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Sechste Stunde
Jahnn-Projekt
Ring-Bonn
Biografie

Flammzeichen gegen die Gewalt

Johann Kresniks Opern-Uraufführung „Die sechste Stunde“ in Gera

21.November 2003

Besuch im GULag oder im KZ – oder in Guantánamo? Eine Frau in schwarzem transparent-schulterfreiem Kleid mit schwarz verhängtem Gesicht stürzt ins Parkett, begleitet von ihrem Alter Ego, einer Tänzerin. Sie stürmen durch die Reihen, klettern über die Besucher. Auf der Rangempore erscheint eine Figur in Weiß mit ordensgeschmückter Lametta-Brust, der Kommandant. Er gibt seine Anweisungen – eine Sängerin. Die grauen Tore der Strafkolonie öffnen sich. Der Offizier, ebenfalls eine Sängerin, stellt sich vor auf seinem abgewetzten Hinrichtungsblock als Richter und Schlächter in einem. Eine Pennäler-Gruppe mit bunten Blumensträußen umlagert den Richtplatz, aus dem später der Gefangene seinen Kopf stecken wird. Die Gaffer nehmen erwartungsvoll Platz in der ersten Reihe.
Dass ein Opernhaus in den neuen Ländern eine Uraufführung in Auftrag gibt, ist nichts Alltägliches. In Gera, wo man letztes Jahr das 100jährige Jubiläum des Theaters feiern konnte, inzwischen aber der finanzielle Haussegen so schief hängt, dass der Intendant René Serge Mund vorzeitig aus dem Amt scheidet, wollte man sich das leisten und betraute den holländischen Dirigenten und Komponisten Johan Maria Rotman mit der Komposition. Als Vorlage seiner Kammeroper Die sechste Stunde wählte der sich Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie. Und Regisseur Johann Kresnik macht daraus ein weit schweifendes Assoziationstheater. Es ist weniger grell, als man es von ihm gewohnt ist, dennoch pointiert genug, wenn auch in der zweiten Hälfte mit leichten Durchhängern.
Der Reisende, der hier eingeladen ist, um einer Hinrichtung beizuwohnen, kommt als rasender Reporter. Mit Video-Kamera verfolgt er das Geschehen auf der Bühne. Die Bilder werden live auf die geöffneten Lager-Tore am Bühnenportal projiziert. Dazu andere, vorproduzierte Bilder, wie etwa der Besuch der Fremden und ihrer Begleiterin in einem Uran-Tagebau – Anspielung auf einen sehr konkreten Ort in der Nähe Geras. Offizier, Kommandant und Fremde kommen sich auch körperlich einander näher. Das Terzett der drei Frauen ergibt eine schrille Mischung, wie sie vom Komponisten beabsichtigt ist als Flammzeichen gegen die Gewalt, derweil die Tänzerin in heftigen Zuckungen immer wieder sich in den strahlenden Uranboden wühlt. Ein Reigen von BDM-Mädels mit blonden Zopfperücken fordert gleichwohl stoisch und frohgemut die Vorführung von Opfern. Und sie bekommen was geboten.
Rotmans Musik ist eine sehr brauchbare Theatermusik, vielgestaltig, ohne Scheuklappen, streng in hell und dunkel schattiert, wenn auch nicht gerade „avantgardistisch“. Dazu freilich hätte er auch kaum Johann Kresnik gewinnen können für die szenische Umsetzung. Kresnik will Theater, das etwas mitteilt, das sich einbringt. Der Lagerzaun wird hier am Ende krachend nieder gerissen, der Offizier opfert sich. Wie ein Schinken aufgehängt in einem Leichensack, wird er verbrannt. Der Gefangene schlüpft in die Uniform des Kommandanten. Als Benjaminscher Engel, der Unheil gebiert, zieht der/die am Ende mit schwangerem Bauch über die Bühne. Die Fremde, die sich die Maske vom Gesicht gerissen hat, entzündet den Kinderwagen und die Schleppe der Unheil-Schwangeren wie einen Kometen-Schweif.
Mit großem Engagement ist unter der musikalischen Leitung von Gabriel Feltz das ganze Ensemble bei der Sache. Für die Partien von Offizier und Kommandant konnte man mit Monique Krüs und Christiane Mikoleit ausgesprochene Spezialistinnen gewinnen. Aber auch die Fremde ist mit Gerlinde Illich, die auch tänzerische Aufgaben zu bewältigen hat, glänzend aus dem Haus besetzt, begleitet von Daniela Greverath als Alter Ego. Das etwa 75-minütige Stück, später auch transferiert in die Dependence Altenburg, ist ein mutiges Unterfangen. Die Premiere wurde geradezu enthusiastisch vom Publikum aufgenommen im voll besetzten Geraer Haus.


Wir erledigen die Rätsel

Johann Kresniks Dresdner Hans-Henny-Jahnn-Projekt

13.April 2002

 Eine Frau hackt sich ihre Leibesfrucht aus dem Uterus und gibt die Nabelschnur ihrem Partner zu verspeisen. Eine andere treibt's auf dem Euter einer rücklings liegenden BSE-Kuh. Alma bekennt ihre Liebe zu dem von den Glatzen gejagten Farbigen James, den sie schon unter einen Holzbalken wie ans Kreuz nageln, indem sie ihm einen Mundvoll Sekt aufs entblößte Glied bläst. Starker Tobak. Starke Bilder? Johann Kresnik nennt so was Politisches Theater. Und er fühlt sich als dessen letzter Mohikaner. In Lateinamerika hat er zuletzt viel inszeniert. Die haben dort "überhaupt keine Hemmungen", erzählt er im Interview. Und mit einer Produktion in  Mexiko habe man es sogar auf die Titelseite einer Zeitung geschafft.
In Dresden am Staatsschauspiel waren sie ihm schon lange hinterher. Der vorige Intendant Dieter Görne und auch der neue Holk Freytag. Er hat’s nun geschafft. Kresnik ist nicht mehr gebunden an der Berliner Volksbühne. Mit Picasso hat er sich dort im Januar verabschiedet. Nun hat er sich Hans Henny Jahnn zugewandt - auch so eine Figur, wie Kresnik sie liebt, ungebärdig, unangepasst, quer. Ein frühes Passionsstück über den Leidensweg eines jungen Mannes, Straßenecke (1931), und ein spätes Antiatomstück, Die Trümmer des Gewissens (1959), haben Kresnik und sein Dramaturg Christoph Klimke zu einem Hans-Henny-Jahnn-Projekt gekoppelt. Das erstere schrieb Jahnn nach dem Tod  seines Intim-Freundes Harms. Über das letztere urteilte ein Hans Mayer, es sei "bis zur Absurdität" misslungen.
Kresnik ficht das nicht an. Er montiert in den Komplex noch Motive aus dem realen Nachwende-Leben, als ein junger Mocambiquaner aus einer Dresdner Straßenbahn hinausgeworfen wurde, und mixt alles zu einem bluttriefenden, strahlenden Cocktail aus Fremdenhass und Zukunftsangst. Traurige Protagonistin des Trümmer-Teils ist eine Indio-Frau, die letzte ihres Stammes, Tiripa. Als Opfer der modernen Wissenschaft humpelt die Genmanipulierte mit strohummanteltem Kopf und wundübersäten Beinen (Kostüme: Franziska Just) durch die Bühnenlandschaft. Die wird imaginiert gleich zu Beginn als ein kadaververhängtes Schlachthaus. Zu einem Stillleben aus Schweinen, Ochsen, Eseln, Geiern am Haken säuselt der Chor vom Band das schmalzige Heimat-Lied aus seligen FDJ-Zeiten. Dann wandelt sich die Bühne (Bernhard Hammer) in einen Container-Abladeplatz, umgrenzt von einem Drahtzaun, mit hoch gestapelten Behältnissen, die mal Straßenbahnzug, mal Müllentsorgung, mal Leinwand für Live-Reality-TV sind, und aus denen später tote Schwarzbunte mit aufgeblasenen Bäuchen gekippt werden. Deren von Innereien ausgekratzte Karkasse bietet aber auch schon mal schützendes Versteck für die von der Meute Gejagten.
Die Darsteller, bis auf die Tänzerin Simona Furlani aus Kresniks Team (ein bekanntes Gesicht wollte der Choreograf wenigstens um sich haben), sind Mitglieder des Dresdners Staatsschauspiels, voran Falilou Seck als Farbiger James und Tessa Mittelstaedt als seine Ratten im Bauch nährende Freundin Alma; dazu Schauspielstudenten und eine vielköpfige Komparserie. Wacker kämpfen die sich durch die Wolken von Mehl und Staub, die Haufen von Müll und die Wannen und Eimer mit Wasser und Theaterblut. Viel müssen sie rennen, akrobatisch an Containern rauf und runter klettern, in Seilen sich schwingen, rhythmisch im Takt Telefonhörer schwenken oder mit paarig zu Lichterkränzen gebündelten weißen Ratten jonglieren, die eine Dame in Schwarz mit breitkrempigem Hut als personifizierter Tod spazieren führt.
So manche Heroen der Zeit- und Geistesgeschichte von Meinhof über Nietzsche bis zu Jünger, Goya und Huxley hat Kresnik bisher porträtiert. Der Jahnn-Abend zwischen Choreografischem Theater und Schauspiel hat wie immer auch viel von Kolportage. Die Texte liefern immerhin doch einiges an Substanz - mit déjà-vu-Effekt. Am Ende breitet sich Erschöpfung aus. "Wir erledigen die Rätsel" ist weise eine der Szenen übertitelt. Eingeläutet werden die zwei pausenlosen Stunden durch eine wohlig-eindringliche Lesung per Lautsprecher von Pasolinis Il mondo del lavoro (Die Arbeitswelt). Ansonsten werden die Ohren immer wieder zugeschüttet mit greller Rockmusik (Livio Tragtenberg), die Augen mit knalligen Bildern. Nur einen winzigen Moment gegen Ende darf man auch mal innehalten. Der Beifall zum Schluss kommt zögerlich. Einige Besucher sind vorzeitig abgewandert. Für den Choreografen gibt’s leise Buhs. War man erschüttert von Kresniks Amoklauf durch offene Türen? Eher mit Amüsement hat man einer Attraktion des Gutmensch-Business beigewohnt.


Tanztheater Bonn: Zum Abschied lässt Kresnik es richtig krachen

Einer wie er geht nicht einfach so. Der „Ring“ total vertanzt als Gedärm-Gemetzel

Von Bettina Trouwborst, in WZ 13.02.2008

Siegfrieds Ziehvater Mime kriecht aus dem Untergrund. Er legt seine Militärjacke ab, um sich am Bühnenrand zu übergeben. Der „Ring des Nibelungen“ liefert kein Motiv für diese Eingangsszene und sieht aus wie ein Kommentar Johann Kresniks zur tanzpolitischen Entwicklung in Bonn. „Ring II – Siegfried/Götterdämmerung“ ist sein letzter Streich am Rhein, nachdem der Stadtrat den Vertrag nicht verlängert und gleich die ganze Sparte abgeschafft hat. Für die kommende Spielzeit hat die Oper Bonn sich mit Gastspielen versorgt, die Idee eines Köln-Bonner Ensembles schwebt konturenlos im Raum.
Ein Johann Kresnik geht nicht einfach so. Zum Abschied lässt er es richtig krachen. „Ring II“ inszeniert er als Spektakel der Zerstörungswut, als Ekel-Schocker. Ein echter Kresnik halt, über den man schmunzeln könnte. Wäre da nicht der Unmut über die so offensichtliche Lieblosigkeit, mit der der 68-Jährige ans Werk ging. War „Ring I“ im Dezember 2006 noch inspiriert von der Idee, Richard Wagners Tetralogie mit dessen Biografie zu verbinden, bleibt Kresnik im zweiten Teil in hohler Selbstgefälligkeit stecken. Zwei Pianisten hämmern dazu atmosphärische Klänge (Gernot Schedlberger). Der drastische Formulierer suhlt sich einfallslos in seiner Lust am Unästhetischen.
Das mythische Weltgedicht benutzt er nur, um seine antikapitalistische Weltanschauung in zahllosen Selbstzitaten herauszuposaunen. Richard Wagner ist kaum mehr als Statist. Der ideologische Missbrauch seines Werkes durch die Nazis liefert den willkommenen Anlass, einmal mehr Karikaturen von Nazi-Einheiten aufmarschieren zu lassen. Siegfried und Brünnhilde, todgeweiht, kommten als Gruftis mit weiß geschminktem Antlitz daher. Der Held in Leder mit treuem Blick, schuldig doch allein durch Unwissenheit, dient Kresnik buchstäblich als Projektionsfläche: Diktatorische Herrscher, islamistische Selbstmordattentäter oder schießwütige Amokläufer in Schulen – alle bannt er auf Siegfrieds Körper. Das Böse steckt in ihnen allen, da muss man wohl nicht weiter differenzieren.
Der Ring-Zyklus – ein Gemetzel. Der Riese Fafner wird bestialisch ermordet und ausgeweidet, seine Gedärme fliegen durch die Luft. Hagen, ein Schwarzer, beißt Siegfried zu Tode, dass das Blut sprudelt. Aus dem Ring, ein goldner Lkw-Reifen, werfen fanatische Wagnerianer mit Schlamm, dass es bis ins Publikum spritzt. Eine Szene vermag dem inszenatorischen Getöse für einen Moment Tiefe zu verleihen. Eine alte Frau in Trauerkleidung bewegt sich in deutschem Ausdruckstanz (Anspielung an Kurt Jooss’ „Der Grüne Tisch“). Lautstark geht die Welt unter, samt Menschen und Göttern. Brünnhildes riesiges Bett (imposante Ausstattung: Gottfried Helnwein) kracht zusammen, ein goldener US-Schlitten knallt auf Schrottautos. Aus einem Kühlschrank, der am Bühnenhimmel baumelt, fallen mit ohrenbetäubendem Lärm Cola-Flaschen in den Orchestergraben.
Das Publikum reagierte teilweise amüsiert. Kresnik mag es gleichgültig sein. Er sei bis 2012 ausgebucht. Sein Ensemble löst sich nach 40 Jahren auf.


Offizielle Biografie
Kresnik verstarb am 27.07.2019 in Klagenfurt

Johann Kresnik wurde 1939 als Sohn eines Bergbauern in St. Margarethen (Kärnten/Österreich) geboren. Nach seinem Schulabschluss arbeitete er parallel zu einer Werkzeugmacherlehre als Statist an den Vereinigten Bühnen in Graz, wo er auch seine Tanzausbildung begann. Einen ersten Vertrag als Gruppentänzer erhielt er 1959 bei Jean Deroc in Graz. 1960 wechselte er mit ihm an das Theater Bremen. 1961 ging er an die Bühnen der Stadt Köln (Ballettdirektion Aurel von Milloss), wo er ab 1964 als Solotänzer engagiert wurde. In den folgenden vier Jahren arbeitete er u.a. mit John Cranko und Agnes de Mille sowie als Gasttänzer bei George Balanchine in New York.
1967 stellte Kresnik sich erstmals mit dem abstrakten Ballett O SELA PEI am Ballettstudio der Kölner Bühnen als Choreograph vor. Die Studentenunruhen von 1968 und die Begegnung mit Ernst Bloch führten ihn jedoch alsbald vom abstrakten zum handlungsbestimmten Ballett mit deutlich politisch-sozialkritischem Impetus. So schuf er 1968 mit PARADIES?, einem Tanzstück über das Attentat auf Rudi Dutschke, die erste deutsche politische Choreographie seit dem Jahre 1932 ( Kurt Jooss DER GRÜNE TISCH). Im selben Jahr engagierte Kurt Hübner den knapp dreißigjährigen Kresnik als Ballettdirektor an das Bremer Theater, wo er in den folgenden Jahren seinen eigenen radikalen choreographischen Stil entwickelte und manifestierte, indem er ihm 1973 den Namen „Choreographisches Theater“ gab. Seine kritischen, politisch motivierten Tanzstücke wie SUSI CREMECHEESE, KRIEGSANLEITUNG FÜR JEDERMANN, FRÜHLINGS-WURD, PIGasUS, SCHWANENSEE AG, TRAKTATE, DIE NIBELUNGEN, ROMEO UND JULIA, BILDER DES RUHMS, JESUS GMBH und MAGNET erregten schnell Aufsehen.
1979 ging Kresnik als Choreograph, Regisseur und Leiter des Tanztheaters ans Theater der Stadt Heidelberg und machte das dortige Ballett mit provokanten Produktionen wie z.B. FAMILIENDIALOG, MARS oder SYLVIA PLATH zu einer der führenden deutschen Tanztheatergruppen. Seit den Inszenierungen von ARTURO UI von Brecht (1981) und Heiner Müllers GERMANIA TOD IN BERLIN (1988) hat sich Johann Kresnik, der in seinen eigenen Produktionen eng mit Librettisten, Komponisten und Bildenden Künstlern zusammenarbeitet, immer wieder auch als Schauspielregisseur und später auch als Opernregisseur profiliert. 1989 verabschiedete sich Kresnik von Heidelberg mit ÖDIPUS - nach MACBETH dem Mittelteil einer Trilogie über die Macht und ihre Folgen, die er mit dem österreichischen Künstler Gottfried Helnwein erarbeitete – und kehrte wieder zurück nach Bremen als Leiter des Tanztheaters. Hier entstand 1990 sein Choreographisches Theater ULRIKE MEINHOF und ein Jahr später mit der Umsetzung von Shakespeares KÖNIG LEAR der dritte Teil der oben erwähnten Trilogie. Im Februar 1992 fand nach jahrelangen Recherchen über die mexikanische Malerin FRIDA KAHLO in Bremen die Uraufführung des gleichnamigen choreographischen Theaters statt. In WENDEWUT beschreibt Kresnik 1993 in Anlehnung an die Erzählung von Günter Gaus die Geschichte einer DDR-Mitläuferin, die im Deutschland der Wendezeit in ihrem Wunsch nach Anpassung an die bundesrepublikanische Gesellschaft scheitert. Es folgten Inszenierungen u.a. in Sao Paulo (ZERO2), Basel (MARS) und Stuttgart (FRANCIS BACON), in Zusammenarbeit mit dem Tänzer und Choreographen Ismael Ivo).
Mit einer stürmisch umjubelten Aufführung von ULRIKE MEINHOF feierte Kresniks „Choreographisches Theater“ im Oktober 1993 seinen Einstand in Berlin, wo Kresnik noch im selben Jahr zusammen mit Castorfs Schauspielern die politische Revue ROSA LUXEMBURG zur Uraufführung brachte. Im April 1994 verabschiedete sich Kresnik mit NIETZSCHE, dem Auftakt seiner DEUTSCHEN TRILOGIE, die sich mit philosophisch-künstlerischen Positionen im Verhältnis zum Faschismus befasst, als Direktor des Bremer Tanztheaters. Mit Beginn der Spielzeit 1994/95 wechselte Johann Kresnik mit seinem Ensemble an die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Hier wurde im Dezember 1994 ERNST JÜNGER, der zweite Teil der DEUTSCHEN TRILOGIE, uraufgeführt. Im April 1995 schloss Kresnik diese Trilogie über Wegbereiter, Mitläufer und Begleiter des deutschen Faschismus mit der Inszenierung von GRÜNDGENS ab, die in Koproduktion zwischen der Volksbühne und dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg uraufgeführt wurde. Im Juli 1995 hatte Johann Kresniks OTHELLO (in Zusammenarbeit mit Ismael Ivo) in Stuttgart Premiere. Zu Beginn seiner zweiten Berliner Spielzeit brachte er dann MACBETH und HÄNSEL UND GRETEL an der Volksbühne heraus. Im April 1996 inszenierte er am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg PASOLINI, TESTAMENT DES KÖRPERS. In Köln setze Kresnik im November 1996 am Schauspielhaus mit LENI RIEFENSTAHL die Reihe seiner getanzten Biographien fort. Es folgten 1997 an der Volksbühne die Premiere von GASTMAHL DER LIEBE nach Pasolinis TEOREMA und im Mai 1997 ANTONIN NALPAS, ein Pas de Deux für einen Schauspieler und einen Tänzer; Gedanken über Antonin Artaud. Am Theater Bremen inszenierte Kresnik im Oktober 1997 FIDELIO.
Der bedrückenden Atmosphäre des Moskauer HOTEL LUX, das nach der russischen Revolution eine Hochburg der internationalen kommunistischen Prominenz war, ging Kresnik in der im Januar 1998 an der Volksbühne uraufgeführten gleichnamigen Inszenierung nach. Im selben Jahr folgten SUBURBIO/NIEMANDSLAND als Uraufführung nach dem Buch von Fernando Bonassi am Schauspielhaus in Hamburg, BRECHT am Nationaltheater Mannheim und LA MALINCHE in Guanajuato und Mexiko-City. 1999 inszenierte Kresnik an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz GOYA - DER SCHLAF DER VERNUNFT GEBIERT UNGEHEUER, am Burgtheater Wien WIENER BLUT, in einem U-Boot-Bunker in Bremen-Farge DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT von Karl Kraus, NABUCCO am Staatstheater Saarbrücken und im November an der Berliner Volksbühne RICHARD III als Abschluss des dortigen Shakespeare-Rosenkrieg-Zyklus. Im Januar 2000 choreographierte Kresnik ebenfalls an der Volksbühne DON QUIXOTE, außerdem führte er im gleichen Jahr Regie bei ALLER SEELEN am Thalia Theater Hamburg und am Schauspielhaus Graz bei HEIL HEIDLER HERR HUND. Zum Saisonauftakt in Bremen 2000/2001 zeigte Kresnik Luigi Nonos INTOLLERANZA 1960. Im Oktober 2000 choreographierte er PLAN VIA in Bogota / Kolumbien. Im Januar 2001 fand seine Volksbühnen-Uraufführung GARTEN DER LÜSTE. BSE nach Aldous Huxleys SCHÖNE NEUE WELT statt, im Mai am Schauspielhaus Hannover WOYZECK.
Am 24. Januar 2002 verabschiedet sich Johann Kresnik mit der Uraufführung von PICASSO von der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Im April 2002 fand am Staatsschauspiel Dresden die Premiere von DIE TRÜMMER DES GEWISSENS / STRASSENECKE von Hans Henny Jahn in der Inszenierung von Kresnik statt, im November 2002 die Premiere von ANTIGONE am Schauspiel Hannover und im April 2003 die Uraufführung von Kresniks eigenem Werk VOGELER, von ihm selbst inszeniert, am Schauspielhaus Bremen. Im April 2003 setzte Kresnik PEER GYNT bei den Salzburger Festspielen in Szene, die Premiere in Hannover fand am 4. Oktober statt. In Gera brachte er im November 2003 Johan Maria Rotmans Oper DIE SECHSTE STUNDE zur Uraufführung.
Johann Kresnik ist in den letzten Jahren mehrfach für seine künstlerische Arbeit ausgezeichnet worden. Er und sein Ensemble wurden zu den bedeutendsten Festivals eingeladen und gastierten mit großem Erfolg in Europa, Südamerika, Kanada, Russland und Mexiko.


„Die 120 Tage von Sodom“
als blutiger Schocker

Von Michaela Schlagenwerth / Berl. Ztg. 29.05.2015

Aus Johann Kresniks konsumkritischen Bildprogramm: Supermarkt mit Frischetheke und psychopathischem Filialleiter in SS-Uniform. Foto: dpa

Nur noch für kurze Zeit im Volksbühnen-Angebot: Anachronistische Konsum-Kritik von Veteranen der politischen Kunst. Johann Kresnik choreografiert Pasonlinis „Die 120 Tage von Sodom“ als blutigen Supermarktschocker.

"Verkauft“ steht draußen an der Volksbühnen-Mauer. Drinnen auf der Bühne stapeln sich in einem riesigen Supermarkt meterhohe Regale mit übergroßen Limonaden- und Colaflaschen und ebenso riesigen Packungen auf denen in großen Lettern Ritalin oder Prozac oder schlicht Goldmann Sachs oder BP zu lesen steht. Geschmückt sind die Kartons mit ikonografischen Irak-Folter-Bildern und mit verwundeten Kindergesichtern aus der Werkstatt des Bühnenbildners Gottfried Helnwein. Das Ganze hat in seiner Gigantomie und Cleanheit eine ziemliche Wucht. Erst recht als eine Mädelstruppe zu tanzen beginnt, als befände sie sich gerade in einem Youtube-Clip, und zwei herausragende Breakdancer (David Eger und Lukas Steltner) den Gangman Style in virtuose Höhen und Querlagen schrauben.

Wow, denkt man, aber weiß dabei schon, dass es so nicht weitergehen wird, dass das nur die spaßige Ouvertüre zur großen Kapitalismuskritik sein kann. Auf der Bühne irren Unverständliches schreiend auch schon die Protagonisten herum, der Politiker, der Bischof, der Richter und die Huren.

Man ist auch schon gewarnt. An allen Eingangstüren klebt die Mitteilung, dass dieses Stück für Jugendliche unter 18 Jahren nicht geeignet ist. So recht kann man die Warnung nicht verstehen, denn dies ist ein Stück von Johann Kresnik. Bei Kresnik geht es oft laut und drastisch zu, aber wirklich gefährlich und bedrohlich wird es nie. Dazu ist die Gewalt des Regisseurs und Choreografen zu eindimensional, zu eindeutig. Das ist schon in seinen früheren Arbeiten so gewesen, als Kresnik von 1994 bis 2002 an der Volksbühne arbeitete. Geradlinig, mit dem unerschütterbaren Wissen, was gut und was böse ist. Anachronistisch war das schon damals. Aber gepaart mit Kresniks Bilderwucht hatte sein aus der Zeit gefallener Zorn noch seinen Reiz.

Kresnik, der Rebell, der es aus dem Kärntner Land als Balletttänzer bis zu Georges Balanchines New York City Ballet schaffte, in Deutschland in den 1970er-Jahren das politische Tanztheater erfand und mit Stücken wie „Ulrike Meinhof“ (1990) ernsthaft unbequem den Theaterbetrieb aufmischte, ist inzwischen 75 Jahre alt.

Die Volksbühne ist verkauft an den Kunstmarkt, wo so etwas ganz bestimmt nicht mehr passieren wird: Dass man einen in die Jahre gekommenen Kunst-Veteran, der in den 1990er-Jahren mal Tanzgeschichte geschrieben hat, ins Haus lädt und ihn einfach weiter sein Ding machen lässt. Als mit Kresnik die Produktion von „Die 120 Tage von Sodom“ vereinbart wurde, hatte noch keiner was geahnt von dem Verkauf der Volksbühne. Dagegen musste man kein Hellseher sein, um vorauszusagen, dass das nicht gut gehen würde: Kresnik-Kapitalismuskritik nach Pier Paolo Pasolinis gleichnamigem Film. Aber dass es so schlimm wird!

Johann Kresnik hat das Erwartete getan und auch wieder nicht. Er hat versucht sich selbst zu überbieten und eine Riesenschweinerei angerichtet. Also werden jede Menge übergroßer Plastik-Pimmel aus den Hosenschlitzen geholt, einer Schwangeren wird der Bauch aufgeschnitten, das Baby zerhackt, das, ächz, aus echtem Fleisch besteht, das man auf einem echten Grill echt grillt und aufisst.

Die unteren Chargen müssen alle weitgehend nackt und blutbeschmiert über die Bühne rutschen, derweil die wichtigeren Darsteller ihre Sachen meistenteils anbehalten dürfen. Nur Ismael Ivo, der auch für die Choreografie mitverantwortlich zeichnet, zieht sich öfter mal aus. Was er ja auch schon früher immer gerne getan hat. Die 70-jährige Großschauspielerin Ilse Ritter muss als zweite Hure ziemlich viele Plattitüden von sich geben, dass die Politik ein Supermarkt ist und so ähnlich. Nein, man schaut nicht gern zu. Auch wenn es teilweise etwas von einem grotesken Splatter hat. Etwa wenn die Gangman-Girls-Line des Anfangs, jetzt im Helnwein-Outfit blutbeschmiert und in Verbände gewickelt, als Zombie-Revue über die Bühne tanzt. Das ist der eine Moment, wo man denkt, wenn sich jetzt alles ironisch wenden würde, das wäre vielleicht die Rettung. Es könnte vielleicht sogar noch wirklich unheimlich werden. Aber natürlich ist es nicht ironisch gemeint, sondern pur.

Zum großen Finale wird Katastrophe auf Katastrophe geschichtet. Geschändete Puppenleichen fallen aus dem Schnürboden, Porträts von Karl Marx, Che Guevara, Rosa Luxemburg und Pasolini werden zerhackt, ein paar Grausamkeiten noch schnell im Zeitraffer, eine bepinkelte Sängerin, dann ist es geschafft. Die Menschen applaudieren. Kresnik macht sein Ding und lässt sich nicht beirren. Er weiß immer noch, wo es lang geht. Seine moralische Weltsicht kommt ohne die strafmildernden Umstände von Systemen und Rollen aus − für ihn sind das Ausreden. Er weiß, wer schuld ist. Und er wüsste auch, was er verdient.


Frischfleisch für die Herrschaft

Fressen, Folter, Facebook: Johann Kresnik inszeniert „Die 120 Tage von Sodom“ nach de Sade und Pasolini an der Berliner Volksbühne.

Irene Bazinger, FAZ 29.05.2015

Selten durfte man vor einer Premiere so früh den Saal der Berliner Volksbühne betreten wie diesmal bei „Die 120 Tage von Sodom“. Aber der Choreograph und Regisseur Johann Kresnik wollte den Zuschauern offenbar Gelegenheit geben, das Bühnenbild von Gottfried Helnwein ausgiebig zu betrachten, denn die Uraufführung würde dafür keine Muße lassen. Es besteht aus himmelhohen, übervollen Regalen an den Seiten und wird hinten durch einen Rundhorizont abgeschlossen, auf den dieselben Artikel gemalt sind.

Zu dieser durch und durch käuflichen Welt zählen nicht nur Cola-Dosen oder Nestlé-Schachteln, sondern überdies – als Platzhalter – Kartons mit Aufschriften wie BP, Goldman Sachs, Prozac, McDonald’s, NSA, CIA, BND oder TTIP. Ob Energieunternehmen, Finanzdienstleister, Antidepressivum, Fastfood-Multi, Geheimdienst oder Freihandelsabkommen – alles erscheint, samt Fotos von Angela Merkel oder Barack Obama, bunt, glatt, mächtig, erdrückend. Dazu hat Ali Helnwein eine fies-fröhliche Kaufhausmusik komponiert, in die sich unscharf die üblichen Reklamedurchsagen mischen.

Die Musik wird immer lauter und von der akustischen Belästigung zum Geräuschterror. Die Schauspieler treten auf, brüllen mit angestrengt heiteren Gesichtern in Mikrofone, Tänzer wirbeln wie hyperaktive Cheerleader herum, Breakdancer legen los. Und dann schießt ein eleganter Mann im dunklen Anzug einfach mal mit einer Maschinenpistole dazwischen. Der Spuk hört auf, es wird still, ein paar Leute sind umgefallen, andere verschwunden.

Später stehen sechs nackte, komplett schwarz geschminkte Männer als Sklaven respektive „Schergen“ ihren Herrschaften handgreiflich zur Seite. Roland Renner als Politiker, Helmut Zhuber als Richter, Enrico Spohn als Bankier, Hannes Fischer als Bischof und Ismael Ivo als Offizier plaudern nach oder auch während ihrer sadistischen Exzesse fast kultiviert über Verbrechen und Religion, Geld und Rohstoffe. Viel Blut fließt, es kommt zu für das Publikum schwer erträglichen Brutalitäten, Erniedrigungen, Misshandlungen. Ilse Ritter als Puffmutter spielt manchmal Klavier, Inka Löwendorf als ihre Kollegin furzt dem Bischof ins Gesicht, weil der das so gern mag.

Schon Pier Paolo Pasolinis Film „Salò oder Die 120 Tage von Sodom“ (1975) war wahrlich keine leichte Kost. Darin ziehen sich vier großbürgerliche Libertins in eine abgelegene Villa zurück, wo sie eine Schar junger Frauen und Männer, die sie in ihre Gewalt gebracht haben, zu Tode foltern. Als Vorlage diente ein Roman des Marquis de Sade, den Pasolini ins faschistische Italien von 1944 verlegte. Ein Skandal war die Folge, der Film durfte lange nur zensiert gezeigt werden und ist bis heute in der Schmuddelecke geblieben.

Johann Kresnik hat in seinem kapitalismuskritischen Theaterstück nach dem aktualisierenden Libretto von Christoph Klimke den bereits bei Pasolini thematisierten Aspekt der totalen Kommerzialisierung sämtlicher Lebensbereiche noch verstärkt. Ob einem Opfer der Penis abgeschnitten, ein Neugeborenes zerhackt und gegrillt oder jemand vergewaltigt wird, was nahezu ununterbrochen geschieht – stets stellt die Jugend für die „Herrenmenschen“ begehrtes Frischfleisch dar, das es zu vernichten gilt: „Keine Bildung, nur Konsum. Nichts im Hirn außer Geld, Fressen, Vögeln, Facebook“, so der zynische Politiker über die Todgeweihten. Wie um ihn zu bestätigen, sagt einmal einer von ihnen über ihr Inferno: „Eigentlich finde ich das hier ganz lustvoll. Vögeln und Fressen frei. Hier ist wenigstens richtig was los. Wie im Internet.“

Bald jedoch sind sie lediglich eine dreck- und blutverschmierte Masse aus Entwürdigung und Elend, Schmerz und Schmach. Kresnik arrangiert sie in barbarischen Sequenzen der Auslöschung, in harten Formationen gebrochener Individualität, in sich windenden Knäueln, die an die Horrorbilder aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib erinnern.

Aber wie das so ist, wenn man das Publikum mit allen Mitteln aufklären und mobilisieren will: Wird ihm auf der Bühne allzu viel Grausamkeit zugemutet, schottet es sich ab und lässt das brutale Treiben nicht an sich heran. Zwar treiben schon Sätze wie „Wir manipulieren Finanzmärkte, zerstören Unternehmen, erfinden Scheinfirmen, verscherbeln abgelaufene Medizin“ nicht unbedingt auf die Barrikaden. Das Übermaß an nackten, geschundenen Körpern in immer neuen Höllenkreisen allerdings stumpft schließlich mehr ab, als dass es erschüttert.

Bei all dem Blut wirkt die Inszenierung rasch seltsam blutleer. Die unendliche Wut über die globalen Missverhältnisse, die der radikale Protestkünstler Johann Kresnik mit seinen fünfundsiebzig Jahren immer noch aufbringt, ist dennoch beeindruckend. Er fügt sich nicht ins System ein, er will es erledigen. Dass er dabei scheitern muss, weiß er natürlich. Dass Kresnik darüber keineswegs resigniert, verdient trotz der weidlich ausgekosteten Schockästhetik höchsten Respekt. Kein einziges Buh war zu hören, nur Applaus – das hätte der Regisseur sich vermutlich anders gewünscht.