Besuch
im GULag oder im KZ – oder in Guantánamo? Eine Frau in
schwarzem transparent-schulterfreiem Kleid mit schwarz verhängtem
Gesicht stürzt ins Parkett, begleitet von ihrem Alter Ego, einer
Tänzerin. Sie stürmen durch die Reihen, klettern über die Besucher. Auf
der Rangempore erscheint eine Figur in Weiß mit ordensgeschmückter
Lametta-Brust, der Kommandant. Er gibt seine Anweisungen – eine
Sängerin. Die grauen Tore der Strafkolonie öffnen sich. Der Offizier,
ebenfalls eine Sängerin, stellt sich vor auf seinem abgewetzten
Hinrichtungsblock als Richter und Schlächter in einem. Eine
Pennäler-Gruppe mit bunten Blumensträußen umlagert den Richtplatz, aus
dem später der Gefangene seinen Kopf stecken wird. Die Gaffer nehmen
erwartungsvoll Platz in der ersten Reihe.
Dass ein Opernhaus in den neuen Ländern eine Uraufführung in Auftrag
gibt, ist nichts Alltägliches. In Gera, wo man letztes Jahr das
100jährige Jubiläum des Theaters feiern konnte, inzwischen aber der
finanzielle Haussegen so schief hängt, dass der Intendant René Serge
Mund vorzeitig aus dem Amt scheidet, wollte man sich das leisten und
betraute den holländischen Dirigenten und Komponisten Johan Maria
Rotman mit der Komposition. Als Vorlage seiner Kammeroper Die
sechste Stunde wählte der sich Franz Kafkas Erzählung In der
Strafkolonie. Und Regisseur Johann Kresnik macht daraus ein weit
schweifendes Assoziationstheater. Es ist weniger grell, als man es von
ihm gewohnt ist, dennoch pointiert genug, wenn auch in der zweiten
Hälfte mit leichten Durchhängern.
Der Reisende, der hier eingeladen ist, um einer Hinrichtung beizuwohnen,
kommt als rasender Reporter. Mit Video-Kamera verfolgt er das Geschehen
auf der Bühne. Die Bilder werden live auf die geöffneten Lager-Tore am
Bühnenportal projiziert. Dazu andere, vorproduzierte Bilder, wie etwa
der Besuch der Fremden und ihrer Begleiterin in einem Uran-Tagebau –
Anspielung auf einen sehr konkreten Ort in der Nähe Geras. Offizier,
Kommandant und Fremde kommen sich auch körperlich einander näher. Das
Terzett der drei Frauen ergibt eine schrille Mischung, wie sie vom
Komponisten beabsichtigt ist als Flammzeichen gegen die Gewalt, derweil
die Tänzerin in heftigen Zuckungen immer wieder sich in den strahlenden
Uranboden wühlt. Ein Reigen von BDM-Mädels mit blonden Zopfperücken
fordert gleichwohl stoisch und frohgemut die Vorführung von Opfern. Und
sie bekommen was geboten.
Rotmans Musik ist eine sehr brauchbare Theatermusik, vielgestaltig, ohne
Scheuklappen, streng in hell und dunkel schattiert, wenn auch nicht
gerade „avantgardistisch“. Dazu freilich hätte er auch kaum Johann
Kresnik gewinnen können für die szenische Umsetzung. Kresnik will
Theater, das etwas mitteilt, das sich einbringt. Der Lagerzaun wird hier
am Ende krachend nieder gerissen, der Offizier opfert sich. Wie ein
Schinken aufgehängt in einem Leichensack, wird er verbrannt. Der
Gefangene schlüpft in die Uniform des Kommandanten. Als Benjaminscher
Engel, der Unheil gebiert, zieht der/die am Ende mit schwangerem Bauch
über die Bühne. Die Fremde, die sich die Maske vom Gesicht gerissen hat,
entzündet den Kinderwagen und die Schleppe der Unheil-Schwangeren wie
einen Kometen-Schweif.
Mit großem Engagement ist unter der musikalischen Leitung von Gabriel Feltz
das ganze Ensemble bei der Sache. Für die Partien von Offizier und
Kommandant konnte man mit Monique Krüs und Christiane Mikoleit
ausgesprochene Spezialistinnen gewinnen. Aber auch die Fremde ist mit
Gerlinde Illich, die auch tänzerische Aufgaben zu bewältigen hat,
glänzend aus dem Haus besetzt, begleitet von Daniela Greverath als Alter
Ego. Das etwa 75-minütige Stück, später auch transferiert in die
Dependence Altenburg, ist ein mutiges Unterfangen. Die Premiere wurde
geradezu enthusiastisch vom Publikum aufgenommen im voll besetzten
Geraer Haus.
Eine Frau hackt sich ihre Leibesfrucht aus dem Uterus und gibt die
Nabelschnur ihrem Partner zu verspeisen. Eine andere
treibt's auf dem Euter einer rücklings
liegenden BSE-Kuh. Alma bekennt ihre Liebe zu dem von den Glatzen
gejagten Farbigen James, den sie schon unter einen Holzbalken wie ans
Kreuz nageln, indem sie ihm einen Mundvoll Sekt aufs entblößte Glied
bläst. Starker Tobak. Starke Bilder? Johann Kresnik nennt so was
Politisches Theater. Und er fühlt sich als dessen letzter Mohikaner. In
Lateinamerika hat er zuletzt viel inszeniert. Die haben dort "überhaupt
keine Hemmungen", erzählt er im Interview. Und mit einer Produktion in
Mexiko habe man es sogar auf die Titelseite einer Zeitung geschafft.
In
Dresden am Staatsschauspiel waren sie ihm schon lange hinterher. Der
vorige Intendant Dieter Görne und
auch der neue Holk Freytag. Er hat’s
nun geschafft. Kresnik ist nicht mehr gebunden an der Berliner
Volksbühne. Mit Picasso hat er sich dort im Januar verabschiedet.
Nun hat er sich Hans Henny Jahnn zugewandt - auch so eine Figur, wie
Kresnik sie liebt, ungebärdig, unangepasst, quer.
Ein frühes
Passionsstück über den Leidensweg eines jungen Mannes, Straßenecke
(1931), und ein spätes Antiatomstück, Die Trümmer des Gewissens
(1959), haben Kresnik und sein Dramaturg Christoph Klimke zu einem
Hans-Henny-Jahnn-Projekt gekoppelt. Das erstere schrieb Jahnn nach
dem Tod seines Intim-Freundes Harms. Über das letztere
urteilte ein Hans Mayer, es sei "bis zur Absurdität" misslungen.
Kresnik ficht das nicht an. Er montiert in
den Komplex noch Motive aus dem realen Nachwende-Leben, als ein junger
Mocambiquaner aus einer Dresdner Straßenbahn hinausgeworfen wurde, und
mixt alles zu einem bluttriefenden, strahlenden Cocktail aus Fremdenhass
und Zukunftsangst. Traurige Protagonistin des Trümmer-Teils ist eine
Indio-Frau, die letzte ihres Stammes, Tiripa.
Als Opfer der modernen Wissenschaft humpelt die Genmanipulierte mit
strohummanteltem Kopf und wundübersäten Beinen (Kostüme: Franziska
Just) durch die Bühnenlandschaft. Die wird imaginiert gleich zu Beginn
als ein kadaververhängtes Schlachthaus. Zu
einem Stillleben aus Schweinen, Ochsen, Eseln, Geiern am Haken säuselt
der Chor vom Band das schmalzige Heimat-Lied
aus seligen FDJ-Zeiten. Dann wandelt sich die Bühne (Bernhard Hammer)
in einen Container-Abladeplatz, umgrenzt von einem Drahtzaun, mit hoch
gestapelten Behältnissen, die mal Straßenbahnzug, mal Müllentsorgung,
mal Leinwand für Live-Reality-TV sind, und
aus denen später tote Schwarzbunte mit aufgeblasenen Bäuchen gekippt
werden. Deren von Innereien ausgekratzte Karkasse bietet aber auch schon
mal schützendes Versteck für die von der Meute Gejagten.
Die
Darsteller, bis auf die Tänzerin Simona Furlani
aus Kresniks Team (ein bekanntes Gesicht wollte der Choreograf
wenigstens um sich haben), sind Mitglieder des Dresdners
Staatsschauspiels, voran Falilou Seck als Farbiger James und Tessa
Mittelstaedt als seine Ratten im Bauch
nährende Freundin Alma; dazu Schauspielstudenten und eine vielköpfige
Komparserie. Wacker kämpfen die sich durch die Wolken von Mehl und
Staub, die Haufen von Müll und die Wannen und Eimer mit Wasser und
Theaterblut. Viel müssen sie rennen, akrobatisch an Containern rauf und
runter klettern, in Seilen sich schwingen, rhythmisch im Takt
Telefonhörer schwenken oder mit paarig zu Lichterkränzen gebündelten
weißen Ratten jonglieren, die eine Dame in Schwarz mit breitkrempigem
Hut als personifizierter Tod spazieren führt.
So manche Heroen der Zeit- und Geistesgeschichte von Meinhof über Nietzsche
bis zu Jünger, Goya und Huxley hat Kresnik bisher porträtiert. Der
Jahnn-Abend zwischen Choreografischem Theater und Schauspiel hat wie
immer auch viel von Kolportage. Die Texte liefern immerhin doch einiges
an Substanz - mit déjà-vu-Effekt. Am Ende
breitet sich Erschöpfung aus. "Wir erledigen die Rätsel" ist weise eine
der Szenen übertitelt. Eingeläutet werden die zwei pausenlosen Stunden
durch eine wohlig-eindringliche Lesung per Lautsprecher von Pasolinis
Il mondo del lavoro
(Die Arbeitswelt). Ansonsten werden die Ohren immer wieder zugeschüttet
mit greller Rockmusik (Livio Tragtenberg),
die Augen mit knalligen Bildern. Nur einen winzigen Moment gegen Ende
darf man auch mal innehalten. Der Beifall zum Schluss kommt zögerlich.
Einige Besucher sind vorzeitig abgewandert. Für den Choreografen gibt’s
leise Buhs. War man erschüttert von Kresniks Amoklauf durch offene
Türen? Eher mit Amüsement hat man einer Attraktion des
Gutmensch-Business beigewohnt.
Siegfrieds Ziehvater Mime kriecht aus dem Untergrund. Er legt
seine Militärjacke ab, um sich am Bühnenrand zu übergeben. Der „Ring des
Nibelungen“ liefert kein Motiv für diese Eingangsszene und sieht aus wie
ein Kommentar Johann Kresniks zur tanzpolitischen Entwicklung in Bonn.
„Ring II – Siegfried/Götterdämmerung“ ist sein letzter Streich am Rhein,
nachdem der Stadtrat den Vertrag nicht verlängert und gleich die ganze
Sparte abgeschafft hat. Für die kommende Spielzeit hat die Oper Bonn
sich mit Gastspielen versorgt, die Idee eines Köln-Bonner Ensembles
schwebt konturenlos im Raum.
Ein Johann Kresnik geht nicht einfach so. Zum Abschied lässt er es
richtig krachen. „Ring II“ inszeniert er als Spektakel der
Zerstörungswut, als Ekel-Schocker. Ein echter Kresnik halt, über den man
schmunzeln könnte. Wäre da nicht der Unmut über die so offensichtliche
Lieblosigkeit, mit der der 68-Jährige ans Werk ging. War „Ring I“ im
Dezember 2006 noch inspiriert von der Idee, Richard Wagners Tetralogie
mit dessen Biografie zu verbinden, bleibt Kresnik im zweiten Teil in
hohler Selbstgefälligkeit stecken. Zwei Pianisten hämmern dazu
atmosphärische Klänge (Gernot Schedlberger). Der drastische Formulierer
suhlt sich einfallslos in seiner Lust am Unästhetischen.
Das mythische Weltgedicht benutzt er nur, um seine antikapitalistische
Weltanschauung in zahllosen Selbstzitaten herauszuposaunen. Richard
Wagner ist kaum mehr als Statist. Der ideologische Missbrauch seines
Werkes durch die Nazis liefert den willkommenen Anlass, einmal mehr
Karikaturen von Nazi-Einheiten aufmarschieren zu lassen. Siegfried und
Brünnhilde, todgeweiht, kommten als Gruftis mit weiß geschminktem
Antlitz daher. Der Held in Leder mit treuem Blick, schuldig doch allein
durch Unwissenheit, dient Kresnik buchstäblich als Projektionsfläche:
Diktatorische Herrscher, islamistische Selbstmordattentäter oder
schießwütige Amokläufer in Schulen – alle bannt er auf Siegfrieds
Körper. Das Böse steckt in ihnen allen, da muss man wohl nicht weiter
differenzieren.
Der Ring-Zyklus – ein Gemetzel. Der Riese Fafner wird bestialisch
ermordet und ausgeweidet, seine Gedärme fliegen durch die Luft. Hagen,
ein Schwarzer, beißt Siegfried zu Tode, dass das Blut sprudelt. Aus dem
Ring, ein goldner Lkw-Reifen, werfen fanatische Wagnerianer mit Schlamm,
dass es bis ins Publikum spritzt. Eine Szene vermag dem inszenatorischen
Getöse für einen Moment Tiefe zu verleihen. Eine alte Frau in
Trauerkleidung bewegt sich in deutschem Ausdruckstanz (Anspielung an
Kurt Jooss’ „Der Grüne Tisch“). Lautstark geht die Welt unter, samt
Menschen und Göttern. Brünnhildes riesiges Bett (imposante Ausstattung:
Gottfried Helnwein) kracht zusammen, ein goldener US-Schlitten knallt
auf Schrottautos. Aus einem Kühlschrank, der am Bühnenhimmel baumelt,
fallen mit ohrenbetäubendem Lärm Cola-Flaschen in den Orchestergraben.
Das Publikum reagierte teilweise amüsiert. Kresnik mag es gleichgültig
sein. Er sei bis 2012 ausgebucht. Sein Ensemble löst sich nach 40 Jahren
auf.
Aus Johann Kresniks konsumkritischen Bildprogramm: Supermarkt mit Frischetheke und psychopathischem Filialleiter in SS-Uniform. Foto: dpa
Nur noch für kurze Zeit im Volksbühnen-Angebot: Anachronistische Konsum-Kritik von Veteranen der politischen Kunst. Johann Kresnik choreografiert Pasonlinis „Die 120 Tage von Sodom“ als blutigen Supermarktschocker.
"Verkauft“ steht draußen an der Volksbühnen-Mauer. Drinnen auf der Bühne stapeln sich in einem riesigen Supermarkt meterhohe Regale mit übergroßen Limonaden- und Colaflaschen und ebenso riesigen Packungen auf denen in großen Lettern Ritalin oder Prozac oder schlicht Goldmann Sachs oder BP zu lesen steht. Geschmückt sind die Kartons mit ikonografischen Irak-Folter-Bildern und mit verwundeten Kindergesichtern aus der Werkstatt des Bühnenbildners Gottfried Helnwein. Das Ganze hat in seiner Gigantomie und Cleanheit eine ziemliche Wucht. Erst recht als eine Mädelstruppe zu tanzen beginnt, als befände sie sich gerade in einem Youtube-Clip, und zwei herausragende Breakdancer (David Eger und Lukas Steltner) den Gangman Style in virtuose Höhen und Querlagen schrauben.
Wow, denkt man, aber weiß dabei schon, dass es so nicht weitergehen wird, dass das nur die spaßige Ouvertüre zur großen Kapitalismuskritik sein kann. Auf der Bühne irren Unverständliches schreiend auch schon die Protagonisten herum, der Politiker, der Bischof, der Richter und die Huren.
Man ist auch schon gewarnt. An allen Eingangstüren klebt die Mitteilung, dass dieses Stück für Jugendliche unter 18 Jahren nicht geeignet ist. So recht kann man die Warnung nicht verstehen, denn dies ist ein Stück von Johann Kresnik. Bei Kresnik geht es oft laut und drastisch zu, aber wirklich gefährlich und bedrohlich wird es nie. Dazu ist die Gewalt des Regisseurs und Choreografen zu eindimensional, zu eindeutig. Das ist schon in seinen früheren Arbeiten so gewesen, als Kresnik von 1994 bis 2002 an der Volksbühne arbeitete. Geradlinig, mit dem unerschütterbaren Wissen, was gut und was böse ist. Anachronistisch war das schon damals. Aber gepaart mit Kresniks Bilderwucht hatte sein aus der Zeit gefallener Zorn noch seinen Reiz.
Kresnik, der Rebell, der es aus dem Kärntner Land als Balletttänzer bis zu Georges Balanchines New York City Ballet schaffte, in Deutschland in den 1970er-Jahren das politische Tanztheater erfand und mit Stücken wie „Ulrike Meinhof“ (1990) ernsthaft unbequem den Theaterbetrieb aufmischte, ist inzwischen 75 Jahre alt.
Die Volksbühne ist verkauft an den Kunstmarkt, wo so etwas ganz bestimmt nicht mehr passieren wird: Dass man einen in die Jahre gekommenen Kunst-Veteran, der in den 1990er-Jahren mal Tanzgeschichte geschrieben hat, ins Haus lädt und ihn einfach weiter sein Ding machen lässt. Als mit Kresnik die Produktion von „Die 120 Tage von Sodom“ vereinbart wurde, hatte noch keiner was geahnt von dem Verkauf der Volksbühne. Dagegen musste man kein Hellseher sein, um vorauszusagen, dass das nicht gut gehen würde: Kresnik-Kapitalismuskritik nach Pier Paolo Pasolinis gleichnamigem Film. Aber dass es so schlimm wird!
Johann Kresnik hat das Erwartete getan und auch wieder nicht. Er hat versucht sich selbst zu überbieten und eine Riesenschweinerei angerichtet. Also werden jede Menge übergroßer Plastik-Pimmel aus den Hosenschlitzen geholt, einer Schwangeren wird der Bauch aufgeschnitten, das Baby zerhackt, das, ächz, aus echtem Fleisch besteht, das man auf einem echten Grill echt grillt und aufisst.
Die unteren Chargen müssen alle weitgehend nackt und blutbeschmiert über die Bühne rutschen, derweil die wichtigeren Darsteller ihre Sachen meistenteils anbehalten dürfen. Nur Ismael Ivo, der auch für die Choreografie mitverantwortlich zeichnet, zieht sich öfter mal aus. Was er ja auch schon früher immer gerne getan hat. Die 70-jährige Großschauspielerin Ilse Ritter muss als zweite Hure ziemlich viele Plattitüden von sich geben, dass die Politik ein Supermarkt ist und so ähnlich. Nein, man schaut nicht gern zu. Auch wenn es teilweise etwas von einem grotesken Splatter hat. Etwa wenn die Gangman-Girls-Line des Anfangs, jetzt im Helnwein-Outfit blutbeschmiert und in Verbände gewickelt, als Zombie-Revue über die Bühne tanzt. Das ist der eine Moment, wo man denkt, wenn sich jetzt alles ironisch wenden würde, das wäre vielleicht die Rettung. Es könnte vielleicht sogar noch wirklich unheimlich werden. Aber natürlich ist es nicht ironisch gemeint, sondern pur.
Zum großen Finale wird Katastrophe auf Katastrophe geschichtet. Geschändete Puppenleichen fallen aus dem Schnürboden, Porträts von Karl Marx, Che Guevara, Rosa Luxemburg und Pasolini werden zerhackt, ein paar Grausamkeiten noch schnell im Zeitraffer, eine bepinkelte Sängerin, dann ist es geschafft. Die Menschen applaudieren. Kresnik macht sein Ding und lässt sich nicht beirren. Er weiß immer noch, wo es lang geht. Seine moralische Weltsicht kommt ohne die strafmildernden Umstände von Systemen und Rollen aus − für ihn sind das Ausreden. Er weiß, wer schuld ist. Und er wüsste auch, was er verdient.
Selten durfte man vor einer Premiere so früh den Saal der Berliner Volksbühne betreten wie diesmal bei „Die 120 Tage von Sodom“. Aber der Choreograph und Regisseur Johann Kresnik wollte den Zuschauern offenbar Gelegenheit geben, das Bühnenbild von Gottfried Helnwein ausgiebig zu betrachten, denn die Uraufführung würde dafür keine Muße lassen. Es besteht aus himmelhohen, übervollen Regalen an den Seiten und wird hinten durch einen Rundhorizont abgeschlossen, auf den dieselben Artikel gemalt sind.
Zu dieser durch und durch käuflichen Welt zählen nicht nur Cola-Dosen oder Nestlé-Schachteln, sondern überdies – als Platzhalter – Kartons mit Aufschriften wie BP, Goldman Sachs, Prozac, McDonald’s, NSA, CIA, BND oder TTIP. Ob Energieunternehmen, Finanzdienstleister, Antidepressivum, Fastfood-Multi, Geheimdienst oder Freihandelsabkommen – alles erscheint, samt Fotos von Angela Merkel oder Barack Obama, bunt, glatt, mächtig, erdrückend. Dazu hat Ali Helnwein eine fies-fröhliche Kaufhausmusik komponiert, in die sich unscharf die üblichen Reklamedurchsagen mischen.
Die Musik wird immer lauter und von der akustischen Belästigung zum Geräuschterror. Die Schauspieler treten auf, brüllen mit angestrengt heiteren Gesichtern in Mikrofone, Tänzer wirbeln wie hyperaktive Cheerleader herum, Breakdancer legen los. Und dann schießt ein eleganter Mann im dunklen Anzug einfach mal mit einer Maschinenpistole dazwischen. Der Spuk hört auf, es wird still, ein paar Leute sind umgefallen, andere verschwunden.
Später stehen sechs nackte, komplett schwarz geschminkte Männer als Sklaven respektive „Schergen“ ihren Herrschaften handgreiflich zur Seite. Roland Renner als Politiker, Helmut Zhuber als Richter, Enrico Spohn als Bankier, Hannes Fischer als Bischof und Ismael Ivo als Offizier plaudern nach oder auch während ihrer sadistischen Exzesse fast kultiviert über Verbrechen und Religion, Geld und Rohstoffe. Viel Blut fließt, es kommt zu für das Publikum schwer erträglichen Brutalitäten, Erniedrigungen, Misshandlungen. Ilse Ritter als Puffmutter spielt manchmal Klavier, Inka Löwendorf als ihre Kollegin furzt dem Bischof ins Gesicht, weil der das so gern mag.
Schon Pier Paolo Pasolinis Film „Salò oder Die 120 Tage von Sodom“ (1975) war wahrlich keine leichte Kost. Darin ziehen sich vier großbürgerliche Libertins in eine abgelegene Villa zurück, wo sie eine Schar junger Frauen und Männer, die sie in ihre Gewalt gebracht haben, zu Tode foltern. Als Vorlage diente ein Roman des Marquis de Sade, den Pasolini ins faschistische Italien von 1944 verlegte. Ein Skandal war die Folge, der Film durfte lange nur zensiert gezeigt werden und ist bis heute in der Schmuddelecke geblieben.
Johann Kresnik hat in seinem kapitalismuskritischen Theaterstück nach dem aktualisierenden Libretto von Christoph Klimke den bereits bei Pasolini thematisierten Aspekt der totalen Kommerzialisierung sämtlicher Lebensbereiche noch verstärkt. Ob einem Opfer der Penis abgeschnitten, ein Neugeborenes zerhackt und gegrillt oder jemand vergewaltigt wird, was nahezu ununterbrochen geschieht – stets stellt die Jugend für die „Herrenmenschen“ begehrtes Frischfleisch dar, das es zu vernichten gilt: „Keine Bildung, nur Konsum. Nichts im Hirn außer Geld, Fressen, Vögeln, Facebook“, so der zynische Politiker über die Todgeweihten. Wie um ihn zu bestätigen, sagt einmal einer von ihnen über ihr Inferno: „Eigentlich finde ich das hier ganz lustvoll. Vögeln und Fressen frei. Hier ist wenigstens richtig was los. Wie im Internet.“
Bald jedoch sind sie lediglich eine dreck- und blutverschmierte Masse aus Entwürdigung und Elend, Schmerz und Schmach. Kresnik arrangiert sie in barbarischen Sequenzen der Auslöschung, in harten Formationen gebrochener Individualität, in sich windenden Knäueln, die an die Horrorbilder aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib erinnern.
Aber wie das so ist, wenn man das Publikum mit allen Mitteln aufklären und mobilisieren will: Wird ihm auf der Bühne allzu viel Grausamkeit zugemutet, schottet es sich ab und lässt das brutale Treiben nicht an sich heran. Zwar treiben schon Sätze wie „Wir manipulieren Finanzmärkte, zerstören Unternehmen, erfinden Scheinfirmen, verscherbeln abgelaufene Medizin“ nicht unbedingt auf die Barrikaden. Das Übermaß an nackten, geschundenen Körpern in immer neuen Höllenkreisen allerdings stumpft schließlich mehr ab, als dass es erschüttert.
Bei all dem Blut wirkt die Inszenierung rasch seltsam blutleer. Die unendliche Wut über die globalen Missverhältnisse, die der radikale Protestkünstler Johann Kresnik mit seinen fünfundsiebzig Jahren immer noch aufbringt, ist dennoch beeindruckend. Er fügt sich nicht ins System ein, er will es erledigen. Dass er dabei scheitern muss, weiß er natürlich. Dass Kresnik darüber keineswegs resigniert, verdient trotz der weidlich ausgekosteten Schockästhetik höchsten Respekt. Kein einziges Buh war zu hören, nur Applaus – das hätte der Regisseur sich vermutlich anders gewünscht.