Haupt- und Staatsaktion um die Liebe. Paris liebt Helena, und er muss sie kriegen. Dass das nun Krieg bedeutet, weiß er nicht. Er verzehrt sich nur ganz in seiner Sehnsucht, als er von Troja nach Sparta segelt, um die Prinzessin zu erobern. Die Dame freilich ist verheiratet. Und sie pocht auf die Bündigkeit ihres Eherings. Helena lässt den Heißsporn – ganz frühbürgerlich treue Ehefrau – erst mal abblitzen. Statt ihren eigenen Körper führt sie ihm die kampfgestählten ihrer Krieger vor in gymnastischen Übungen. Liebe ist Krieg. Nicht nur auf dem Schlachtfeld. Er soll das gefälligst kapieren.
So Dagny Müller, die Regisseurin dieses Neuversuchs mit Glucks Oper Paris und Helena zu den „Festtagen der Alten Musik“ im Schlosstheater Rheinsberg.
Gespielt wird das mit durchweg jungen Kräften. Die xantippige Helena gibt Franziska Rötting, den schwärmerischen Paris Reto Raphael Rosin. Scott Curry leitet das Ad-hoc-Orchesterchen im Graben. Entstanden ist Paris und Helena 1770 für eine Festivität in Wien - die dritte und letzte der von dem Reformerteam Gluck/Calzabigi verfassten Opern, kaum gespielt heute und fast vergessen gegenüber der ersten Orfeo ed Euridice (1762). Trotz auch tief lotender Psychologisierung schleppt sie mit sich einige Schlacken der Konvention. Warum man diese gewählt hat? Es resultiert, weiß Produktionsleiterin und Dramaturgin Bettina Bröder, aus der Geschichte Rheinsbergs und seines Theatergründers, des Prinzen Heinrich. Der Bruder des großen Friedrich war ein großer Verehrer vor allem des großen Zeitgenossen Ritter Gluck.
Auch Pallas Athene greift ein in den Disput um Moral und Liebe. Sie warnt das Paar vor den Folgen seines Handelns. Ohne Erfolg. Die segeln schon zum anderen Ufer. Ihre Liebe ist interkontinental. Sie hat Vorfahrt.
„Oper“ liebe er „gar nicht“, was ihn interessiere, seien „literarisch-musikalische
Vorgänge“, schreibt Paul-Heinz Dittrich in seinen 12 Geboten fürs
Musiktheater. In der DDR gehörte der mittlerweile siebzigjährige zu den
führenden Avantgardisten. Kafkas Verwandlung, Maeterlincks Blinde
und Becketts spiel waren seine
bisherigen Sujets. Nach Texten von Heiner Müller
(Verkommenes Ufer Medea Material Landschaft mit Argonauten), dazu
Gedichten von Paul Celan und Edgar
Allan Poe entstand jetzt seine neueste Arbeit Zerbrochene Bilder.
Noch mit Müller hatte Dittrich die theatralische Grundstruktur besprochen.
Hochkomplex ist die Partitur für zwei Sängerinnen, Männerquartett,
Instrumentalisten und Live-Elektronik. Ein Auftrag der Rheinsberger
Musikakademie ermöglichte die Ausarbeitung und nach unendlichen
künstlerischen und technischen Schwierigkeiten auch die szenische
Uraufführung.
In seinem Medea-Verständnis stellt Dittrich sich ganz hinter den Dramatiker
Müller. Medea ist für ihn die „Barbarin“, die Fremde mit den eigenen
Wertvorstellungen. Und sie nimmt auch vor ihrem Tod nichts zurück. „Es gibt
keine Reue, keine Schuldzuweisungen.“ Sie ist für ihn als vielleicht erste
emanzipierte Frau „immer die Herrscherin, die Königin mit erhobenem Haupt“.
Musikalisch am eindrucksvollsten in Dittrichs gut einstündiges
Monodram, wenn Medea gleichsam in Zwiesprache
mit sich selbst fällt, wenn sie, in sich zusammensinkend, in die Tiefe ihres
Schattens tauchend, sich zu lösen versucht von diesem Mann Jason, für den
sie raubte, mordete, für den sie ihre Heimat verließ,
Kolchis, und mit dem sie in die Fremde ging, nach Korinth, und der
sie nun verstößt um einer anderen willen – aus machtpolitischem Kalkül.
Spielort ist eine in die Mitte des Raums des Schlosstheaters Rheinsberg
eingelassene Schräge. Das Publikum sitzt wie im englischen Parlament links
und rechts der Längsseiten. Die Regisseurin Iris Sputh, bisher vor
allem als Tänzerin und Choreografin hervorgetreten, begreift den „Fall
Medea“ als gleichsam „Verhandlung“. Das Geschehen ist reduziert auf minimale
Gesten, gefangen in diesem Trog. Wie aus der Grube der Geschichte kommt
Medea hier empor – ohne Ausweg. Ganz bewusst ist auch Dittrichs Musik über
weite Strecken auf Text-Unverständlichkeit hin komponiert,
sperrt sich eher gegen eine szenische Deutung. Barocke Elemente einer „sehr
hochgehobenen Polyphonie, wo die Stimmen übereinander ineinander kreuz und
quer laufen“, wechseln mit eher homogenen Blöcken zumal beim Männerquartett
mit Poes „Raven“-Poem. Oder der Text lallt in
elektronisch verfremdeten Lauten.
Die Hermetik der Aufführung hat aber auch einen
wesentlichen Grund in der Bühne von Jessica Westhoven.
Wie eine zwar für die Akteure, nicht aber auch fürs Publikum begehbare
Klanginstallation ist die. Den Betrachter schließt sie eher aus, als dass
sie ihn einlädt zum teilnehmenden Nachdenken. Aber vielleicht hat ja auch
der Müllersche Text von 1983 inzwischen Jahresringe angesetzt. Das Ereignis
dieser Uraufführung jedenfalls ist die höchst begabte junge Amerikanerin,
demnächst das Mädchen in der geplanten Stuttgarter Neuproduktion von
Lachenmanns Schwefelhölzchen Elizabeth
Keusch. Mit stupender Virtuosität singt sie die Medea, gibt dieser Figur
im feuerroten Kleid mit flammartig fliehenden strohblonden Haaren Gestalt,
die am Ende stolz-erhaben stirbt, eingeschnürt wie ein Paket in die Jacken
der sie umflirrenden Männer am Marterpfahl.
Dass die noch in den Anfängen steckende Rheinsberger Musikakademie diese sehr
aufwendige Produktion überhaupt ermöglichte, darf man als eine Tat feiern.
Aber auch ohne szenische Aufbereitung als gleichsam Hörspiel hätte das Stück
dank des Einsatzes der Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung
Freiburg seine Meriten. Souverän die Instrumentalisten des
Kammerensembles Neue Musik Berlin unter der Leitung von Jonathan
Stockhammer mit der vorzüglichen Soloflötistin Carin
Levine als Medeas Schatten.
In was für ein seltsames Mädcheenpensionat sie da wohl geraten sind, der Ritter Robert und sein Sancho La Hire? Ein ganzes Rudel Mädchen, die Der Mond ist aufgegangen summen und an ihren Wasserfläschchen nuckeln. Und wenn man sie was fragen will, verdrücken sie sich peux à peux! Nur eine bleibt zurück, flirtet mit Robert. Ihren Namen verrät sie nicht. Und als man ein bisschen Kontakt bekommt - puh, ist da eine strahlenflammende Megäre, die was orgelt über die Gefahren der Liebe und so. Und dann schickt sie ihre Mädchen los, dass die wie Jagdhunde nach dem Eindringling beißen, ihn fangen. Und sie macht ihm den Prozess, klagt ihn an des Verbrechens der Liebe. Und die Urgèle, so heißt die müpfige Fee, die mal kurz genippt hat am Leben, wird zur alten Jungfer verhutzelt mit Buckel, Falten, grauen Haaren - aber schlussendlich gibt’s das happy end. Komponiert hatte das Werk im Auftrag des Rheinsberger Prinzen Heinrich der Tonschöpfer der sogenannten Berliner Liederschule, Johann Abraham Peter Schulz. 1782 wurde diese Opéra Comique nach einem Libretto Favarts, die in ihren Schrägheiten wie der vorweggenommene Offenbach anmutet, in Rheinsberg uraufgeführt. Musikalisch hat die Partitur durchaus ihre Meriten, zumal wenn sie im Fundus der alten Oper mit Koloratur-Rache-Arien wie für die Königin des Feenreichs gründelt oder wenn sie im den Fall der Fee Urgèle aufrollenden Prozess ein Duettchen einschiebt, in dem zwei nebenbeklagte Feen das Naturhafte der Liebe in vaudeville-artigen Liedern zu schildern versuchen. Etwas zu zaghaft freilich ging Jung-Regisseur Matthias Schönfeldt um mit dem Stoff. Beachtlich das musikalische Niveau der Aufführung mit dem Ensemble "Resonanz" unter Roland Kluttig, den Chören mit aus Schülerinnen der Region als junge Feen agierendem Chor, mit Heike Parstein als koloraturensicherer Königin und Jeanne Pascale Schulze als aus dem Diktat des Liebesverbots sich befreiender Urgèle.
Nach der "Kammeroper Schloss Rheinsberg" zur Jahreswende mit der Uraufführung Kronprinz Friedrich von Siegfried Matthus hat nun auch die konkurrierende Musikakademie vom wieder hergestellten Schlosstheater in Rheinsberg Besitz genommen. Neben der Ausgrabung von Schulz' Fée Urgèle gab es da als Uraufführung L'homme machine - Der Maschinenmensch, eine multimediale szenische Aktion von Georg Katzer nach Ideen des Julien Offray de La Mettrie. Die Figur dieses Arztes und Philosophen faszinierte Katzer seit Jahren. La Mettrie leugnete das Vorhandensein einer Seele. Beim Sezieren hatte er die Seele gesucht und, als er sie nicht fand, den Menschen zur Maschine erklärt. Einige seiner Thesen konnte La Mettrie 1748 dem Preußen-König Friedrich in Sanssouci vortragen. Aber der duldete ihn nur zeitweise als Hofnarr, verbrannte eigenhändig eine seiner Schriften. Sein Stück hat Katzer in fünf Teilen gegliedert. Als roter Faden schlängelt sich mit seinen Soli der fabelhaft kauzige Matthias Bauer am Kontrabass als La-Mettrie-alter-ego durchs Stück. Ein Tänzer in einer weißen Kabine, überstrahlt von bunten Gitter-Mustern, übersetzt die menschliche Mechanik in mit elektronischen Klängen untermalte Bewegungsformen. Zwei Schlagzeuger fühlen einem Opfer beim Pulsmessen das Fell. Eine "singende Maschine" duettiert mit sich eine Hommage auf die Maschinenklänge des 18.Jahrhunderts. Mit Margarete Huber als Solistin ist das der musikalisch vielleicht schönste Teil dieses von Alexander Stillmark dezent eingerichteten Abends.
Weitere Uraufführung: Lilith die Geschichte vom ersten weiblichen Wesen. Sie konnte sich nicht anpassen, wurde aus dem "Paradies" vertrieben, ersetzt durch eine passförmigere Version: Eva. Der Komponist Helmut Zapf, einst Schüler Katzers, hat in seinem ersten Bühnenwerk die alte Legende vertont als eine Art Szenisches Oratorium nach einem Text von Kerstin Hensel. Gezeigt werden soll ein archetypischer Prozess der Wandlung, wo zwei von ihrer Struktur gleiche Wesen den gleichen Platz beanspruchen, aber nur einer dort überleben kann - oder weichen muss von dem Ort, den die Bibel "Paradies" nennt. Unkenntliche schwarze Wesen sieht man zu Beginn quer über die Bühne kriechen; sie üben den aufrechten Gang. Derweil aus der Bühnentiefe ein Menschenpaar eng aneinander gewickelt herauskullert, zuerst wie Siamesische Zwillinge aneinander gekettet, dann sich trennend, den eigenen Körper, das eigene Ich entdeckend. Die szenische Einrichtung durch Aniara Amos verschiebt - etwas klischeehaft und selbstverliebt - das Stück in Richtung unterschiedlicher Frauen-Rollen-Muster. Die gegenüber der anarchischen Lilith angepasstere Eva wird hier exemplifiziert als knetbarer Schaumgummi-Quader, auf dem der alte Adam sich einen abreitet. Als Tochter des Bühnenbildners und Regisseurs Achim Freyer trat Amos schon gelegentlich als Kostümassistentin hervor. In ihrem Bewegungs-Vokabular buchstabiert sie eifrig die von den Freyerschen Bewegungschören bekannten Muster. Das Interesse an einem so verengten Schöpfungs-Akt er-schöpft sich schnell. Zu viel zu schnell will die noch sehr junge Regisseurin und beherrscht zu wenig; mehr Mut zur Arbeitsteilung, geduldiges Picken an den Eierschalen wäre ihr zu wünschen. Professionell wirkt die Aufführung nur musikalisch mit James Avery am Pult und dem "Ensemble SurPlus" im Graben.
Wiederentdeckungen und Uraufführungen will die Rheinsberger Musikakademie in ihrem Theaterprogramm präsentieren, dabei junge Talente fördern. Das Bild der Frühjahrs-Eröffnungs-Saison 2000 ist noch sehr durchwachsen. Künftig wird man gewiss etwas kritischer auswählen müssen, zumal die finanziellen Mittel ja begrenzt sind, was schon zu ersten Kürzungen zwang.