganda, von Gustav später noch getoppt in einem Theaterstück zum Krieg gegen Russland, kann diese Aufführung nicht tilgen. Dafür hätte es einer sehr viel filigraneren Ausarbeitung des Regie-Konzepts bedurft. Neuigkeitswert hatte die Methode politischer Selbstdarstellung übrigens damals auch nicht. Gustav kopierte seinen Onkel, den Preußenkönig Friedrich II. Und nicht nur mit dem Theaterneubau - wenn auch für eine neue Nationaloper. Auch Friedrich goss sein militärisches Credo um 1750 in ein Opernlibretto und ließ es von seinem Hofkapellmeister Graun vertonen: „Montezuma“. In Stuttgart sind auch die sängerischen Leistungen nicht gerade berauschend. Martina Serafin benötigt einige Zeit, um ihre Stimme für die ins Dramatische strebende Partie der Dido zu polieren. Dominik Wortig ist ein nicht gerade kampferpichter Æneas. Am Pult kämpft Lothar Zagrosek immer wieder mit der Koordination von Bühne und Orchester. Am Ende gab’s auch kräftige Buhs. Man wohnte einem musikhistorisch interessanten Abend bei; der „schwedische Mozart“ aber, als der Kraus angepriesen wurde, blieb nebulös. Eine sehr viel eindrucksvollere Bearbeitung des gleichen Stoffs zur gleichen Zeit (Holzbauers „Dido“) hätte der u.a. in Mannheim ausgebildete Komponist schon dort studieren können.
Es sollte
sein größtes Werk werden, sein opus summum. Nie hat er es
komponiert, und er wusste vermutlich warum. Die Legende freilich wird
fleißig weiter genährt, allein die politischen Querelen hätten ihn daran
gehindert. Warum wohl veröffentlichte er vorab das Libretto, wenn er
ahnte, er könnte damit anecken? Wollte er sich vergleichen mit Wagner,
dessen „unsichtbares Theater“ er ja in einer der Szenen, vielleicht der
besten, karikiert? Die autobiografischen Züge dieses „Johann Faustus“
springen ins Auge: Ausbruch aus der engen Studierstube, Aufbruch in die
neue Welt – freilich zu den Krokodilen im McCarthy-Amerika – und wieder
Rückkehr ins dumpfe Wittenberg. Immer vom Regen in die Traufe, wie es in
der „confessio“ am Schluss heißt, Bilanz eines gescheiterten
Intellektuellen-Lebens.
Mehr als ein halbes Jahrhundert nach der unseligen „Formalismus“-Debatte,
über vierzig Jahre nach dem Tod des Hanns Eisler hat der nun auch schon
62-jährige Fritz Schenker die Aufgabe übernommen, Eislers Faustus-Libretto
zu komponieren. Schenker war Schüler von Paul Dessau, dem einstigen
Rivalen Eislers. Der Eisler-Schüler Siegfried Matthus hatte vor Jahren
mal für eine Schauspielaufführung in der DDR einige der Liedtexte
komponiert. Schenker war so vorsichtig nicht. Er hätte es sein sollen.
Er hätte den damals viel gelobten und heftig umkämpften Text freundlich
durchforsten müssen, befreien von der oft allzu redseligen,
bildungshuberischen Geschwätzigkeit, mit der ein Eisler sich verteidigen
wollte gegen seine möglichen Widersacher. Schenker war zu zaghaft mit
dem Roststift. Dass Eisler eine durchkomponierte Oper hätte liefern
wollen wie Schenker es mit grossen Espressivo hier tut, ist
unwahrscheinlich. Den Atem dazu hätte er nie gehabt.
So ist in Kassel nun (als Auftragswerk) eine Drei-Stunden-Johann
Faustus-Oper zu besichtigen, die kaum verholen der Vergangenheit
hinterher eilt. Dabei gelingt Schenker durchaus immer wieder
Griffig-Pfiffiges, wenn er etwa in Auerbachs Keller die deutsche
Burschenschafter-Bierseligkeit mit einem verstimmten Orchester karikiert
oder in liedhaften Passagen für den Hanswurst, Jazzigem fürs
Cola-Amerika. Unglücklicherweise hat man in Kassel allerdings mit
Sabine Hartmannshenn eine Regisseurin beigesellt, die einfallslos und
umständlich auch noch Schenker hinterher rennt. Streckenweise mutet die
Aufführung in der Ausstattung von Annette Riedel mit ihrer
historisierenden Wittenberg-Silhouette an wie ein Kostümschinken, in dem
sich unbedingt Luther, Honecker, SA-Bonze, Arbeiter, Bauern, Bürger,
Kaiser und Magnifizenzen die Hand geben sollen. Als Rahmen dieses
Faust-Panoptikums dient eine Miniaturausgabe jenes 16-eckigen Panoramas
bei Frankenhausen, in dem der kürzlich verstorbene Werner Tübke den
Bauernkrieg verewigte.
Bewundern muss man die Ausdauer, die das vielköpfige Personal hier
investiert hat, voran der Dirigent Arne Willimczik. Johannes M. Kösters
als Faustus, erst in Ulbricht- dann in Einstein-Maske, kommt doch (in
der besuchten zweiten Vorstellung) an die
Grenzen seines Ausdrucks. Kai Günther ist ein Gründgens nachempfundener
Mefisto, Petra Schmidt eine liebliche Elsa. Zeitgenössische Oper ist das
aber alles nicht, eher ein Graben im Bergwerk der Geschichte.
Scharfer
Tobak - das örtliche Publikum und die örtliche Presse
fühlten sich geschockt. Gediegenes Repräsentationstheater à la Bolschoi
oder Mariinsky ist dies jedenfalls nicht. Allerdings hat es Alfred
Schnittkes 1992 in Amsterdam uraufgeführte Oper Leben mit einem Idioten
auch in sich. Entstanden nach der gleichnamigen Erzählung von Viktor Jerofejew,
ist sie eine Abrechnung mit dem Sowjetsystem nach dem Motto,
jeder holt sich den Idioten ins Haus, den er verdient. Und die Russen
lieben die Figur des weisen Narren, unter welcher Kappe er auch daher
kommt.
Mit Zeitungsseiten der „Prawda“, zu deutsch bekanntlich „Wahrheit“, ist
die Psychiatrie tapeziert, in der sich das Ehepaar einen Idioten
aussucht als häuslichen Mitesser. Und der, Wowa, eine Lenin-Kopie mit
starrer Pose und lediglich stotterndem „Äh-Äh“ auf den Lippen, frisst
sich auch erst mal genügsam durch den Kühlschrank. Allmählich aber bohrt
er sich wie eine Raupe immer tiefer in das häusliche Leben des Paars und
bringt es – wortwörtlich – zum Erliegen: Erst im Konkubinat mit der Frau
des Hauses dann mit dem Mann. Ausgiebig wird in dieser Aufführung
kopuliert, uriniert und in Exkrementen gewühlt. Jeder treibt’s hier mit
jedem und an jedem nur denkbaren Ort, während die geifernden, sich am
Boden wälzenden Irren begierig zuschauen. Am Ende schneidet Wowa der
Ehefrau den Kopf ab und stülpt ihr eine Mütze aus Zeitungspapier über
den Rumpf. Sinnigerweise besorgt er ihr das mit einer
Präzisions-Gartenschere made in GDR. Dann verzieht er sich in ein
stilles Stübchen mit Hitler, Stalin und Lenin als trauten Kumpanen einer
Ahnengalerie, in der auch Saddam, Arafat und Castro ihre Ehrenplätze
haben, während der „Ich“ genannte Ehemann und Dichter verdämmert in der
Psychiatrie. Im preußischen Stechschritt paradierende Soldaten umrahmen
das Bild.
Aus Anlass der deutsch-russischen Kulturtage ist das Staatliche
Akademische Theater Nowosibirsk mit dieser Produktion (Premiere dort im
letzten April) zu Gast in der Bundesrepublik. Ein Geheimtyp unter
Kennern ist das größte Theater der russischen Provinz im fernen Sibirien
seit langem. Mit dem polnischen Regisseur Henryk Baranowski hat man sich
allerdings nun einen Szeniker geholt, der geradezu lustvoll in Wunden
wühlt. Schnittkes polystilistische Musik zwischen Verulkung sowjetischer
Pseudo-Folklore, Tangos, Walzern, Märschen und Postavantgarde eröffnet
dafür ein breites Spektrum, auch wenn im zweiten Teil die Spannungskurve
etwas abfällt. Unter den Sängern ragt vor allem Alexander Lebedjew als
Darsteller des „Ich“ mit einer oft ins Falsett exaltierenden Stimmlage
heraus. Einiges abverlangt wird auch dem Dirigenten, Eugen Wolinsky. Als
Zeitungsverteiler kommt er zu Beginn durchs Parkett in den Theaterraum,
muss sich dann mit Bauchrolle vorwärts über die Brüstung in den
hochgefahrenen Orchestergraben an seinen Platz winden, darf dort auch
schon mal genüsslich roten Tomatensaft am Strohhalm saugen oder mit dem
Hauptdarsteller telefonieren.
Musiktheater-Produktionen wie diese, die Kritisches aufspießen ohne
Tabus, sind noch die Ausnahme in Russland, erfährt man. Erst etwas
reserviert nahm das Magdeburger Publikum, wo die Aufführung ihre
Deutschland-Premiere hatte, den Theaterabend auf, zollte aber am Ende
allen Beteiligten lebhaften Beifall. Berlin und München waren die
weiteren närrischen Stationen.