Die „Tanztage“ sind ein guter Gradmesser, was interessiert junge Tänzerinnen- und Tänzer, Choreografinnen und Choreografen heute besonders? Vor allem ist es die Realität. Beatrice Fleischlin und Anja Meser etwa haben Menschen beobachtet auf der Straße und versuchen daraus eine eigene Bewegungssprache zu filtern. Da sind der gelangweilt die Hände in die Hosentaschen bohrende oder der sich ins Handy verkriechende Macho-Typ, da ist die sich endlos die Haare zurech tzupfende oder die entschlossen voran schreitende oder die im schicken Schwarzen posierende Frau. Oder man parodiert eine blubbernde Boulevard-Ikone.
Wieder ins Blickfeld gerückt ist auch das Erkunden von Grundlagen der Bewegung wie bei der Schwedin Stina Nyberg in „A White Rhythm Section“. Gekleidet in ein Leoparden- bzw. Tigerdress stehen zwei Tänzerinnen erst lange reglos da, bevor sie einzelne Körperteile zu bewegen beginnen. Übers Balancieren geht’s zum Versuch, die Füße vom Boden zu lösen, zum Hüpfen umeinander, zum aus der Hocke Hochschnellen wie ein Känguru, sich am Boden Wälzen und auf dem Bauch liegend die Extremitäten Ausstrecken wie bei einem Fallschirm- oder Skisprung. Von Eleganz zu spüren ist leider wenig. Und die pure Mimesis weitet sich nicht zur Form.
Tiefer lotet mit ihren Erkundungen die Griechin Kat Válastur in „So many Gens Dark“. Zwei Dreierreihen von Tänzern stehen sich gegenüber, nähern sich einander und entfernen sich wieder in vielen Varianten körperlicher Behinderungen, Verkrümmungen bis hin zu Avatar-ähnlich eckigen Formen. Stehen die Tänzergruppen in einer Reihe, blicken die Tänzer verwirrt nach oben. Dazu ertönt über Lautsprecher ein seltsam sirrendes Geräusch in unterschiedlichen Graden von Intensität. Woran es der Arbeit mangelt, ist ein noch unterentwickeltes Gefühl für Timing.
Glücklich ausgemustert scheint der sogenannte Konzepttanz, eine Mode, durch Nichttanz Tanz zu imaginieren. Und auch die Abstraktion von Computer-generierten Bewegungen ist fern. Gleichwohl gibt es weiter das Spielen mit Technik, aber thematisch fokussiert. In ihrer Live-Video-Installation „Josephine Joseph“ suggeriert Julia Jadkowski durch Verschieben von Sicht-Achsen ein Suchen nach der eigenen Mitte, ähnlich dem Scharfstellen einer Linse.
Aber es gibt auch Affinitäten zum Zirkus. Clément Layes balanciert wie ein Clown auf dem Kopf, auf der Stirn, auf der Wange ein Wasserglas, das er mit allerlei Tricks leert, befüllt, mit dem er Pflanzen wässert, um am Ende Sentenzen zur Umwelt nachzugießen. Oder präsentiert wird Privates: wie von An Kaler, die aus ihrem Hobby Reiten einige Bewegungsmuster ausschält. Rosalind Goldberg wagt sich immerhin an die Interpretation von Musik, Bachs „Französische Suiten“. Aber auch da ist der Schritt vom Wollen zum Können sichtbar weit.
Gewiss – die „Tanztage“ sind ein Übungspodium. Etwas stringentere Maßstäbe bei der Auswahl an die tänzerische Qualität wären sicher hilfreich, auch für die Künstlerinnen und Künstler. Dass Musik, Akustisches überhaupt, heuer kaum eine Rolle spielt, kann man vielleicht als Abwehr gegen die Ubiquität von Schallberieselung werten. Es wäre nicht der schlechteste Trend.
Eine ältere Frau im rosa Hauskleid und mit onduliertem Haar hantiert mit
Wäschestücken. Sie klaubt sie auf vom Boden, faltet sie, schmeißt sie wieder
achtlos hin. Richtet ihr begehrliches Augenmerk auf ihren Fernseher.
Schmeichelnd wie einem Liebhaber nähert sie sich dem Gerät, breitet die Arme
aus, versucht mit der leeren Hülse zu kopulieren, von links, von rechts, von
hinten, von oben – und lächelt dann, verzückt über ihren TV-Orgasmus.
Sie holt Spaghetti aus einem Kochtopf, lässt sie sorgfältig abtropfen, füllt
damit einen Teller und setzt sich damit vor eine Wand, auf der ein Video
läuft über ihren häuslichen Alltag, als sie noch jünger war. Dort wird sie
gezeigt, wie sie dasselbe tat: Wäsche zusammenlegen, saugen, kochen. Sie
wirft mit Spaghetti-Fäden nach der Wand, bis der Teller ganz geleert ist.
Und beginnt dann einen wilden Tanz mit einem Kleiderständer. Am Ende dann
wieder der Rückfall in die Trostlosigkeit.
„Living Room Legend“ von und mit Diane Busuttil, ein
Stück über die Sehnsüchte, Ängste, die Einsamkeit einer alten Frau, ist eine
der, wenn schon nicht originelleren, so doch substanzielleren Performances
bei den Berliner Tanztagen in den Sophiensælen, eine Uraufführung.
In diesem
Jahr stehen finden die Tanztage zum 17.Mal statt und stehen unter neuer Leitung.
Das tänzerische Niveau dieser
jährlichen Schau der Berliner Off- und Halb-Off-Szene ist manchmal von
ergreifender Bescheidenheit.
Etwa auch in der gleich folgenden Performance des amerikanischen Tänzers
Frank Willens, der das Publikum mit tiefsinnig gemeinten
Hohlheiten über die Leere des heutigen Alltags belehren will, ebenfalls eine
Uraufführung. Die Ärmlichkeit tänzerischen Vermögens kaschiert er dadurch,
dass er das Publikum mit dem Rücken zu seinen Darbietungen sitzen und ihm
statt dessen ausrangierte Silberscheiben aushändigen lässt, um das Geschehen
im matten Rückspiegel zu betrachten. Zuvor sah man ihn draußen in der Kälte
auf der Kante eines Daches im Hof balancieren. Achtung Absturz.
Nicht ohne eine gewisse Komik im Rahmen der
Nachwuchs-Choreografen-Plattform ein Stück von und mit Hermann
Heisig „In this beautiful Countryside“. Die Landpartie des
Leipzigers erinnert ein bisschen an Tatis „Ferien des Monsieur Hulot“. Mit
staksigen Schritten wie ein Storch bewegt sich der hochgewachsene, hagere
Tänzer auf der Bühne, mit gleichsam Schmetterlings-Netz und quellenden Augen
die Natur erkundend, wobei Vögel zwitschern, Grillen zirpen. Oder als
Kontrastprogramm gibt es dazu auch eine Popshow von sechs jungen Tänzerinnen
und Tänzern, selbst erfunden, schlicht genannt „Das Stück“, präzise und
einfallsreich getanzt, die bei den Zuschauern nicht zufällig helle
Begeisterung auslöst.
Aber man begegnet da auch so redlichen wie spröden Material-Erkundungen etwa Gregory Stauffers „Holz Lesungen“, bei denen der Schweizer Tänzer zwei Bretter benutzt als Schrubber, Krücke, Ski und sich von einem Schlagzeuger begleiten lässt. Oder Bo Wiget verschafft einem in „Maßarbeit“ Déjà Vus vergangener Entdeckungen der Minimal- und Elektronischen Musik, die der Musiker Wiget in reichlich unbeholfene, witzig gemeinte tänzerische Bewegungen umzuformen sucht. Dazu darf auch noch ein siebenjähriges Mädchen Kreise ziehen. Die YouTube-Mode bricht sich auch auf Bühnen Bahn. Müssen wir dann eigentlich noch ins Theater?