Sehr neu noch fühle er sich in dieser Position. Aber es war
wundervoll. Und er fühle sich erregt. Ein
bisschen wie ein gewählter Papst, aber nicht
verpflichtet zum Zölibat - obwohl, das
Kleingedruckte habe er noch nicht so genau
gelesen. Er müsse nun überhaupt erst mal
genauer studieren, was dieses Orchester sei als
seine künftige "musikalische Familie",
wie's steht mit diesem Haus, mit dieser Stadt.
Und man könne sich vorstellen, wie glücklich er
in seinem Innersten sei, nun für Jahre mit
diesem Orchester zu arbeiten. Das Konzert habe
ihm wieder bewusst gemacht, welch
außerordentliches Ensemble von Musikern dies
sei. Man könne einfach mit ihm abheben zum
Fliegen... Karajan habe ihm mal gesagt, du gibst
diesem Orchester etwas und sie geben es dir
vielfach zurück. Das ist was sehr sehr
Besonderes.
Sir Simon Rattle in seinem Einleitungsstatement bei der Pressekonferenz. Am Abend zuvor hatte er zum ersten Mal nach seiner Wahl im Juni zum Abbado-Nachfolger als Chef des Berliner Philharmonischen Orchesters sein künftiges Ensemble geleitet. Man merkte dem Konzert zwar an, dass die Mahlersche Zehnte - in der Fassung von Deryck Cooke und Berthold Goldschmidt - nicht zum täglichen philharmonischen Brot gehört. Dennoch Rattle schwärmte, auch auf meine Frage, was denn seine Meinung geändert habe, nachdem er doch früher eher kritisch über das Berliner Spitzenorchester sich geäußert hatte.
Natürlich gebe es immer Meinungsverschiedenheiten unter Musikern. Und es wird sie weiter geben, sagt er. Aber er liebe dieses Orchester. Und die Möglichkeiten, mit diesem Orchester zu arbeiten sind unbegrenzt. Es gibt kein Orchester in der Welt, das alles spielen kann wie dieses, das diese schiere Fähigkeit hat. Und nicht nur die Stars vorn. Was sollte man also ändern? Aber Musik ohne Konflikte, meinte der leidenschaftliche auch Hobby-Koch, das wäre wie ein Essen ohne Paprika.
Rattle's Sprache ist so bilderreich, wie sein Musizieren farbkräftig und nuanciert. Als ob er mit Plutonium umgehe, meinte er, fühle er sich, anspielend auf die drei Jahre Wartezeit bis zum Amtsantritt September 2002. Die mit den Wienern bis dahin besprochenen Projekte wolle er alle durchführen. Aber die Philharmonie, ehemals hart an der Mauer, nun im neuen Zentrum Berlins, müsse wieder zum kulturellen Zentrum werden, von dem Licht ausstrahlt. Neue Akzente wolle er setzen im Programm, sowohl bei der Vorklassik wie der Moderne. Nicht mehr von "neuer Musik" sollte man künftig reden sondern nur noch von guter Musik. Auch ein Rameau oder Gesualdo sind für ihn neuartig. Es dürfe unterm Aspekt "Weltmusik" keine Ghettos geben. Anderseits dürfe man auch nicht erwarten, dass in Zukunft noch die jungen Leute zu den Konzerten einfach so kommen, man müsse auf sie zugehen. Die Zeiten ändern sich. Oder es gebe kein Überleben.
Er war der fünfte Chefdirigent des Berliner Philharmonischen Orchesters. 1989 gewählt im Wende-Oktober und gleich vor eine Situation gestellt, dass die Philharmonie geschlossen werden musste, weil Putz von der Decke bröckelte. Wie ein Wanderer immer wieder neue Wege suchend, hat er sich fürs Berliner Finale etwas ganz besonderes einfallen lassen: Er hat Musik von Schostakowitsch in den Konzertsaal geholt, die für ganz andere Gelegenheit gedacht war. Ein Programm der Abschiede, entwickelt zu einer Zeit, da nicht sicher war, ob er sie überhaupt selber noch erleben würde. Inzwischen aber hat er seine lebensbedrohende Magenkrankheit überwunden. Am ersten Abend wurde er schon bei Erscheinen demonstrativ gefeiert.
Sturm.
Ein äußerer: Wind und Regen peitschen durch eine Matsch- und Lehm-Wüste.
Ein innerer: Lear, von Goneril, seiner
ältesten Tochter verstoßen, irrt durch die Gegend mit dem Narren an
seiner Seite, dem Wahnsinn nah. Eine der packendsten Szenen aus dem Film von Grigori
Kosinzew, zu dem Dmitri Schostakowitsch die Musik
schrieb. 1970 ist ihr King Lear-Film entstanden. Beide griffen
zurück auf eine gemeinsame Erfahrung mit ihrer Arbeit am
Schauspiel 1940 in Leningrad, zu dem Schostakowitsch schon die Musik
schrieb. Düstere, archaische Szenen sind das mit einem Vorspiel, zu dem
man Karawanen von Bettlern durch steinige Landschaften ziehen sieht.
Die Erfahrung des Kriegs, der Vernichtung von Menschen, Behausungen,
Natur sind hier verwoben zu einer Menschheits-Tragödie – mit dem Narren
als einzigem, der hier nicht verrückt wird. Die Musik zu dem
Schwarz-Weiß-Film, live gespielt zu Szenen, die über vier große
Leinwände in die Philharmonie projiziert werden, bilden den Schluss des
Konzertprogramms, mit dem Claudio Abbado nach zwölf Jahren vom Amt des
Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker sich verabschiedet. Mahler,
die Rückert-Lieder mit dem programmatischen „Ich bin der Welt abhanden
gekommen“, und Brahms, das Schicksalslied, ergänzen dies Programm
in seiner für den fast 69jährigen typischen Mischung von Tradition und
Moderne.
Die Gedanken schweifen zurück – zumal wenn man auch noch
etwas von den Zeiten seiner Mailänder Scala-Direktion erlebt hat, als er
gegen den erbitterten Protest der Abonnenten und gegen streikende
Angestellte die Uraufführung von Luigi Nonos Politoper
Al gran sole carico d’amore durchsetzte mit Juri Ljubimow
als Regisseur, den Moskau nicht reisen lassen wollte. Und nicht viel
weniger stürmisch waren die Zeiten in Wien an der Staatsoper, als er
dort das Repertoire modernisieren, das Festival „Wien Modern“
durchsetzen wollte. Seine Wahl in Berlin im Oktober des Wendejahrs 1989,
auch sie war nicht gerade unumstritten. Ein großer Teil des Orchesters
tendierte damals schon zu Simon Rattle,
seinem jetzigen Nachfolger. Abbado selber war überrascht von der Wahl,
orientierte sich eher auf eine mögliche Nachfolge in New York oder
Chicago. Das Argument des Orchesters damals – nun der eigentliche
Triumph seiner Berliner Amtszeit: seine Liebe zu den von ihm gegründeten
Jugendorchestern, zuerst dem der europäischen Gemeinschaft, dann dem
auch osteuropäische Musiker einbeziehenden
Gustav-Mahler-Jugendorchester. Berlins Philharmoniker brauchten dringend
eine Verjüngung des Ensembles wie auch des Repertoires.
Mit Luigi Nono, Wolfgang Rihm,
György Kurtág verband Abbado eine
lange auch persönliche Freundschaft. Werke von ihnen streute er immer
wieder ins Programm, auch wenn’s das Publikum nicht gerade begeisterte.
Die von ihm eingeführten Programmschwerpunkte, wie Faust,
Hölderlin, Antike erlaubten Ausflüge auch in entlegene
Programm-Regionen, sollten zugleich die Berliner Kultur-Institutionen
stärker vernetzen, was indes kaum gelang. Und auch thematisch erschöpfte
sich die Zyklen-Bildung. Sir Simon will die denn zunächst auch nicht
weiter führen. Er setzt auf mehr auf programmliche Buntheit.
Noch energischer will er die Erneuerung des Repertoires
betreiben, das Orchester, wie es das selber sich wünscht,
„herausfordern“ zu „dem des 21.Jahrhunderts“. Und Abbado war es ja, der
das Orchester zu einem so homogenen Klangkörper formte mit solcher
Transparenz und Durchlässigkeit, dass es heute „alles“ spielen kann, auf
allerhöchstem Niveau von Bachs Matthäuspassion bis zum
Parsifal, den Abbado jetzt zum ersten Mal überhaupt dirigierte. Als
„Entdeckungsreise“ hat er immer seine Arbeit begriffen.
Abbados drei letzte Konzerte in Berlin jetzt sollen nicht
die letzten sein. Im Januar 2004 etwa – nach einem Berlin Sabbat Jahr –
will er ans Philharmoniker-Pult gastweise zurückkehren. Sein letztes
offizielles Konzert gibt er ohnehin nicht in
Berlin, sondern in Wien im Mai. Mahler steht da auf dem Programm – Musik
des Komponisten, die in der Vor-Abbado-Ära dem Orchester eher
vorenthalten wurde und den mehr zu spielen das
Orchester dringend wünschte. Mahlers Siebente dirigiert Abbado zum Ende
seiner Berliner Chefzeit im Wiener Musikverein. Mit Mahler wird auch
sein Nachfolger im September in Berlin antreten. Sir Simon dirigiert
dann Mahlers Fünfte gekoppelt mit einem zeitgenössischen Stück des von
ihm besonders geschätzten Thomas Adès
Am 20.Jan. 2014 ist Claudio Abbado 80-jährig in Bologna gestorben. Im vergangenen Jahr war er noch zum Ehren-Senator in Rom ernannt worden. Das Geld stiftete er den von ihm gegründeten Musikeinrichtungen. Musiker wollte er, die selbstbestimmt aus Leidenschaft musizieren, die aufeinander hören - wie es auch sein Freund Luigi Nono erstrebte. Nicht der Musikdiktator alter Schule wollte er sein - und war er nicht. Wenn er zu starken Widerstand spürte, ging er: in Mailand, in Wien. Die Berliner Philharmoniker, denen er ein neues, offenes Klangbild eröffnete, musste er wegen der sich ankündigenden Krebskrankheit verlassen. Erst in den letzten zehn Jahren konnte er wieder beginnen öffentlich aufzutreten. Mit immer neuen Orchestergründungen machte er da von sich reden. Das wichtigste war ihm das Luzerner Festival-Orchester, mit dem er nach Gusto arbeiten konnte. Er wird in der internationalen Musiklandschaft sehr fehlen. > hier eine internationale Sammlung von Nachrufen als PDF-Download
DIE ZEIT: Sir Simon, die ganze Musikwelt interessiert sich dafür, wenn Sie am 7. September zum ersten Mal als Chefridirgent am Pult der Berliner Philharmoniker stehen. Als würden Sie sich anschicken, nun von Berlin aus die klassische Musik komplett aus den Angeln zu heben. Wie ist diese hochgekitzelte Erwartungshaltung zu erklären?
Simon Rattle: Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass die Erwartungen so hoch sind, dass wir zwangsweise dahinter zurückbleiben müssen. Die Dinge müssen sich langsam und organisch entwickeln. Ich liebe die chinesische Küche, bei der man alle Zutaten in einen Wok schmeißt und das Essen dann ganz schnell gar hat. Aber das andere Extrem ist noch wichtiger: die Geduld aufzubringen, ein Gericht in einem Ofen unter der Erde 24 Stunden sehr langsam garen zu lassen. Der Dirigent Carlo Maria Giulini, den ich sehr bewundere, hat zu mir einmal gesagt: "Simon, hurry slowly."
ZEIT: Die Programme Ihrer ersten Spielzeit zeigen, dass Sie sehr darauf bedacht sind, von allem etwas zu bieten: einen kleinen Schwerpunkt bei französischer Musik, einen bei Haydn, ein bisschen zeitgenössische Musik, zwischendurch bewährte Repertoire-Nummern wie Mahlers Fünfte oder Schuberts große C-Dur-Symphonie. Große Wagnisse sind da noch nicht zu erkennen, warum nicht?
Rattle: Wir müssen zwei sehr unterschiedliche
Herausforderungen zusammenbringen. Die eine ist, aufsehenerregende
neue Sachen zu machen, die andere ist, den gewachsenen
Orchesterklang in allen Repertoirebereichen zu pflegen. Zu meiner
Aufgabe in Berlin gehört, was Karajan "den Garten wässern" genannt
hat. Nichts darf vertrocknen, wir müssen alles bewahren. Deshalb
werde ich vor allem in den ersten drei Jahren gut ausbalancierte
Programme machen. Dann können wir auch mehr zeitgenössische Musik
spielen, Kompositionsaufträge erteilen oder uns verstärkt der bei
den Symphonieorchestern so brachliegenden Barockmusik zuwenden.
Mein Vorgänger Claudio Abbado hat auf wunderbare Weise für den
Moment des Konzerts gelebt und gearbeitet. Darin ist er einzigartig.
Das Orchester ist dadurch viel flexibler geworden, als es noch vor
20 Jahren war. Aber es gibt trotzdem noch eine Menge Aufbauarbeit zu
leisten, sogar in einem so hervorragenden Orchester. Wir brauchen
mehr Sicherheit in stilistischen Fragen, wir müssen technische Dinge
verbessern: Wie funktionieren wir als Gruppe? Wie, ganz genau,
sollen wir ein Pizzicato spielen? Wir müssen wieder mehr Musik aus
der Wiener Klassik spielen - Haydn, Mozart und Beethoven mit den
Erfahrungen der historisch informierten Aufführungspraxis. Wir
müssen uns den vermeintlichen Randfiguren des Repertoires zuwenden,
skandinavische und französische Komponisten entdecken. Das Orchester
braucht solche neuen Erfahrungen. Ich kann diesem wunderbaren Auto
nicht einfach nur eine neue Lackierung geben. Man muss auch am Motor
arbeiten, und deshalb werden wir stilistisch weit auseinander
liegende Dinge angehen.
ZEIT: Der neue Mechaniker aus England will der deutschen Luxuslimousine einen neuen Motor einbauen?
Rattle: Nein. Die Berliner Philharmoniker sind mit ihrem Klang, der von ganz tief unten heraufkommt, ein erkennbar deutsches Orchester. Sie können aus ihnen kein kühl kalkulierendes Ensemble machen. Was Esa-Pekka Salonen mit dem Los Angeles Philharmonic geschafft hat, einen perfektionistischen, hoch effizient reagierenden Organismus zu kreieren, würde bei den Berlinern nicht funktionieren. Die Musiker müssen alles tief empfinden, um gut zu sein. Die Phrasierungen, der Klang, die Artikulation müssen ein Stück von ihnen selbst sein. Ich hätte nicht gedacht, dass in dem Orchester - ganz im Gegensatz zu den Klischeevorstellungen von deutscher Behäbigkeit - ein so leidenschaftliches, geradezu südländisches Temperament vorherrscht. Die Musiker sind bereit, bei nahezu allem und jedem aus der Fassung zu geraten. Ich glaube, der Satz, den ich bisher am meisten verwendet habe, heißt: Wir sollten jetzt wieder ein bisschen runterkommen und uns beruhigen. In anderen Orchestern finden Sie vielleicht fünf oder sechs starke, unverwechselbare Charaktere - Typen vom Schlag eines John Malkovich. Aber bei den Berlinern sind alle so! Da ist jeder auf seine Art ein John Malkovich.
ZEIT: In traditionsreichen Orchestern wird gern von der Vergangenheit geschwärmt. Viele Musiker glauben fest daran, dass etwas vom Geist der großen, alten, ja meist schon lange toten Dirigenten in ihnen weiterlebt. Ist das nur Legendenbildung, oder können Sie das wirklich hören, wenn Sie ans Pult treten?
Rattle: Das erste berühmte Orchester, mit dem ich als
junger Dirigent arbeiten durfte, war das Philharmonia Orchestra
London, das von Otto Klemperer sehr stark geprägt worden war. Es gab
nur wenige Musiker, die noch unter ihm gespielt hatten. Aber
manchmal - das konnte einen regelrecht umhauen - hatte man den
Eindruck, der alte Mann steht immer noch im Hintergrund und formt
den Klang, inbesondere bei Beethoven. Das war sehr ergreifend, und
es war übrigens auch eindrucksvoll zu beobachten, wie sich die
Musiker umstellen konnten, die von einem in ein anderes Orchester
wechselten. Ich erinnere mich an einen Geiger, der vom London
Philharmonic Orchestra immer mal herüberkam aus der ganz anderen
Tradition von Adrian Boult und Georg Solti, und plötzlich eine
erstaunliche Wandlung mitmachte, wenn er im Philharmonia saß. Ich
bin sicher, er hat das gar nicht gemerkt. Es gibt Dinge, die
Orchester weitergeben, ohne es zu wissen. Sie bewahren sie durch ihr
großes Ethos. Manchmal muss ich sogar darüber lachen. Als das
Philharmonia neue Stühle mit einer schönen, bequemen Rückenlehne
bekam, gab es Streicher, die sich darüber empörten. Die wollten das
nicht, die empfanden das als einen Anschlag auf ihre musikalische
Ehre: eine bequeme Rückenlehne! Das ist nicht, was wir brauchen!
Ich weiß nicht genau, welcher Dirigent es war, der gesagt hat,
vor dem Orchester eines anderen Dirigenten zu stehen, sei, wie mit
dessen Frau zu schlafen. Man lerne genauso viel über ihn wie über
die Frau.
ZEIT: Und wie ist das bei den Berliner Philharmonikern? Steht da heute auch noch Herbert von Karajan als steinerner Gast hinter Ihnen?
Rattle: Es ist ein großes Verdienst von Claudio Abbado, dass er Karajan vergessen gemacht hat. Obwohl er der Letzte wäre, der das bewusst versucht hätte. Claudio hat mit einem verjüngten Orchester eine völlig neue Atmosphäre geschaffen. Aber natürlich ist manches aus Karajans Zeit ganz tief bei den Musikern verankert. Ihm ist es gelungen, einem großen Symphonieorchester den Charakter eines Kammermusikensembles zu verleihen. Die Intensität des Augenkontakts unter den Musikern - das finden Sie so nirgendwo anders. Man kann den gemeinsamen Atem geradezu physisch spüren. Die Vorstellung vom ganz langen Atem, die im Orchester existiert, stammt schon aus Furtwänglers Zeiten. Altgediente Philharmoniker haben mir zum Beispiel erzählt, wie Furtwängler an manchen entscheidenden Stellen die Noten bewusst früh anzusetzen pflegte, weil er der Meinung war, dass das, was man wirklich mit Nachdruck herausarbeiten möchte, nicht verzögert erklingen darf. Karajan wiederum wollte den Musikern das immer austreiben. "Aber Simon", so haben die Musiker grinsend zu mir gesagt, "am Abend im Konzert haben wir es dann doch wieder früher genommen." Ist das nicht ein wunderbares Beispiel dafür, wie sich musikalische Dinge im Orchester hartnäckig halten? Überlegen Sie, wie lange Furtwängler schon tot ist!
ZEIT: Sie sprechen sehr positiv über Karajan. Ist er nicht für Ihre Generation die große Antifigur, von der man sich absetzen musste, die es zu überwinden galt?
Rattle: Nein, ist er nicht. Seine Zeit ist in vieler Hinsicht vorüber, auch ästhetisch. Dass der Dirigent als ein autokratischer Herrscher auftritt, das ist vorbei, das musste überwunden werden. Andererseits glaube ich, dass Karajan nach innen, als Musiker, ein anderes Bild abgab als nach außen. Was seine Bruckner- und Wagner-Interpretationen angeht, gehört er für mich zu den ganz großen Meistern. Oder nehmen Sie Richard Strauss von ihm, manche Sachen aus dem italienischen Opernrepertoire - dieser außerordentliche Puls, diese Farben, die Geduld, die erfüllte Dramatik! Es gibt natürlich auch Sachen, die mir ganz fremd sind. Sein Hang zum Gleichmacherischen zum Beispiel, sein Hang, einen Klang für alles herzunehmen. Mahlers Musik war tot unter seinen Händen. Fatal auch, dass er sein Klangideal auf alle Orchester gleichermaßen angewendet hat, sodass die Leute das Gefühl bekamen, ausschließlich so könne ein großes Orchester klingen. Ich bin da ganz anders, ich glaube an stilistische Vielfalt. Es gibt in der Musik nicht nur einen Weg.
ZEIT: Ist Karajan nicht auch die Symbolfigur für die Kommerzialisierung der klassischen Musik, für abgehobenes Jet-Set-Startum und ausgeprägtes Machtbewusstsein?
Rattle: Man muss das nicht gut finden, aber ich kann ihn dafür auch nicht schuldig sprechen. Sind das nicht alles Ausprägungen einer ganz bestimmten Zeit, die sich inzwischen von selbst erledigt haben? Im Grunde genommen hat sich die moderne Schallplattenindustrie parallel zu Karajans Leben entwickelt: Sie ist mit ihm geboren und groß geworden und mit seinem Tod wieder untergegangen. Auch die Bedeutung von dirigentischer Machtausübung und allgegenwärtiger Präsenz - damit könnte man heute doch gar nicht mehr leben! Auf der anderen Seite war Karajan jemand, der sich wirklich, wenn man die letzten Jahre einmal vergisst, um sein Orchester gekümmert hat. Ich habe ihn nicht sehr oft getroffen, aber im Gespräch war er ohne Eitelkeit, sehr professionell. Nur einmal war ich dumm genug, ihm am Telefon zu erzählen, dass ich Mozart auf historischen Instrumenten dirigierte. Er sagte: "Ich weiß nicht, Mr. Rattle, in welchem Stil Sie Mozart spielen, ich weiß nur, dass ich Mozart im Mozart-Stil spiele." Und dann hat er den Hörer aufgelegt. Das war unser letztes Gespräch.
ZEIT: Sie beginnen Ihr erstes Konzert als Chef der Berliner Philharmoniker mit zeitgenössischer Musik. Sie haben Asyla, ein Stück des jungen englischen Komponisten Thomas Adés, aufs Programm gesetzt, warum?
Rattle: Ich wollte mit etwas Neuem beginnen, und Thomas Adés halte ich für einen der brillantesten unter den jüngeren Komponisten überhaupt. Er integriert die unterschiedlichsten musikalischen Stilrichtungen in seinem Komponieren, von Couperin bis zu Technomusik, und macht doch etwas ganz Eigenes daraus. Be ihm ist alles mit großer intellektueller Souveränität geschrieben, und trotzdem sind es Stücke, die das Publikum verführen. Ich hab Asyla schon in Birmingham dirigiert und dachte mir: So könnte man in Berlin beginnen.
ZEIT: Ist dieser Anfang auch eine programmatische Absichtserklärung? Ist der virtuose Eklektizismus, für den Adés einsteht, die Art von zeitgenössischer Musik, die Sie in Berlin fördern wollen?
Rattle: Es ist ein Stil von vielen, die ich fördern will. Mein Musikgeschmack ist sehr promiskuitiv. Mir fällt auf, dass das Wort Eklektizismus vor allem in Deutschland einen abwertenden, negativen Beigeschmack hat. Man kann Eklektizismus auch als etwas Positives verstehen, als einen Begriff, der für Offenheit, Durchlässigkeit, Genuss steht.
ZEIT: Sehen Sie darin die Zukunft der zeitgenössischen Musik?
Rattle: Für mich gibt es keinen Zweifel daran, dass die
Komponisten sich mehr und mehr mit den unterschiedlichsten
Musikstilen auch jenseits der abendländischen Kunstmusiktradition
befassen werden. In der älteren Generation hat sich dieser Wandel
bereits angekündigt, bei György Ligeti zum Beispiel. Alles, was er
im Laufe seines Lebens komponiert hat, ist meisterhaft. Aber die
Solokonzerte, das Violin- und das Klavierkonzert, stehen für mich
noch darüber. Die Stücke beziehen sich gleichermaßen auf Bach wie
auf nordafrikanische Musik. Sie verarbeiten außereuropäische
Polyrhythmik, nichttemperierte Stimmungssysteme, asymmetrische
Periodik. Ich bin ein großer Fan von Jean Tinguely. Ich liebe
Maschinen, die nicht richtig funktionieren. Es gibt in seinen
Kunstwerken, wie bei Ligeti, wunderbare, auf komplexe Weise hohl
drehende Verzahnungen.
Aber den geweiteten Blick findet man ja nicht nur bei Ligeti. Die
ganze Bewegung, die man unter dem Begriff "Weltmusik" zusammenfasst,
steht dafür. Ich bin mir sicher, dass andere Musikkulturen, die
stärker in unser Bewusstsein dringen, auch in der zeitgenössischen
Musik reflektiert werden. Die Musik, die jetzt durch meine Tür
kommt, ist vielleicht weniger der Moderne verpflichtet, dafür aber
attraktiver. Demgegenüber gibt es eine Schule mitteleuropäischer
Avantgardekomponisten, die alle sehr ähnlich komponieren. Das finde
ich, ehrlich gesagt, ein bisschen alarmierend. Ihre Ästhetik ist
sehr speziell, und sie wird nicht überall auf der Welt geschätzt,
obwohl sie einige außerordentliche Stücke hervorgebracht hat. Es ist
eine hoch entwickelte Ästhetik, keine Frage, aber eben nur eine. Und
ich glaube absolut nicht an Avantgardemanifeste, die nur einen
allein selig machenden Weg propagieren, wie zeitgenössische Musik zu
sein hat. Ich warte auf junge Talente, wie den Deutschen Matthias
Pintscher, die aus diesem engen Zirkel ausbrechen. Wir befinden uns
in einer großen Umbruchphase, und ich bin sehr gespannt, wohin das
gehen wird.
ZEIT: Richtet sich Ihre Kritik gegen die Tradition der musikalischen Nachkriegsavantgarde, die man unter dem Schlagwort "Darmstädter Schule" zusammenfasst, die Serialisten, Postserialisten, die auf Material und komplexe Strukturen fixierten Komponisten und alles, was sich an Verästelungen bis heute aus dieser Richtung entwickelt hat?
Rattle: Ich habe nichts gegen die Nachkriegsavantgarde und ihre Ästhetik. Aber man muss ein Genie sein, um in diesem Stil große Musik hervorzubringen. Karlheinz Stockhausens Gruppen zum Beispiel ist ein geniales Stück. Man muss so gut sein wie Stockhausen in den Gruppen, damit diese Art von Musik funktioniert und lebt.
ZEIT: Hat diese ganze Avantgardebewegung in eine Sackgasse geführt?
Rattle: Es war nicht die einzige Form von Musik, die man hätte schreiben können. Aber eine Sackgasse war sie nicht. Ich weiß nur nicht, wie lange sich dieser Stil noch erneuern kann. Das gilt ja für jeden Stil in jeder Kunstgattung. Was im 21. Jahrhundert sein wird, ist nicht abzusehen.
ZEIT: Anton Webern träumte davon, dass seine komplizierte Zwölftonmusik irgendwann einmal so einfach erscheint, dass sie von Kindern gesungen wird. Wird dieser Wunsch jemals in Erfüllung gehen?
Rattle: Vielleicht hätte es geklappt, wenn es möglich gewesen wäre, keine andere Musik zu hören. Musik ist eine Sache des Gedächtnisses. Wir suchen immer nach etwas, was wir schon kennen. Man kann den tonalen Strukturen nicht entkommen, selbst wenn man will.
ZEIT: Mancherorts macht sich in den Künsten eine grundsätzliche antimoderne Stimmung breit. Parallel zu den gescheiterten großen politischen Utopien des 20. Jahrhunderts wird auch infrage gestellt, was die Künste in dieser Zeit hervorgebracht haben. Viele würden am liebsten wieder in der Vormoderne ansetzen und das 20. Jahrhundert vergessen.
Rattle: Ich hoffe doch sehr, dass Sie nicht glauben, ich sei das musikalische Äquivalent zu Prinz Charles und seinen Vorstellungen von Kunst
ZEIT: Nein.
Rattle: In der Musik werden die Dinge gern ein bisschen zu eng definiert oder Entwicklungen gegeneinander ausgespielt. Um ein Beispiel aus der Architektur zu bringen: Kein Architekt - und ich glaube auch kein Architekturkritiker - würde sagen: Wenn du Mies van der Rohe magst, kannst du nicht Frank Gehry toll finden. Aber in der Musikszene gibt es tendenziell so ein Denken, und das macht mich manchmal ein bisschen wahnsinnig. Man darf nicht den Fehler machen, die Musikgeschichte zu begradigen und sie auf wenige gültige Entwicklungslinien zu reduzieren.
ZEIT: Eine ganz eigene Entwicklungslinie bilden die englischen Komponisten wie Benjamin Britten oder Michael Tippett, die sich auf alte Musik von Purcell oder John Dowland bezogen haben zu einer Zeit, in der sie von den Darmstädter Avantgardisten dafür wahrscheinlich nur belächelt wurden. Wie sehr sind Sie von dieser, stilistisch eher offenen Komponiertradition geprägt?
Rattle: Damit bin ich aufgewachsen, wie könnte es anders sein. Jedes Land hat bis heute seine Präferenzen in der Musik, das sind einfach Mentalitäts- und Temperamentsfragen. Wenn man zum Beispiel in den siebziger Jahren in Finnland gastiert hat, konnte man dort keinen Bruckner und Mahler bringen. Das wollte keiner hören. Genauso wie man in Deutschland schnell ausgelacht wird, wenn man mit William Walton und Ralph Vaughn-Williams im Programm ankommt.
ZEIT: Werden Sie in Berlin nun auch die Auseinandersetzung mit deutschen Komponiertraditionen suchen? Soweit ich weiß, haben die Berliner Philharmoniker noch nie ein Werk von Helmut Lachenmann aufgeführt, einem der wichtigsten lebenden deutschen Komponisten.
Rattle: Er ist eine herausragende Figur, es gibt wirkliche Meisterwerke von ihm, aber er ist ein Komponist, für den man sich sehr viel Zeit nehmen muss. Was er schreibt, ist so weit entfernt vom traditionellen Orchesterklang - die spezifischen Spieltechniken, die er verlangt, die ganzen Geräuschklänge -, für solche Partituren müssen wir erst noch Erfahrung sammeln.
ZEIT: Nach welchen Kriterien soll man die heute komponierte Musik überhaupt beurteilen? In den sechziger Jahren konnte man noch mit Adorno nach dem fortschrittlichsten Stand des Materials fragen. Solche scheinbar objektiven Qualitätskriterien sind uns inzwischen völlig abhanden gekommen. Was bleibt also?
Rattle: Es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass das Genussprinzip ein Teil davon ist. Die reine Schönheit und Verführungskraft des Klangs zum Beispiel. Es gab eine Generation, die fand das störend. Aber Kunst kann nie nur ein intellektuelles Konstrukt sein. Ich habe eine große Vorliebe für Schönheit. Natürlich fesselt mich auch die Struktur einer Komposition, aber das Entscheidende ist einfach: Schönheit. Und die entdecke ich in ganz unterschiedlichen Ausprägungen. Ich kann gleichzeitig Francis Poulenc und Pierre Boulez gut finden. Ich habe Werke der beiden, die scheinbar so weit auseinander liegen, einmal in einem Konzert kombiniert, und Pierre hat mir hinterher einen langen Brief geschrieben, warum er das Konzert so spannend fand. Dem ausführenden Künstler muss solche Subjektivität gestattet sein. Was ist gute Musik? Bei dieser Frage ist es, als ob man Quecksilber auf der Hand hält - die Antworten ändern andauernd ihre Gestalt.
ZEIT: Und im anything goes des Postmodernismus ist im Zweifelsfall alles gleich gut.
Rattle: Das ist zum Beispiel das Problem bei der Brit-Art, bei Künstlern wie Damien Hirst, Tracy Emin und all den anderen. Ich glaube, dass eine ganze Menge von dieser englischen, sehr biografisch ausgerichteten Kunst bullshit ist, aber ich würde den Künstlern trotzdem nie das Recht absprechen, die Nischen zu erkunden, die sie sich zu erkunden ausgesucht haben.
ZEIT: Bei manchen jungen Komponisten wächst wieder die Sehnsucht nach einer neuen Verbindlichkeit des zeitgenössischen Komponierens.
Rattle: Wenn sie wieder hin zu dem Punkt wollen, an dem es heißt: Das ist richtig, und das ist falsch, haben sie ein verkehrtes Verständnis von dem, was Kunst ist. Jeder muss seinem Herzen folgen.
ZEIT: In der musikalischen Moderne wurde das Voraussein des Künstlers vor seiner Zeit als Indiz für Qualität gewertet, was die Konzerte mit Neuer Musik irgendwie geadelt hat, die vor nahezu leeren Stuhlreihen stattfanden.
Rattle: Das sind die masochistischen Tendenzen in der Avantgarde. Aber man muss Verständnis dafür haben. Es gibt leider Zeiten, in denen das Publikum ganz weit zurück ist.
ZEIT: Haben Sie das Gefühl, dass die Kluft zwischen den Komponisten und dem Publikum in den vergangenen 30 Jahren entscheidend geringer geworden ist?
Rattle: Das Publikum ist abenteuerlustiger und anspruchsvoller, als man denkt. Es ist doch bezeichnend, dass der populistische Millennium Dome, den man in London gebaut hat, ein Desaster wurde, weil niemand hingeht, während die Tate Modern immer voll ist. Man muss die schwierigen Stücke immer wieder aufführen, damit sie selbstverständlicher werden im Spielen und im Hören. Wenn wir sie besser spielen und besser verstehen, versteht sie auch das Publikum besser. Für Orchester ist es sehr wichtig, direkten Kontakt zu Komponisten zu pflegen, zu merken, dass das auch Menschen sind, die leben und atmen, die ihre Meinung ändern, die tolle und schreckliche Ideen haben. Das hilft ungemein.
ZEIT: Kann man das für das Publikum fruchtbar machen?
Rattle: Wir haben da für Berlin verschiedene Ideen. Eine zum Beispiel ist, dass wir Kompositionen von vielen Leuten aus dem Publikum in Auftrag geben lassen. Sie geben das Geld und sind dann direkt involviert in den Entstehungsprozess, können zum Beispiel dabei sein, wenn die Partitur zum allerersten Mal in einer Probe zu Klang wird.
ZEIT: Sie wollen die Teilhabe des Publikums an den Aktivitäten der Berliner Philharmoniker stärken?
Rattle: Genau. Dazu soll auch unser groß angelegtes Education-Projekt beitragen. In Berlin herrscht Dienstleistungsmentalität. Davon müssen wir dringend weg. Wir dürfen nicht hinter dem Schalter sitzen bleiben und warten, dass die Leute kommen. Wir müssen rausgehen und uns ein neues Publikum suchen. Es ist übrigens interessant, wenn Sie in die Zeit zurückschauen, als Furtwängler die Philharmoniker leitete. Da gab es in den Programmen sehr viele Ur- und Erstaufführungen. Die Formulierung "Zum ersten Mal" findet man andauernd in den Programmen.
ZEIT: Haben Sie die alten Programme studiert?
Rattle: Natürlich habe ich das getan. Es ist sehr spannend, nachzulesen, wie viel und was Furtwängler alles gemacht hat. In einer Saison tauchen da die Erstaufführungen der Schönberg-Variationen, von Strawinskys Sacre du printemps und vielen weiteren spannenden Sachen auf.
ZEIT: Und Sie haben sich ins Archiv gesetzt und das alles durchgestöbert?
Rattle: Na klar! Das hat mich schon immer interessiert. Ich liebe es, die Programme von anderen zu lesen. Da bin ich richtig versessen drauf. Zum Beispiel die Programme von Gustav Mahler in seiner letzten Saison in New York zu studieren und zu erfahren, dass er Images von Debussy, Rachmaninows Drittes Klavierkonzert mit Rachmaninow am Klavier und Elgar dirigiert hat, dass er wahrscheinlich sogar Partituren von Charles Ives hatte.
ZEIT: Sie haben vorhin im Zusammenhang mit Karajan erwähnt, dass Sie Mozart auf alten Instrumenten gespielt haben. Wie stark hat die Bewegung der historischen Aufführungspraxis ihr Dirigieren geprägt?
Rattle: Am Anfang hatte ich mit dem Klang der Ensembles Probleme, entweder kam mir alles ein bisschen wie Pulcinella von Strawinsky vor, oder die Musik wurde wie eines dieser zerbrechlichen chinesischen Eier behandelt, die man nicht wagt anzufassen. In der Vorbereitung auf Mozarts Idomeneo bin ich dann auf die Aufnahme gestoßen, die Harnoncourt von der Oper gemacht hat. Das fand ich unglaublich. Er hat den Wald für ganz viele von uns gelichtet.
ZEIT: Der Triumphzug der historischen Aufführungspraxis ist ja auch eine dieser paradoxen Entwicklungen, die es in der Musik öfters gegeben hat: Die Suche nach einem imaginierten Alten hat etwas Neues hervorgebracht. Wie die Florentiner Camerata sich nach der Antike zurückgesehnt hat und dabei die neue Gattung Oper entstand, so ist es auch hier: Der imaginierte historische Klang ist in gewisser Weise zum dominierenden, signifikanten Orchesterklang der Moderne geworden. Empfinden Sie das auch so?
Rattle: Ich bin überzeugt davon, dass 90 Prozent der denkenden Musiker beeinflusst sind von dem, was die Alte-Musik-Bewegung hervorgebracht hat. Manche Mozart-Aufnahmen, mit denen ich aufgewachsen bin, kommen mir heute vor, als spreche da jemand, ohne die Grammatik der Sprache zu verstehen. Ich kann es nicht mehr anhören.
ZEIT: Lassen sich diese Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis auf ein Orchester wie die Berliner Philharmoniker anwenden, die ja wohl kaum mit Darmsaiten spielen werden?
Rattle: Das Entscheidende ist gar nicht, auf den Instrumenten der Zeit zu spielen, obwohl das hilft, sondern, wie Harnoncourt sagt, herauszufinden, was in den Noten gemeint ist, und sich nicht damit zufrieden zu geben, was es zu bedeuten scheint.
ZEIT: Die historische Aufführungspraxis hat erst in den sechziger Jahren richtig Kraft entwickelt. Hat nicht, gleichsam als ein typisches Nachkriegsphänomen, die Sehnsucht nach einer neuen Objektivität eine wichtige Rolle gespielt bei der Neugier auf alte Quellen?
Rattle: Objektivität - nein. Darüber wäre ich bereit, mit Ihnen heftig zu streiten.
ZEIT: Ich meine Objektivität nicht als künstlerisches Resultat, sondern die Sehnsucht danach als inneren Antrieb.
Rattle: Ich bin sicher, wenn wir eine Zeitreise in die Vergangenheit machen könnten, würden wir feststellen, dass die Musik komplett anders geklungen hat, als wir sie heute auf historischen Instrumenten spielen. Man kann nur den Versuch unternehmen. Und trotzdem hat die Bewegung der historischen Aufführungspraxis den Reichtum der Musiksprache neu entdeckt. Das war wie eine Offenbarung. Die metrische Flexibilität zum Beispiel ist wieder stärker geworden. Nachdem die Wiener Philharmoniker mich gefragt hatten, die Beethoven-Symphonien mit ihnen zu spielen, waren sie verblüfft. Sie wussten, dass ich in gewisser Weise von der historischen Aufführungspraxis herkam, aber was sie nicht erwartet hatten, war, mehr Rubato zu spielen, sich mehr Zeit zu nehmen. Ein Musiker sagte, wir haben den Eindruck, dass Sie uns zurück in frühere Zeiten führen, dabei dachten wir, Sie würden uns ganz neue Dinge erzählen. Ich bin mir allerdings nicht sicher gewesen, ob das als Kompliment gemeint war.
ZEIT: Die traditionellen Symphonieorchester haben bei Mozart, Beethoven, Haydn und dem ganzen vorklassischen Repertoire viel an Kompetenz gegenüber den hoch professionellen Spezialensembles verloren. Sie haben die interpretatorischen Standards in den letzten 20 Jahren gesetzt. War Ihre Johannes-Passion, die Sie im vergangenen Jahr mit den Berlinern gemacht haben, ein Versuch, den Symphonieorchestern dieses Repertoire wieder zurückzugewinnen?
Rattle: Unbedingt! Wir müssen uns wieder mehr mit Bach beschäftigen. Wie kann man Bruckner spielen, wenn man nicht auch Bach spielt! Seine Musik ist so stark Teil unserer Seele, Teil der Musiksprache, die wir selbstverständlich sprechen. Auch für mich selbst ist das eine große Herausforderung, weil Bach für mich eine Grenze war, die ich, seit ich Anfang 20 war, nicht mehr überschritten habe. Ich habe nie aufgehört, Bach zu hören und mich damit zu beschäftigen, aber zum Dirigieren fand ich ihn zu schwierig.
ZEIT: Sie haben nie zuvor die Passionen, die h-Moll-Messe und all die anderen Stücke dirigiert?
Rattle: Nein. Die Johannes-Passion war das erste
Mal. Als ich sehr früh einige Werke gemacht hatte, hatte ich das
Gefühl, bei Bach erst einmal lernen zu müssen, beim Dirigieren nicht
zu dirigieren und den Punkt zu erreichen, an dem die Musik sich von
einem löst. Bei meinen Aufführungen hörte ich immer den Dirigenten
und nicht Bach, im Gegensatz zu all den Aufnahmen von Harnoncourt
oder Ton Koopman oder Frans Brüggen, die ich spannend fand. Man muss
bei Bach einen neuen physischen Weg der Bewegung finden. Es war für
mich auch eine Frage des Mutes, den hatte ich nicht.
Vor ein paar Jahren, als ich eine alte Freundin von mir, die
Pianistin Katja Labèque, besuchte und wir zusammen Bach spielten,
ist in mir urplötzlich die Entscheidung gefallen: Jetzt reicht's!
Werde erwachsen! Du musst das jetzt machen! Und als ich nach England
zurückkam, habe ich mir als Erstes neue Partituren von Bach gekauft.
Einerseits frage ich mich, wie ich es so lange ausgehalten habe,
Bach nicht zu dirigieren, andererseits bin ich froh, es nicht
einfach nur irgendwie gemacht zu haben. Bach ist so schwer. Wie alt
muss man sein, um King Lear zu spielen? Den Hamlet
kannst du als Junger spielen, aber erst ab 40 kannst du überhaupt
darüber nachdenken, den Lear zu spielen. Warum soll das in
der Musik anders sein?
ZEIT: Gibt es andere Komponisten, die Sie noch nie angerührt haben?
Rattle: Es gibt Bereiche wie zum Beispiel die italienische Oper, an die ich noch nicht so richtig herangegangen bin. An Wagner taste ich mich langsam heran. Das kommt jetzt nach und nach.
ZEIT: Sie haben Parsifal gemacht und vor eineinhalb Jahren Ihren ersten Tristan in Amsterdam dirigiert. Geht man an Wagner anders heran, wenn man sich dezidiert mit den Erfahrungen der Moderne dem Stück nähert?
Rattle: Auf jeden Fall! Den Parsifal habe ich zum Beispiel unmittelbar nach Debussys später entstandener Oper Pelléas et Mélisande dirigiert. Man hört das Stück ganz anders. Tristan hingegen kommt für mich eher von Schubert her. Ich sage immer, es ist Schubert auf Anabolika. Diese Musik muss singen und muss von einem menschlichen Atem getragen werden. Man kann so viel Liedcharakter darin erkennen, Liedcharakter, der freilich aus den Nähten geplatzt ist. Man muss das Stück von der Stille aus denken und nicht vom Forte. Ich hasse Wagner mit Helm. Tristan zu dirigieren ist eine unglaubliche Erfahrung, man kann sich selbst abhanden kommen in dem Stück. Wenn man sich nur in dieser Welt bewegen würde, wäre das sehr gefährlich. Es ist eine Droge. Ich habe mitgekriegt, wie Claudio Abbado den Tristan mit den Berliner Philharmonikern gemacht hat, und ich würde die Behauptung wagen: Tristan hat ihn am Leben erhalten. Mit seiner Krankheit war er eigentlich gar nicht in der Lage, so ein Stück zu dirigieren, man musste Angst haben, dass ihn die Arbeit umbringt, aber sie hat ihn am Leben erhalten! Ich glaube, dass sieht er genauso. Es gab ihm die Kraft weiterzumachen.
ZEIT: Lassen Sie uns noch einmal auf Berlin zurückkommen. Wie nehmen Sie die Stadt wahr?
Rattle: Berlin ist eine Stadt im Umbruch. Je mehr ich über Berlin lese und mich mit der Geschichte der Stadt beschäftige, desto mehr stelle ich fest, dass sie das schon immer war. Vielleicht bleibt sie es auch immer. Mir ist das ganz nahe, Musiker sind auch immer im Umbruch.
ZEIT: Kann der Chef der Berliner Philharmoniker den Ton der Hauptstadt prägen?
Rattle: Doch, das glaube ich. In einem Land, in dem Kultur eine solche Glaubwürdigkeit genießt wie hier in Deutschland, kann man in dieser Position etwas bewirken. Allerdings: Wir können nicht mehr die Diva sein, die außerhalb steht. Einfach schon aus geografischen Gründen. Wir waren eine sehr glamouröse Diva an der Kante dieser Insel, jetzt sind wir mitten im Zentrum.
ZEIT: Aber die Berliner Philharmoniker stehen doch mehr denn je jenseits der Berliner Realitäten. Die Stadt ist nahezu bankrott, in vielen Kulturinstitutionen herrscht Existenzangst. Nur den Philharmonikern ist es gelungen, ihre Existenzgrundlage nachhaltig zu verbessern. Die Musiker verdienen mehr Geld, die neu gegründete Stiftungskonstruktion garantiert ihnen Unabhängigkeit wie nie zuvor - wenn das kein Divadasein ist, was ist es dann?
Rattle: Okay, wir sind sehr privilegiert. Aber wenn wir für diese Privilegien nichts zurückgeben und wenn wir keine guten Partner sind für die anderen Kunstinstitutionen in der Stadt, dann wird die Unterstützung auf Dauer nicht mehr weitergehen. In ein paar Jahren muss der Stiftungsvertrag erneuert werden. Für jeden, der aus England oder Amerika kommt, ist es offenkundig, dass es auf lange Sicht die staatlichen Subventionen, die bisher zur Verfügung standen, nicht mehr geben wird.
Wir haben da eine große Verantwortung über unsere eigenen Interessen hinaus, und der größte Fehler, den wir machen könnten, wäre, das Geld zu nehmen und uns aus dem Staub zu machen. Wir müssen eine Atmosphäre schaffen, in der sich jeder willkommen fühlt. Nicht nur das Publikum, auch die anderen Orchester der Stadt.
ZEIT: Wird es eine starke Rivalität unter den Berliner Dirigenten Thielemann, Barenboim, Nagano und Rattle geben?
Rattle: Ein bisschen Rivalität gehört dazu. Aber ich finde es toll, dass hier vollkommen unterschiedliche Dirigententypen in der Stadt sind. Zu Daniel Barenboim habe ich schon lange ein gutes Verhältnis. Ihn brauchen wir in Berlin. Was er aus der Staatskapelle gemacht hat, kann man nicht hoch genug einschätzen. Christian Thielemann ist eine unglaubliche Begabung, und ich finde es spannend, wie ernst er es meint mit dem deutschen Repertoire des 19. Jahrhunderts. Auch wenn ich mir immer sein Gesicht genau angucken muss, ob er nicht einen Schmiss an der Wange hat. Dann ist da noch Kent Nagano, der wiederum aus einer ganz anderen Ecke kommt, mit seiner engen Anbindung an die französische Tradition.
ZEIT: Woher nehmen Sie eigentlich den Optimismus, dass Berlin Ihnen folgen wird bei alldem, was Sie an Erneuerungen vorhaben?
Rattle: Berlin hat gar keine andere Chance, als sich zu ändern. Es liegt eine knisternde Spannung über der Stadt, wie es weitergehen wird. Das ist unheimlich animierend. Wir müssen neue Wege finden, um deutlich zu machen, warum es sich lohnt, ins Konzert zu gehen. Wo erfahren die Menschen heute noch die Stille? Es gibt diesen wunderbaren Satz von Leopold Mozart, den ich den Musikern immer und immer wieder sage: Jeder Ton beginnt mit der Stille und kehrt zur Stille zurück. Das brauchen wir. Gelegentlich hab ich das Privileg, in Kunstaussstellungen ganz allein zu sein, spät in der Nacht. Das ist eine unglaubliche Erfahrung, die Gemälde ziehen dich ganz in ihren Bann mit der Stille. Und in der Stille im Konzertsaal erfährt man seltsamerweise, dass man nicht allein ist. Darin liegt eine unbedingte Notwendigkeit für das, was wir tun.
Simon Rattle wurde von den Berliner Philharmonikern zum Nachfolger von Claudio Abbado gewählt und gibt am 7. September sein erstes Konzert als Chefdirigent. Er hat einen Zehnjahresvertrag unterschrieben. Rattle, 47, in Liverpool geboren, studierte Schlagzeug und Klavier und galt als musikalisches Wunderkind. Seine Dirigententätigkeit begann er in Bournemouth. Von 1980 bis 1998 leitete er das City of Birmingham Orchestra, das mit ihm zu einem europäischen Spitzenorchester wurde.
In den vergangenen Jahren war das immer wieder ein ergreifender Augenblick: wenn Günter Wand mit winzigen wackeligen Schritten durch das Orchester ans Dirigentenpult trat, geführt von einem Musiker, und, sobald er den Taktstab gehoben hatte, urplötzlich von seinem hohen Alter nichts mehr zu spüren war. Atemberaubend intensiv verwandelte er riesige Bruckner-Partituren in Klang. Späte musikalische Sternstunden eines Künstlers, dessen Biografie selbst etwas von einem Bruckner-Adagio hat. In lange, ruhige Bögen konzentrierter Arbeit war sein Leben gegliedert. In Wuppertal/Elberfeld wurde Wand 1912 geboren. Über 30 Jahre wirkte er in Köln, an der Oper und als Gürzenich-Kapellmeister, bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1974. Anschließend startete er eine beispiellose Alterskarriere - am Pult des NDR-Symphonieorchester und als weltweit gefeierter Gastdirigent. Nicht er habe eine Karriere verpasst, sondern der Musikbetrieb habe ihn verpasst, kommentierte er seinen späten Ruhm. Am vergangenen Donnerstag ist Wand, 90-jährig, in der Schweiz gestorben.
ZEIT: Mister Rattle, was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie vom Tod Günter Wands erfahren haben?
Rattle: Dass wir einen wie ihn nicht mehr erleben werden. Wand war einzigartig als Vertreter seiner Generation. Ich habe ihn bewundert, weil er so beharrlich an einem Ort geblieben ist und so hart gearbeitet hat. Er wusste, dass alle guten Dinge Zeit brauchen, darin fühle ich mich ihm sehr verbunden. Sein Bruckner war unglaublich. Ich habe es in Berlin erlebt, wie er immer und immer wieder darauf bestand, dass das keine romantische, schwelgerische Musik ist, sondern dass sie wirklich klassisch gedacht ist, dass sie Form braucht und Disziplin, Strenge in den rhythmischen und harmonischen Verläufen. Dafür hat er sich geradezu verzehrt, und das hat seine Aufführungen unverwechselbar gemacht. Sie offenbarten eine außergewöhnliche Kombination aus Disziplin und Freiheit. Und es gab nie, wirklich nie, einen Augenblick, in dem er nicht deutlich machte, dass die Musik wichtiger war als er. Das war eine Lektion für jeden, der ihn gehört hat.
ZEIT: Wann sind Sie Günter Wand zum ersten Mal begegnet?
Rattle: Zuerst habe ich ihn durch seine Schallplattenaufnahmen wahrgenommen. Später bin ich, sowohl in London als auch in Berlin, immer wieder in seine Proben geschlichen. Irgendwann hat er das mitbekommen und sich darüber gefreut. Wir haben dann auch miteinander gesprochen und uns ein paar mal getroffen. Eine Zeit lang hat er mit dem BBC-Symphonieorchester gearbeitet, weil das das einzige Orchester in London war, das ihm die Probenzeit eingeräumt hat, die er forderte. Für mich waren diese Probenbesuche faszinierend: Es gab immer einen Tag, an dem es zum großem Krach kam. Das brauchte Wand einfach, um voranzukommen. Wie John McEnroe im Tennis, nur vielleicht nicht ganz so extrem. Jeder sollte spüren, dass die Dinge, um die es ging, von allerhöchster Dringlichkeit waren. Und jedes Mal, wenn er in London war, gab es wieder diese Skandale. Aber am nächsten Tag lief alles besser, und die Arbeit wurde auf viel höherem Niveau fortgesetzt. Günter Wand war in keiner Hinsicht ein einfacher Mensch - das sage ich mit Bewunderung.
ZEIT: Was haben Sie von ihm gelernt?
Rattle: Er selbst meinte, dass ich am meisten von dem lernen könnte, was er körperlich machte. Aber es war genau andersherum, ich habe vor allem von dem gelernt, was sich in seinem Kopf abspielte. Der Genuss, ihn beim Dirigieren zu erleben, bestand darin, dass er jeden Musiker dazu gebracht hat, auf den anderen zu hören. Er hat nicht die rhythmische Einmütigkeit eingefordert wie Solti oder Toscanini, es war eher das Gegenteil. Aber im Gegensatz zu anderen Dirigenten hat er nie aufgehört, zu insistieren. Nichts ließ er durchgehen. Bis das, was er wollte, von den Musikern selbst kam, von innen heraus. Deshalb hat er so viel Probenzeit gebraucht. Das war schon sehr ungewöhnlich. Die Musiker haben unter ihm gelernt zu spielen, wie es die Ensembles für alte Musik auf historischen Instrumenten praktizieren - durch das Aufeinanderhören und durch Blicke. Und trotzdem war in seiner Darstellung immer alles ganz klar, auch bei Uraufführungen. Es wird ja gern vergessen, wie viel Neue Musik Wand dirigiert hat. Er war zum Beispiel befreundet mit Bernd Alois Zimmermann.
ZEIT: Wie war das Verhältnis zwischen Wand und den Berliner Philharmonikern, mit denen er ja in den letzten Jahren noch einmal maßgebliche CD-Aufnahmen veröffentlicht hat?
Rattle: Ich habe nur etwas von dieser letzten Phase der Zusammenarbeit mitbekommen. Das Orchester war vollkommen in seinem Bann. Sogar noch, als er jetzt zum letzten Mal da war und sich abzeichnete, dass sein Gehör schwächer wurde. Selbst da hat sich zwischen Dirigent und Musikern Außergewöhnliches ereignet. Und in den Begegnungen davor - ich glaube, er hätte einen ganzen Monat lang mit dem Orchester proben können, und es wäre ihm gefolgt. Die Aufnahmen, die dabei entstanden sind - Bruckner, die Vierte, die Neunte, die unglaubliche Schubert-Einspielung - gehören zu den besten, die das Orchester je gemacht hat, da sind wir uns alle einig. Wir sind sehr glücklich, ihn in Berlin gehabt zu haben in dieser großartigen Spätphase, im Indian summer seines Künstlerlebens.
ZEIT: Welche Stücke schätzen Sie am meisten in der Interpretation von Wand?
Rattle: Schubert und Bruckner. Nicht zuletzt weil Wand gezeigt hat, wie nahe die beiden sich sind. Aber ich bin auch mit diesen wunderbar feurigen, im besten Sinne unkomplizierten Brahms-Interpretationen aufgewachsen. Wenn es das geben kann, dass man durch strenge, harte Arbeit, durch Aufrichtigkeit und Unnachgiebigkeit zum Mystiker wird, dann hat Günter Wand es geschafft. So war er.
ZEIT: Wand war einer der letzten lebenden Vertreter des legendären Dirigentenjahrgangs 1912, zu dem Georg Solti, Sergiu Celibidache, Ferdinand Leitner, Erich Leinsdorf oder Kurt Sanderling gehören ...
Rattle: Ja, jetzt lebt nur noch Sanderling, den ich noch viel länger kenne als Wand. Gut, dass er noch da ist, auch wenn er nicht mehr dirigiert.
ZEIT: Gibt es etwas, was diese Generation gemeinsam hat?
Rattle: Es ist schwer, Wand und Sanderling zusammen zu denken. Sie sind so unterschiedliche Wege gegangen durch all diese großen Umwälzungen der Geschichte im vergangenen Jahrhundert. Beide haben gelitten. Sie haben sich das Recht verdient, die ganz großen Werke zu dirigieren. Meine Generation hat sich dieses Recht nicht verdient, aber wir geben unser Bestes.
ZEIT: Das klingt so, als seien diese alten Dirigenten für Sie übergroße, unerreichbare Figuren.
Rattle: Man kann von ihnen lernen. Von Sanderling habe ich gelernt, welche Kraft von bedingungsloser Offenheit und Ehrlichkeit ausgehen kann. Ich kenne keinen Dirigenten, der dem Orchester so unverblümt gesagt hat, was er denkt und fühlt. Von Wand habe ich gelernt, dass man nicht locker lassen darf, manchmal sogar über den Punkt hinaus, an dem es unbequem wird, an dem man zum Tier wird. Bei beiden gibt es eine Wahrheit und Integrität in der Musik, nach der wir alle suchen. Für mich waren die Begegnungen mit den beiden wie starke Vitamine. Aber am Ende muss natürlich jeder seinen eigenen Weg finden. Man kann niemanden imitieren. Wenn man das macht, ist man bei dem, was Bruno Walter "erinnerte Empfindung" genannt hat im Gegensatz zu wirklicher Empfindung. Ich bin sicher, dass die alte Generation genauso dachte. Ich weiß noch, als Sir Adrian Boult einmal zu mir sagte: "Sie hätten Arthur Nikisch erleben müssen. Das war unglaublich!" So geht das in jeder Generation. Ein alter Freund von mir, der Komponist Toru Takemitsu, der ebenfalls nicht mehr lebt, hat einmal zu mir gesagt: "Oh, Simon, was wären wir ohne die großen alten Männer!"
At least Simon Rattle seems sure why he was elected to be artistic
director of the Berlin Philharmonic Orchestra. As he said recently, it
expects to find out from him "what a 21st-century orchestra is like". Last
year he told Die Zeit that this was something they would find out together,
but now, it seems, he knows the answer: "Something that can provide the
spiritual things that people need more than ever."
Whether this will strike one as reassuring will perhaps depend on temperament,
but there is no doubt that Rattle is in so many ways the perfect orchestral
director for the present day. He is youthful, engaging, often articulate,
always keen to proselytise, imaginative in thinking up ways to involve an
orchestra in the community, and determined to widen the audience for
classical music. In an age that demands that high culture make itself
accessible, he presents a practical ideal for politicians and musicians alike.
His ambitions reach well beyond the musical health of the orchestra. As he
said last year: "A lot of our work is as much urban regeneration as anything
else." One of his projects during his first year in Berlin was to stage a
performance of The Rite of Spring using teenagers from the city as dancers.
Another was to assemble films made by Berliners about drug use to preface a
performance of Turnage's Blood on the Floor, a piece inspired by the death of
the composer's brother from an overdose.
Whatever it is that might make orchestral music relevant to cutting-edge
urban life in the 21st century, Rattle is surely the man to discover it. If
nothing else, the future of classical music on the South Bank Show looks well
assured. Rattle's political instinct and expertise are valuable qualities -
but they are not musical qualities. This may be why the visit of this
21st-century orchestra to London for the Proms was a curiously dispiriting
affair. For all the happy talk of regeneration in the new century, it was
difficult to come away without a keen sense of simple decline.
In the past 10 years, the visits of the BPO have provided probably the
most compelling and memorable orchestral concerts in London's musical life,
but for all Rattle's reputed powers of communication, his performances here
were just rather dull. When an orchestra as potentially expressive and
intense as the BPO had become under Claudio Abbado ends up sounding bland,
then something is starting to go very wrong indeed.
Rattle has described his relationship with the orchestra as a love affair,
but watching him conduct those Proms, it was difficult not to feel that
things had reached the uncommunicative stage, at least in public. It was very
striking how little attention the players seemed to pay to their director,
and how little his gestures seemed to demand of them. This made a very
striking contrast to their previous visits under Abbado, when the orchestra
was alive to every nuance.
It is the mark of a great orchestra to be able to respond to the moment, for
a whole section of strings, say, to inflect a phrase as a single player. For
this to happen, there needs to be a conductor who commands attention and an
orchestra that can give it. Under Abbado, and indeed Haitink, the Berlin
players produced performances of blistering intensity, precisely because the
conductors were able to shape the music as it came off the bow, and so make
it live.
Abbado's work with the BPO had a combination of refinement and excitement
that has probably never been matched by any orchestra under any conductor.
Under Rattle at the Proms, in contrast, it seemed that the players already
knew what he wanted to say, didn't need to have him say it again, and could
get on with doing what they had all prepared earlier.
Word has it that they found difficult Abbado's concentration, in rehearsal,
on details of texture and balance rather than on the overall conception of
the work. Rattle's may have been a less anxious way of proceeding for the
players, but it made them uninspiring company for the audience. Rattle may
think of himself as having an affair with the orchestra, but it shouldn't be
that whatever real excitements the relationship has should be played out
behind closed doors.
Certainly, the dullness of his recent concerts was not the fault of the
repertoire, which seemed designed to point back to Herbert von Karajan,
Abbado's predecessor. Both Bartók's Music for Strings, Percussion and Celesta
and Strauss's Ein Heldenleben were Karajan pieces, and, though he had
notorious difficulty with The Rite of Spring, it was a piece with which he
eventually triumphed.
The Rite and Heldenleben are both works of radical virtuosity, each designed
for excitement, but Rattle did not succeed in realising at least that part of
their composers' intentions. The Strauss, which he has been working on all
year, passed pleasantly enough, but what was lacking was Karajan's subtlety
of phrasing and, crucially, his real sense of how to build a climax.
The Rite too, central Rattle repertoire, failed to pack the punch it should.
Some will say that this was because the BPO is the wrong orchestra for the
Stravinsky, as its amazing technical assurance removes the danger that
everything might in a moment go horribly wrong. No doubt there have been
performances where that danger has been a driving force, but Haitink
demonstrated in London 10 years ago that with real direction the Berlin
players can produce a Rite as viscerally gripping as any.
What took the wind out of Rattle's Rite was the fact that every time the
music quietened, the tension dissipated. The BPO is not an orchestra that
should need to play loudly to keep one on the edge of one's seat. Most
telling perhaps was the performance of the Bartók. This is a work that has
been widely performed over the past year. Abbado himself gave it at last
year's Proms with the Gustav Mahler Youth Orchestra, and Pierre Boulez has
been conducting it with the Vienna Philharmonic in Europe.
What comparison shows is how much is lost by not attending to the
possibilities of expressive detail. Rattle's performance was smoothed out,
without either the inflections of line that Abbado and Boulez found, or their
ability to shape the movements and reveal their forms. They made it sound, as
it should, like chamber music on a grand scale and because of this it had a
great expressive power. Under Rattle, it sounded like rather old-fashioned
film music.
It is not that Rattle is a bad conductor. It is just that his election to
artistic director and the hype that surrounded it have given him a prominence
and status he has yet to justify, and may well not. When he was elected, of
course, the reaction of the British press was simple rapture. There was more
than a suggestion that Rattle was the man to recover the great tradition of
the Berlin Philharmonic, which had somehow been squandered in what Richard
Osborne even called the "interregnum" of Abbado's tenure. This was silly, as
well as offensive. Every artistic director has moulded the sound of the
orchestra, and Karajan's sound was no more the authentic Berlin sound than
was Wilhelm Furtwängler's or Abbado's.
Rattle himself, however, has been less assiduous than he might have been in
scotching such silliness. In interviews he is happy to note that some of the
older players have said that he reminds them more of Karajan than of Abbado.
Perhaps so, but one is not yet reminded of Karajan's virtues in performance.
It may be worth his remembering that, for all the glories of the early and
late years of Karajan's reign, the orchestra of his middle years had a
deserved reputation for bland homogeneity and under-characterised sonic
opulence. Exactly the kind of sound, in fact, that Rattle elicited from it at
the Proms this year.