„Ein Schock“ sei es schon gewesen, als die Berliner Philharmoniker anriefen und ihn fragten, ob er ihr neuer Chefdirigent werden wolle. Aber dann habe er sich an Hans von Bülow erinnert, der wie er in Meinigen und München zuvor war (bei ihm allerdings umgekehrt), bevor er nach Berlin kam. Und so langsam versuche er sich davon zu erholen, bis er im August 2019 definitiv sein Amt antreten werde, sagt Kirill Petrenko – mit unbefristetem Vertrag, wie der Regierende Kultursenator Michael Müller betonte.
Die Zahl der Termine, die Petrenko bei den Berlinern dirigiere, werde in etwa die gleiche sein wie bei seinem Vorgänger. Mit Sir Simon Rattle habe er sich schon einmal in München getroffen. Der habe ihm auch einige Tipps gegeben über den Umgang mit dem Orchester. Aber was für Tipps das waren, darüber habe man sich gegenseitig Verschwiegenheit geschworen. Mit seiner neuen (zuletzt vom NDR kommenden) Intendantin Andrea Zietzschmann, die für den im Sommer 2017 scheidenden Martin Hoffmann die Nachfolge antritt, habe er sich bisher nicht weiter besprochen, was man vielleicht ändern wolle im Management. Man habe ja auch eben erst die Verträge unterschrieben. Aber man habe ein gutes Gefühl im menschlichen Miteinander.
Generell sieht Petrenko zunächst auch keinen großen Veränderungsbedarf. Was die Opern-Saison in Baden-Baden angeht, ist der aber mit Sicherheit ein großer. Selber werde er nach Ende seiner Zeit in München seine Operndirigate „extrem reduzieren“. Ganz verzichten wolle er aber nicht. Die Oper sei in seinem Herzen fest verankert. Gefragt, ob er mehr russisches Repertoire spielen wolle, hielt Petrenko sich weitegehend bedeckt. Russland gehöre zu seiner musikalischen DNA und werde es bleiben. Generell sei er für ein möglichst breites Repertoire, aber in jede Repertoire-Lücke müsse er nicht springen, zumal wenn ein anderer Dirigent dafür bereitstehe. Ansonsten vertröstete er auf eine Pressekonferenz im Frühjahr 2019. Bis dahin wolle er mit den Berlinern mindestens ein Programm pro Saison dirigieren, auch auf Gastspielen.
Erst dreimal hatte er überhaupt die Philharmoniker dirigiert. Aber der Kontakt in den Proben und bei den Konzerten sei so intensiv gewesen, dass man hoffe, zusammen „sehr viel erreichen“ zu können. Wie er’s als Philharmoniker-Chefdirigent künftig mit Interviews halten wolle, wo er in den letzten Jahren Interviews so gut wie nie gegeben habe, wurde er noch gefragt. Das wolle er so beibehalten, meinte er. „Sprechen“ wolle er auf dem Dirigenten-Pult. Das habe er sich vor vielen Jahren geschworen. Aber zu den alljährlichen Pressekonferenzen werde man ja mit ihm zusammenkommen und ihn befragen können. Die künftige Intendantin wird da in die Bresche springen müssen. Dass sie sich vom NDR getrennt hat, wo demnächst die umschwärmte Elbe-Philharmonie eröffnet wird, spricht für ihr Interesse an der Arbeit in Berlin.
Elf Jahre hatte Petrenko in Berlin gelebt, bevor er an die Bayerische Staatsoper ging. Er habe gern in Berlin gelebt, und jetzt auch gern in München. Aber er freue sich auch auf die Rückkehr nach Berlin. Man wird sich auch auf ihn freuen.
Die Berliner Philharmoniker kann man jetzt auch virtuell an ihrem Arbeitsplatz besuchen. Sie sind nun eine von 60 Institutionen in über 20 Ländern, die Google's Cultural Institute im Speicher hat. Der Zugang ist kostenfrei. Ermöglicht werden sollen Blicke hinter die Kulissen.
Das im Februar 2011 eröffnete interaktive Webportal gewährt auch Zugang zu so renommierten künstlerischen Institutionen wie die New Yorker Carnegie Hall, die Londoner Royal Shakespeare Company, das Pariser Ballett, die Wiener und die Berliner Staatsoper sowie zahlreiche Museen und Street-View-Touren.
Der Inder Amit Sood,
Direktor des Google Cultural Institute, nannte als Zweck der
Plattform, Interesse und Neugierde für die Künste zu wecken, zumal bei
Menschen, die sonst keine Gelegenheit haben.
Eric Schmidt, Executive Chariman Alphabet Inc. (wie Google seine Dach-Firma neuerdings nennt), war eigens nach Berlin gekommen um das Projekt zu lancieren. Er fand Parallelen im Gründungs-Mythos der Philharmoniker als demokratisches, selbstbestimmtes Orchester und Googles Firmen-Philosophie: Information weltweit für alle zugänglich zu machen.
Der Mediensprecher der Philharmoniker, Olaf Maninger, glaubt nicht, dass das neue Angebot die eigenen Aktivitäten mit der (kostenpflichtigen) Digital Concert Hall konterkarrieren werde, vielmehr solle es sie ergänzen. Man betrachte Google's Einladung als Werbung für das eigene Orchester und die klassische Musik insgesamt. Lizenztransfers gebe es nicht.
Kirill Petrenko wurde am 21.06.2015 im Rahmen einer Orchesterversammlung mit großer Mehrheit von den Mitgliedern der Berliner Philharmoniker zum designierten neuen Chefdirigenten des Orchesters und Künstlerischen Leiter der Stiftung Berliner Philharmoniker gewählt. Er folgt damit auf Sir Simon Rattle, der das Amt im August 2018 abgeben wird.
Kirill Petrenko: „Man kann es gar nicht in Worte fassen, was in mir gefühlsmäßig vorgeht: von Euphorie und großer Freude bis zu Ehrfurcht und Zweifel ist da alles drin. Ich werde meine ganze Kraft mobilisieren, diesem außergewöhnlichen Orchester ein würdiger Leiter zu sein und bin mir auch der Verantwortung und der hohen Erwartungen bewusst. Vor allem erhoffe ich aber vom gemeinsamen Musizieren viele Momente des künstlerischen Glücks, die unsere harte Arbeit belohnen und unser Künstlerleben mit Sinn erfüllen sollen.“
Ulrich Knörzer und Peter Riegelbauer für den Orchestervorstand: „Es erfüllt uns mit großer Freude, dass Kirill Petrenko die Wahl zum designierten Chefdirigenten unseres Orchesters angenommen hat. Wir blicken voller Zuversicht in die gemeinsame musikalische Zukunft.“
Martin Hoffmann, Intendant: „Als Intendant der Stiftung Berliner Philharmoniker freue ich mich sehr über die Wahl und gratuliere dem Orchester und Kirill Petrenko herzlich.“
Sir Simon Rattle: “Ich bewundere Kirill Petrenko seit Jahren und bin hocherfreut, dass er mein Nachfolger bei diesem wundervollen Orchester wird. Ich gratuliere den Berliner Philharmonikern zu dieser zukunftsweisenden Entscheidung.”
Eigener Kommentar: Petrenko ist die bestmögliche Wahl.
Mit Petrenko kommt ein echter Arbeiter, kein Taktstock-Showmaster.
Seine Klangvorstellungen sind sehr
modern, zielen auf Transparenz. Und Petrenko versteht gerade mit
seiner tief bohrenden Art, ein Orchester und ein Publikum mitzureißen.
Das zeigte er schon in Meiningen bei seinem "Ring"-Dirigat (meinem
ersten Kennenlernen) und dann auch später an der Komischen Oper
Berlin.
Dass sich im Orchester nicht gleich beim
ersten Wahltermin im Mai eine Mehrheit für ihn fand, hat möglicherweise
mit Petrenkos abrupter Abreise vor einem Konzert im letzten Herbst zu
tun. Da mussten wohl erst einige Gemüter gekühlt werden. Mit seinem
überschwänglichen Dank an das Orchester nach der nun erfolgten Wahl,
hat Petrenko gewiss alle Irritationen ausgeräumt.
*
Kirill
Petrenko wurde 1972 in Omsk geboren und studierte dort an der
Musikfachschule Klavier. Mit elf Jahren trat er als Pianist zum ersten
Mal mit dem dortigen Symphonieorchester öffentlich auf. 1990
übersiedelte die Familie (Vater Geiger, Mutter Musikwissenschaftlerin)
nach Vorarlberg, wo der Vater eine Stelle als Orchestermusiker und
Musiklehrer annahm. Petrenko studierte zuerst weiter in Feldkirch und
dann Dirigieren an der Musikuniversität in Wien.
Ein erstes Engagement führte ihn direkt nach seinem Abschluss als Assistent und Kapellmeister an die Wiener Volksoper. Von 1999 bis 2002 war Kirill Petrenko Generalmusikdirektor am Meininger Theater. Mit seinem Dirigat von Wagners "Ring des Nibelungen" in der Inszenierung von Christine Mielitz und in der Ausstattung von Alfred Hrdlicka erregte er 2001 zum ersten Mal internationales Aufsehen. Im Jahr 2002 trat Kirill Petrenko sein Amt als Generalmusikdirektor an der Komischen Oper Berlin an, wo er bis 2007 eine Reihe von prägenden Produktionen dieser Jahre leitete.
Parallel zu seinen Positionen in Meiningen und Berlin entwickelte sich sehr rasch seine internationale Karriere. Im Jahre 2000 debütierte Kirill Petrenko beim Maggio Musicale Fiorentino, 2001 an der Wiener Staatsoper und der Semperoper Dresden, 2003 am Gran Teatre de Liceu, in Barcelona, an der Opéra National de Paris, am Royal Opera House Covent Garden in London, an der Bayerischen Staatsoper sowie an der Metropolitan Opera New York und 2005 an der Oper Frankfurt. Von 2006 bis 2010 schuf er gemeinsam mit Peter Stein in Lyon einen Zyklus der drei Puschkin-Opern Tschaikowskys.
Seit seinem Weggang von der Komischen Oper Berlin war Kirill Petrenko als Dirigent freischaffend tätig. Seit Sommer 2013 leitete er die Neuproduktion von Richard Wagners "Der Ring des Nibelungen" bei den Bayreuther Festspielen (2015 zum letzten Mal).
Seit 1. September 2013 ist Kirill Petrenko Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper. In seinen ersten beiden Spielzeiten leitete er die Premieren: "Die Frau ohne Schatten" (Richard Strauss), "La clemenza di Tito" (Wolfgang A. Mozart) und "Die Soldaten" (Bernd Alois Zimmermann), "Lucia di Lammermoor" (Gaetano Donizetti) und die Wiederaufnahme "Ring des Nibelungen". Im Mai 2015 folgte noch die "Lulu" von Alban Berg. In der Saison 2015/16 folgen u.a. die Neuproduktionen: "South Pole" (UA von Miroslav Srnka) und "Die Meistersinger von Nürnberg" (Richard Wagner).
Parallel zu seiner Opernkarriere entwickelte sich Kirill Petrenkos Weg auf den internationalen Konzertpodien. Zu den wichtigsten Orchestern, mit denen Kirill Petrenko bisher zusammengearbeitet hat, gehören: die Berliner Philharmoniker, die Staatskapelle Dresden, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das Bayerische Staatsorchester, das Sinfonieorchester des WDR Köln, die Hamburger Philharmoniker und das NDR-Sinfonieorchester Hamburg, das Frankfurter Opern- und Museumsorchester, das Concertgebouworkest Amsterdam, die Wiener Philharmoniker (2016), das Radio-Symphonieorchester Wien, die Wiener Symphoniker, das Cleveland Orchestra, das Chicago Symphony Orchestra, das London Philharmonic Orchestra, das Oslo Philharmonic Orchestra, das Orchestra Santa Cecilia in Rom, das Orchester der RAI Turin und das Israel Philharmonic Orchestra. Außerdem dirigierte Kirill Petrenko Konzerte bei den Bregenzer und Salzburger Festspielen.
Bei den Berliner Philharmonikern gab er sein Debüt im Februar 2006 mit Werken von Bartók und Rachmaninow; zuletzt brachte er mit dem Orchester im Dezember 2012 Kompositionen von Igor Strawinsky, Rudi Stefan und Alexander Skrjabin zur Aufführung.
*
Die Wahl zum Chefdirigenten und Künstlerischen Leiter der Berliner
Philharmoniker ist heute ohne Ergebnis geblieben.
Hierzu Orchestervorstand Peter Riegelbauer: „Nach einer
Orchesterversammlung, die 11 Stunden gedauert hat, sind wir leider zu
keinem Ergebnis gekommen. Es gab gute und lebhafte Diskussionen und
mehrere Wahlgänge. Aber wir konnten uns leider auf keinen Dirigenten
einigen.“
Es waren insgesamt 123 stimmberechtigte Mitglieder des Orchesters
anwesend.
Riegelbauer weiter: „Wir müssen dieses Verfahren und diese Wahl
fortsetzen. Dies wird innerhalb eines Jahres geschehen. Wir sind sehr
zuversichtlich, dass wir dann zu einem Ergebnis kommen. Der Prozess dieser
Wahl wird fortgesetzt, wir werden uns weiterhin regelmäßig zu
Orchesterversammlungen treffen, werden uns aber die Zeit nehmen, die nötig
sein wird. Das kann auch ein Jahr dauern.“
Die Stimmung während der Versammlung heute wurde von allen Beteiligten als
sehr konstruktiv, kollegial und freundschaftlich beschrieben.
Soweit die offizielle Mitteilung zum ergebnislosen Konklave des Orchesters beim Versuch, einen Nachfolger für Sir Simon Rattle ab 2018 zu finden. Viele Namen waren in der öffentlichen Diskussion: Von Christian Thielemann über Gustavo Dudamel, Mariss Jansons, Andris Nelsons, Kirill Petrenko, Yannick Nézet-Séguin, Riccardo Chailly, Pablo-Heras-Casado, Teodor Currentzis und sogar Daniel Barenboim.
Lokale Medien hatten schon die Philharmonie-Besucher wählen lassen. Nelsons galt das als Favorit. Jedenfalls ein junger. Einige der öffentlich gehandelten Bewerber hatten sich kurz vorher noch eine Verlängerung ihrer jeweiligen Verträge garantieren lassen. Zum Teil, um sich aus der Diskussion zu ziehen.
Das Ergebnis des 11.Mai zeigt vor allem, dass man nicht weiß, wie der schwindenden Bedeutung des klassischen Bildungsbürgertums als der bevorzugten „Klientel“ von symphonischen Konzerten zu begegnen ist und wie Konzerte in einer virtualisierten Welt der Dominanz von Internet und „social media“ neu organisiert werden könnten. Mit Festhalten an tradierten Mustern oder völlig neuen Konzepten?
Mit ihrer „Digital Concerthall“, den Education-Programmen, Lunch-Konzerten und ähnlichem hatte der noch amtierende Chefdirigent schon einiges versucht. Der durchschlagende Erfolg ist dem bisher nicht beschieden. Geht er deswegen vorzeitig ab in seine Heimat? Von unkonventionellen Dirigenten wie dem in Perm wirbelnden Griechen Currentzis oder dem Venezolanischen Jungstar Dudamel könnte man sich da jedenfalls einige Ideen erhoffen.
Ob sich auch die Traditionalisten überzeugen lassen, die einen Christian Thielemann mit seiner Vorliebe für Klassik und Romantik favorisieren, steht aber dahin. Und vielleicht sollte man einen nächsten Versuch, den Rattle-Nachfolger zu küren, mit weniger medialer Vor-PR ansetzen. Vielleicht kommt man ja auch im Verlauf der Diskussionen zu der Meinung, dass es ohne Chefdirigenten wie bei den Wiener Philharmonikern besser geht. Wenigstens erst mal.
Ein bisschen selbstsüchtig sei er schon auch, sagt Sir Simon. Das
Lustprinzip gilt. Deshalb habe er als Hauptwerk für seinen
Eröffnungsabend Mahlers Fünfte gewählt. Auch habe er etwas
spielen wollen, was eng mit ihm und mit dem Orchester verbunden sei. Und
dann sei mit Mahler ja auch erst mal Schluss.
Die Spannung war hoch und man spürt sie noch bis ins Konzert. Überall in
der Stadt hängen Plakate an den Litfasssäulen, von denen Rattle sein
überwältigend erstauntes breites Lächeln lächelt. Seine Plattenfirma hat
die Aktion mitgesponsert. In Zehntausenderauflage haben die Abonnenten
die Doppel-CD Welcome Sir Simon! zugeschickt bekommen mit Aufnahmen
auch sämtlicher fünf Vorgänger Rattles auf
dem "Hochsitz" des Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker. Der
Mitschnitt des Eröffnungsabends wird in wenigen Wochen ebenfalls in den
Plattengeschäften ausliegen. Als "Stiftung Berliner Philharmoniker", die
das einstige Berliner Philharmonische Orchester jetzt ist, lässt sich so
was einfacher lancieren.
Das Halbstundenstück, mit dem Sir Simon Rattle seine zehnjährige
Amtszeit in Berlin beginnt, hat er vor fünf Jahren in Birmingham
uraufgeführt. Thomas Adès’ Asyla ist ein Stück mit klaren
Lineaturen, immer wieder aus der Stille des Konzertsaals gleichsam in
die lärmende Außenwelt von heute dringend. Der dritte Satz "Ecstasio"
ist wie dekomponierter Techno mit seinem harten rhythmischen Beat. Der Schlusssatz mit
einem vierteltönig tiefer gestimmten Klavier signalisiert aber auch
etwas von einer nostalgischen Sehnsucht zurück in ruhigere Zonen. Tabu.
Vielleicht keine „große“ Musik ist dies Stück, aber es zeigt
Programmatisches.
Es verdeutlicht etwas von dem, was Rattle will mit dem Orchester. Zum
21.Jahrhundert hin will er es öffnen. Kommunikation ist sein Zauberwort.
Dafür auch hat er bestanden auf dem, was man in der angelsächsischen
Welt Education-Programm nennt. Das
Orchester kann nicht mehr erwarten, dass auch die jungen Leute in seine
Konzerte kommen. Man muss "hinausgehen" zu ihnen, sich und seine Arbeit
ihnen vermitteln - etwa indem man mit einer Gruppe Jugendlicher eine
Tanzversion von Strawinskys Sacre erarbeitet und aufführt.
Fragen, ob das auch wirklich funktioniert,
beantwortet Rattle mit einem insistierenden "es muss, es muss" - aber,
sagt er, sicher nur auf lange Sicht und mit Beharrlichkeit.
Die Mahlersche Fünfte, die er, technisch perfekt gespielt
vom Orchester, dirigiert - es ist nicht der fast impressionistische
Klang, den ein Claudio Abbado so zauberisch hervorzulocken wusste.
Rattle schärft die Kontraste, lässt die Blöcke hart aufeinanderprallen,
fast bis zum Zerbrechen. Er kommt ja vom Schlagzeug und vom Klavier, das
schon ein Bartók auch wie Schlagwerk zu behandeln wusste. Und doch hat
der Marsch des ersten Satzes bei Rattle auch immer etwas Leichtes,
Wienerisch schwebend-schwingend Beschwingtes. Den dritten Teil
mit dem berühmten hier als großer
Liebesgesang atmosphärisch äußerst verdichteten Adagietto und mit dem
Rondo erlebt man als eine einzige furiose Schlusssteigerung. Jubel.
Als Dankeschön und Wanderhilfe wieder herunter von der Klimax ("warum
nicht was extra?") schiebt er noch den Ungarischen Tanz Nr.3
nach von Brahms. Aber das fast ist ein Seufzer hin zu dem
Kern-Repertoire, das jahrzehntelang das der Berliner Philharmoniker war
und aus dem man nun erstmal ausbrechen will. Hin zu neuen Ufern.
Wie ein Popstar wurde er gefeiert von dem gut 2000-köpfigen sehr
jugendlichen Auditorium: Sir Simon Rattle. Dabei waren die 240
Schülerinnen und Schüler auf der Bühne der Arena in Treptow der
eigentliche Star mit ihrer Massenperformance von Igor Strawinskys
einst umstürzlerischer Musik des Sacre du printemps. Es war das erste große
der "Education"-Projekte
Zukunft@BPhil,
mit denen Berlins Philharmoniker raus
wollen aus ihrem Elfenbeinturm. Schülerinnen und Schüler aus diversen
Berliner Schulen waren eingeladen. "Richtig power"
fand eine der Solotänzerinnen diese Musik, für eine andere war sie
erst ein „Schock“, aber durch den Tanz verband sich für sie doch mit
jedem Ton eine Vorstellung, eine dritte fühlte durch die Arbeit sich
"befreiter". Es ist was "Wunderbares", meinte sie, zumal wenn man mit
Leuten, die man sonst nur im Fernsehen, in der Zeitung sieht, arbeiten
und sie sogar anfassen kann.
"Eine große Reise" war dies für Sir Simon und seine Philharmoniker, wie er
beim Pressegespräch sagte. "Nichts erregt einen, wenn es nicht auch
riskant ist", sagte er. Und dies war riskant. Jeder habe die
Herausforderung gespürt und auch die Inspiration. Und die Bedeutung
dieser Anstrengung könne man gar nicht überschätzen. Alle mussten sie
umdenken, auch die Musiker, die zuvor in die Klassen ausschwärmten, um
den Schülern durch Improvisation etwas von dieser Musik zu vermitteln.
"Selbstvertrauen und Kreativität" solle diese Arbeit fördern, so einer
der Tutoren, Richard McNicol, und
die Ergebnisse konnten sich hören lassen. Choreograf dieser Produktion
war Royston Maldoon. Vielfach schon hat er derartige Projekte geleitet,
sich um Jugendliche gekümmert in sozialen Randzonen und an politischen
Brennpunkten von Litauen bis Südafrika. Er will den jungen Leuten
helfen, gehört zu werden, sich selbst zu finden, ihr Selbstwertgefühl
zu stärken. Strawinskys Musik lässt er die Jugendlichen als
Kampfgetümmel widerstreitender Gruppen mit Läufen, heftigen Arm- und
Körperbewegungen versinnbildlichen. Höhepunkt, wenn eine Art blaues
Erdmonster die Figuren in sich einzusaugen scheint.
Maldoon verbindet damit eine Aufforderung
an die Jugendlichen zu widerstehen, sich nicht vereinnahmen zu lassen
durch die Mächtigen und Großen. Es gehe ihm mit dieser Arbeit nicht
nur darum, die Künste zu den jungen Leuten zu bringen, sagt er, es sei
auch im wohl verstandenen Eigeninteresse der Künstler. Wenn es weiter
gehen solle in den Künsten, müssen Leute aus allen Schichten dieser
Gesellschaft sich beteiligen können. "Deswegen helfen wir uns selber,
wenn wir die Künste hinaustragen. Damit bringen wir die zukünftigen
Künstler herein."
Das Foyer der Philharmonie ist jahrmarkt-bunt. Pappmaschee-Figuren auf Stelzen schmücken den blau, rot, grün mit Bildern ausgehängten Raum: Die Ballerina figuriert als Schwan, der dumme August als Hampelmann, der Petruschka als Pinocchio. Zum Leben erweckt werden sie in dem neuen Education-Projekt mit der Musik Strawinskys und anderer.
So sagt es Richard McNicol, der Leiter des Projekts. 13 Schulen insgesamt haben sich beteiligt. Um Puppentheater, Tanz, Zirkus, Dekoration kümmerten sich jeweils eigene Gruppen.
Noch höher hinaus will man kommende Saison, wenn Stücke von Heiner Goebbels, György Kurtág und György Ligeti auf dem Programm stehen.
Die Bilder sind berauschend: Wenn Pinguine wie Torpedos durchs Wasser hoch schießen, um auf der Eisplatte zu landen; wenn Schwärme von Sardinen wie ein Dönerspieß im Wasser sich drehen und Thunfische ihre räuberischen Attacken starten; wenn Armeen von Soldatenkrabben marschieren und Sandstrände durchpflügen; wenn in tausenden Metern Tiefe transparente Lebewesen ihre Lichtblitze aussenden, um Partner anzulocken oder Feinde abzuwehren. Deep Blue. Der Kinofilm nach einer achtteiligen Sendereihe der BBC, geschnitten aus 7.000 Stunden Material, von zwanzig Kamerateams gedreht in fünf Jahren an über 200 Schauplätzen – für die musikalische Untermalung sorgten die Berliner Philharmoniker.
So Peter Brem, Medienvorstand des Orchesters, bei der offiziellen Deutschland-Premiere. Wie es dazu kam?
Die Musik von George Fenton, der schon für Filme wie Ghandi, Schrei nach Freiheit oder König der Fischer die Scores schrieb, ist überwiegend klassisch, die Bilder emotional verstärkend. Aufgenommen wurde sie in der Berliner Philharmonie im letzten Mai.
Wie Nomaden der Lüfte, der Vögel im Flug begleitet, ist auch Deep Blue ein Film für die ganze Familie, vertrieben im gleichen Verleih. Dezent ist er in den Kommentaren, spannend durch die Kampfszenen, wenn die Kameraleute etwa Killerwale beobachten, wie sie Seelöwen-Babies durch In-die-Luft-Schleudern zur Strecke bringen oder ein Grauwal-Baby so lang zu Tode hetzen, bis es aufgibt. Spannend ist er auch durch die ungewohnten Einblicke, wenn um die Brutkammern der Meere, die vulkanischen Schlote mit ihren rauchenden, kochenden Auswürfen, Abermillionen Kleinlebewesen sich drängen und gedeihen, ganz ohne Sonnenenergie. Und die Musik ist ein wesentliches Moment der filmischen Dramaturgie.
Die Bilder haben etwas Magisch-Geheimnisvolles. Eine schwarze Frau sieht man in einer Küche. Sie modelliert drei Figuren. Die eine ist Dr.Bardot, ein Hirnchirurg. Wie aseptisch geschleckt ist seine Wohnung, sein Arbeitsplatz. Eine zweite Figur ist Esther. Sie lebt versunken in Trauer, schläft wie Schneewittchen im Sarg, steuert ihre DS am liebsten zum Friedhof. Schließlich Lucia: ein junges Mädchen. Vom Vater missbraucht, klaubt sie sich, das Haar immer anders gefärbt, Männer von der Straße. Zwanghaft will sie sich von ihrem Makel befreien. Dann finden sich alle drei wieder auf einer exotischen Insel. In einem Haus am Meer tanzen nackte Menschen mit enthusiastisch erhobenen Armen zu Strawinskys Sacre-Musik. In dem Haus verstreut: seltsame Altäre, Cohibas rauchende Frauen, Priester, Zwerge. Hühner werden geschlachtet. Ein Ritual. Angeregt wurde der Film durch ein Buch von Alejo Carpentier.
So Robert Zimmermann. Er hat den Film von Oliver Herrmann und Robert Hunger-Bühler, einem der Darsteller, produziert. Herrmann verstarb im September letzten Jahres, kurz vor Vollendung des Films. Ursprünglich wollte man einen Spielfilm nach dieser Geschichte drehen. Dann aber beschränkte man sich auf eine allerdings sehr bildkräftige stumme Begleitung zu Strawinskys epochaler Musik. Das Verbindende: das Reinigungsritual – hier der Santeria, einer lichteren Variante zu Voodoo, heute noch stark verbreitet in Kuba und Miami.
Auf den ersten Blick mögen die Bilder verwirren. Was sich am Ende aber leicht erschließt: wie drei Menschen hier versuchen, von ihren Obsessionen sich zu befreien.
Uraufgeführt wurde der von verschiedenen Fernsehstationen angekaufte Film am Ende der Berliner Filmfestspiele. Die rauschhafte „Begleitmusik“ spielten die Berliner Philharmoniker live mit Sir Simon Rattle am Pult. Den Streifen hat Rattle sich in der Entstehungsphase mehrmals angesehen. Sein Eindruck, wie Zimmermann ihn empfand.
Spektakulär begann es, als Orchesterchef Simon Rattle in der
«Arena», einer riesigen Halle im Bezirk Treptow, den Einsatz gab für
Strawinskys «Sacre du printemps» und eine Schar von fast
zweihundertfünfzig Schülerinnen und Schülern eine Performance unter
der Leitung von Royston Maldoon tanzte vor zweitausend Besuchern. Ein
soeben angelaufener Film, «Rhythm Is It!», dokumentiert dieses
Ereignis. Eingestimmt worden waren die Jugendlichen in Workshops auch
auf die Musik; unter Leitung des inzwischen nach England
zurückgekehrten «Geburtshelfers» Richard McNicol improvisierten sie
zusammen mit einzelnen Philharmonikern über Themen aus Strawinskys
Partitur. Zuwendungen der Deutschen Bank haben dieses zeitgemäß
Zukunft@BPhil genannte Projekt zunächst für drei Jahre ermöglicht.
Inzwischen hat das Geldinstitut seine Unterstützung für weitere fünf
Jahre offeriert.
Wie klingen Wale?
Um Strawinskys «Petruschka», um Heiner Goebbels und seine «Surrogate Cities», um Brittens «War Requiem» und Ravels «Daphnis et Chloé», um György Kurtág und György Ligeti kreisten weitere Projekte. Inzwischen ist man bei Nummer 17: «Meeresrauschen». Als Basis dienten Szenen des im Januar uraufgeführten Films «Deep Blue», dessen Soundtrack die Philharmoniker einspielten. Tiere und Vögel des Meeres waren da in atemberaubenden Aufnahmen zu bewundern. Nun durften Sechstklässler dreier Berliner Grundschulen mit Hilfe von allerlei Geräuscherzeugern, Flöten, Harfen und Xylophonen sich ausdenken: Wie «klingen» Wale und Tölpel, surfende Delphine und emsig schürfende Krabben, seltsam blinkende Tiefsee-Quallen und aufs Eis segelnde Pinguine. Je zwei Orchestermusiker assistierten den Kindern. Den Workshop leitete der Geiger Aleksandar Ivic. Größtes Problem immer wieder: die Kinder in ihrem Bienenschwarm-Treiben zu gelegentlichem Innehalten zu bewegen. Aber, sagt die Lehrerin Madlen Gericke von der Lenau-Grundschule in Kreuzberg: «Die können sich, wenn eine Aufführung losgeht, unwahrscheinlich gut konzentrieren; dann sind die voll da.» Es sei für sie jedes Mal wieder eine Überraschung - gerade bei Kindern, die sonst sehr fahrig sind und leistungsschwach.
Für die Kinder selbst war es eine tolle Erfahrung. «Alles hat mir gefallen», meinte einer forsch. Aber auch Unbehagen wurde geäußert: Wenn sie «am Anfang nicht wussten, was wir spielen sollten». Oder dass ihnen auch einmal gesagt wurde, «was wir machen müssen, und es nicht unsere eigenen Töne waren». Dabei war es für den Workshop-Leiter Aleksandar Ivič fast das Wichtigste, dass die Kinder «immer das Gefühl haben, dass es ihr Stück ist»; dass sie möglichst selber entscheiden, wie das klingen soll. Zwar hatte man im speziellen Fall «Meeresrauschen» schon einen professionellen Filmkomponisten beauftragt, eine kindergerechte Partitur zu schreiben. Aber, sagt Ivič, es ist nicht der Sinn, dass sie etwas reproduzieren, sondern dass sie «ihr eigenes Stück schaffen». Aufeinander hören, aufeinander reagieren - darauf kommt es an.
Improvisierende Philharmoniker
Schwer tut er sich damit nicht. Im Gegenteil. «Mir sind fast die so genannten schwierigen Kinder lieber», sagt er. Zwar seien die zuerst weniger diszipliniert, aber sie hätten dann doch sehr viel Energie und Lust und seien viel direkter. Schwierigkeiten habe er eher mit den «zu braven, zu Ordnung erzogenen Kindern, die sich nichts trauen». Wenn man aber die «Rabauken» für eine Sache gewinnt, habe man mit denen mehr Spaß. Und wenn Kinder dann in einem Konzert erfahren, wie es sich anfühlt, «wenn alle still und diszipliniert sind ohne Zwang», dann seien sie «zu erstaunlichen Sachen fähig». «Es gab Kinder, die sich wirklich entdeckt haben», meint Claire Badiou, eigentlich Literaturforscherin, die ihr Cello hervorkramte, um an den Workshops des letzten Jahres teilzunehmen. Kinder bekommen «ein anderes Gefühl, wenn sie etwas Eigenes schaffen», sagt sie.
Verändert hat sich durch das Education-Programm aber auch einiges bei den Philharmonikern. Sie gehen mehr «in die Stadt», reagieren flexibler, «das Improvisieren öffnet ihnen einen neuen Zugang zur Musik», meint die Projektmanagerin Henrike Grohs. Etwa die Hälfte der Musiker hat bisher an Workshops teilgenommen, überwiegend die jüngeren. Dabei arbeitet man möglichst spartenübergreifend. Tanz, Film, bildende Kunst werden einbezogen. Alles wird dokumentiert und ausgewertet. Auch nach den Workshops werden die Kinder und Jugendlichen immer wieder zu speziellen Treffen oder zum Besuch von Generalproben eingeladen. Die Themen filtert man aus Schwerpunkten des Konzertprogramms, abgestimmt mit dem Chefdirigenten - im Fall «Meeresrauschen» einer Aufführung von Debussys «La mer». Simon Rattle leitet die jährlichen Schulorchestertreffen oder fungiert auch einmal als Pianist bei einem der Konzerte.
Besonders Anspruchsvolles plant man demnächst. Eine Musikerin des Ensembles Modern bietet Schülerinnen und Schülern des Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Gymnasiums, einer Musik-Spezialschule in Mitte, Workshops anlässlich der Uraufführung eines Chorwerks von Mark-Anthony Turnage, «A Relic of Memory», mit dem Rundfunkchor. «Herzog Blaubarts Burg», der «Feuervogel» (als nächstes Tanzprojekt) und ein Kurs, der sich anhand von Musik Toru Takemitsus Japans Kultur nähern will, sind weitere Projekte dieser Saison. In Zeiten mieser «Pisa»-Zensuren ein kleiner Trost.
Ganz
hoch hinaus wollen sie ja schon immer. Nun hat Orchesterchef
Sir Simon Rattle den Raketenantrieb gestartet. Und mit Berlins
Philharmonikern flog er zu den Sternen. Ad astra hieß das Programm,
in dem er Gustav Holsts 1916 vollendete Suite The Planets mit
zeitgenössischen Abstechern zu benachbarten Asteroiden ergänzte. Die
Finnin Kaija Saariaho etwa landete da auf Nummer 4179 „Toutatis“ in
spacigen Klangflächen mit kräuselnden Melodiefetzen und knalligen
Clustern. Matthias Pintscher peitschte das Orchester towards Osiris.
Mark-Anthony Turnage ließ die Musiker mit tiefen Trommelwirbeln
aufmarschieren bei Ceres.
Besonders eindringlich mit dem Thema
beschäftigt zu haben scheint sich Brett Dean. Sein Komarov’s Fall
ist gewidmet jenem sowjetischen Kosmonauten, der 1967 beim
Wiedereintritt seiner „Sojus“-Kapsel in die Erdatmosphäre
verunglückte, wahrscheinlich geschuldet dem Missmanagement der
damaligen russischen Raumfahrtbehörde. Fast unhörbar beginnt sein
Stück mit wie Sternschnuppen irrlichterndem Zirpen, das an die
Geräusche der Raumtelemetrie erinnert. Dann wechselt die Partitur in
ein meckerndes Stottern der Holzbläser, hinweisend auf den
dramatischen Funkverkehr vor der missglückten Landung und sich
steigernd in einen gewaltigen Strudel, der plötzlich verebbt.
Sicher
ist Deans Stück das bildhaft effektvollste der insgesamt etwa
halbstündigen Erweiterung von Holsts ja mit Effekten, zumal im
tänzerischen Besuch bei „Jupiter“, nicht geizendem Planeten-Kreisen.
Ergänzt wurde es hier auch mit dem von Colin Matthews 2000
gesteuerten kompositorischen Besuch beim Planeten „Pluto“. Für Holst
lag die noch außerhalb der Teleskopsichtweite.
Schon die Logistik ist beeindruckend: Über zweihundert tanzende
Schüler, Jugendliche, Senioren waren zu organisieren. Fast eben so
viele Kinder und Jugendliche, die den Rundfunkchor verstärken; die
Jungdesigner, die die Kostüme schneiderten. Dazu kommt das mehr als
hundertköpfige Orchester. Vor der Halle geht es drängelig zu wie bei
einem Volksfest. Drinnen werden die zweitausend Besucher empfangen
mit einer akustischen Installation: Texte, Musik, eingespielt über
Lautsprecher, führen hin zu Carl Orffs „Carmina Burana“. Der
Auftritt der vielen hundert Beteiligten und erst recht die standing
ovations am Ende machen einem Pop-Event alle Ehre. Die
Tanzaufführungen des Zukunft@BPhil.de Programms der Berliner
Philharmoniker unter Sir Simon Rattle in der Treptower Arena sind in
ihrem vierten Jahr Kult.
In einfachen Bildern erzählt Royston Maldoom die
mittelalterlichen Gesänge von Liebe, Tod, Beten und Trinken, die
Orff 1936/37 komponierte, und in denen er dem „homo ludens“, dem
spielenden Menschen, ein Denkmal setzen wollte. Eine Art Gevatter
Tod in rötlicher Mönchskutte schwingt anfangs die Fahne und peitscht
die Massen nieder. Aber die wehren sich, stehen immer wieder auf,
lassen ihre Lebensgeister erwachen. Die Mädchen reizen die Jungs,
die Jungs haschen nach den Mädchen. Auch der sterbende Schwan, ein
kleiner Junge wie zu einem Bankett unter einem Glassturz
präsentiert, will sich nicht einfach auffressen lassen; er rennt
davon. Eine junge Schöne unter weißem Schleier bricht aus ihrer
schützenden Larve aus.
Maldoom, für seine sozialen Verdienste jüngst mit dem deutschen
Ehren-Tanzpreis und dem Schillerpreis ausgezeichnet, versucht seine
Choreografien aus den natürlichen Bewegungen seiner Tänzerinnen und
Tänzer zu entwickeln. Oft gibt er nur Basisanweisungen. So wechseln
geformte Bewegungen im Kreis, in der Gerade, in der Gruppe auch
immer mit improvisatorisch „freien“. Was die Tanzenden im
vielmonatigen Proben-Prozess lernen, ist: auf sich, auf ihren
Körper, auf die anderen, auf die Musik zu achten. Es ist eine Übung
in Konzentration, Selbstdisziplinierung von Körper und Geist. Für
den Schauwert nach außen sorgt das Massenhafte der Tanzenden, ihre
Hingabe, wenn sie mit ihrem Körper etwas erzählen, dabei Identität
ausprägen. Schwieriger ist nach Maldooms Erfahrung die Arbeit mit
Jungen als mit Mädchen. Maldoom muss die Klischees von Männlichkeit,
die auf ihnen lasten, aufbrechen. So lässt er sie in den „Carmina“
auch einmal der Reihe nach auf den Rücken fallen. Und sie tun das
mit großem Geschick.
Das Zugehen auf Menschen aller Altersklassen, Nationalitäten und
Schichten, insbesondere aber auf Jugendliche, soll weiterhin ein
Kernstück der Arbeit der Berliner Philharmoniker sein. Pamela
Rosenberg, die neue Intendantin, bekräftigte das in dieser Woche
beim Pressegespräch.
Allerdings hat man nicht allerorten einen so potenten Sponsor zur Seite – wie die Philharmoniker. Es ist eine beispielhafte Arbeit, die hier geleistet wird. Und gerade das Tanzprojekt und der es popularisierende Film „Rhythm Is It!“ hat viel zur Aufbruchstimmung beigetragen, dass jetzt Netzwerke entstehen für den Tanz in Deutschland. Demnächst will man sich in Berlin sogar an Strawinskys „Les Noces“ wagen. Aber auch schon das Auftaktprojekt mit „Le sacre du printemps“ war ja nicht gerade ein Kinderspiel.
Eine Aufführung mit einem so exzellenten Klangkörper wie den
Berliner Philharmonikern und einem alles Raffinement der Partitur
heraus kitzelnden Dirigenten wie Sir Simon Rattle kann sich ein
Komponist nur wünschen. Die Uraufführung von A Flowering Tree in
Wien im November leitete John Adams selber mit einem Venezolanischen
Jugendorchester. Es war der von Kritikern als etwas harmlos
empfundene Auftakt zu einem von Peter Sellars programmierten
Festival mit dem hoffnungsfrohen Titel „New Crowned Hope“. Sellars
besorgte schon dort selbst die szenische Einrichtung. Von ihm stammt
auch das Libretto. Es ist nachempfunden einem gleichnamigen
indischen Märchen.
Dies Märchen erzählt von einem einfachen Mädchen, das sich in einen
blühenden Baum verwandeln kann. Die junge Frau erregt damit das
Begehren eines verwöhnten Prinzen. Aber dessen böse Schwester
zerstört beider Glück, verstümmelt das Baummädchen zu einem
Krüppelstumpf, das in die Kaste der Parias gleichsam abgleitet. Und
erst als auch der Prinz völlig verwahrlost das Elend der armen Leute
am eigenen Leib erfährt und sie sich so in der Gosse wieder finden,
beginnt auch sie wieder zu erblühen zu voller Schönheit. Eine
romantische Geschichte der Prüfungen und des sozialen Auf- und
Abstiegs also. Gedacht war diese Oper als Reverenz an Mozarts
Zauberflöte. Mit deren Vielschichtigkeit kann sie sich aber kaum
messen. Einige Motive erinnern auch mehr an Richard Strauss‘ Daphne.
Und bei Strauss hat der Komponist John Adams sich auch hier einiges
abgeguckt. Er greift hier mit seiner Musik übers Minimalistische
weit hinaus, entfaltet besonders in den rhythmischen Partien viel
Kraft.
Auf ein Minimum beschränkt ist die szenische Einrichtung durch Peter Sellars.
Und besser wäre sie (für die Wirkung der Musik) wohl ganz
verzichtbar. Sie begnügte sich offenbar auf ein paar Anweisungen,
die der Regisseur den hinzu engagierten drei javanischen Tänzern
gab. Mit ihrer hochartifiziellen Zeichensprache können sie freilich
nur verdoppeln, was schon in Text und Musik angelegt ist. Das ist
zwar zumal bei Eko Supriyanto durch seine höchst differenzierte
Gestik ungemein reizvoll anzusehen. Eine eigene Ebene fügt es der
Musik aber kaum hinzu. Und es kontrastiert allzu schroff zu den eher
peinlich-konventionellen Bewegungen der drei Sänger, die da vor
einer bonbon-bollywood-bunt beleuchteten Wand auf zwei Podien in der
Berliner Philharmonie agieren. Immerhin stehen mit Jessica Rivera
als dem Mädchen Kumudha, Russell Thomas als dem um sie werbenden
Prinzen und Eric Owens als Erzähler exzellente Sänger zur Verfügung.
Eine Oper im eigentlichen Sinn ist dies neue Werk von John Adams,
der mit Stücken wie dem Ost-West-Konfrontations-Drama Nixon in China
oder der Terrorismus-Abrechnung The Death of Klinghoffer bekannt
wurde, nicht. Eher ist es ein Oratorium. Gerade durch die Einfügung
des Erzählers wird der dramatische Fluss immer wieder abgewürgt.
Auch hatten beide Autoren offenbar unterschiedliche Intentionen mit
diesem Stoff. Während Librettist Sellars das Märchen als Parabel
über Ökologie und sorgsame Pflege der natürlichen Ressourcen
begriff, sah Komponist Adams es eher als eine über menschliches
Reifen und jugendliche Entwicklung. Der Weg auf die Opernbühne
dürfte mit Baumstümpfen gepflastert sein. A Flowering Tree ist ja
auch im Zeichen musikalischer Globalisierung ein gemeinschaftliches
Auftragswerk von Wien und Berlin mit Konzert-Institutionen in
London, New York und San Francisco.
Ein etwas schiefes Licht wirft diese oft ans Kitschige grenzende
Aufführung einmal mehr auf den szenischen Geschmack von
Philharmoniker-Chef Sir Simon Rattle. Dirigenten sind zwar selten
auch gute Theaterleute. Aber in Pamela Rosenberg hat Rattle ja als
Intendantin eine Frau im Haus, die da einiges vorweisen kann. Er
sollte das auch nutzen.
GEs gibt keinen Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen; es gibt keinen Frieden unter den Religionen ohne Dialog der Religionen. So die These des Schweiz-Tübinger Theologen Hans Küng. Dem dient seine 1995 gegründete Stiftung Weltethos, dem soll auch das gleichnamige Oratorium dienen, für das er das Libretto schrieb. In Musik gesetzt hat es der englische Komponist Jonathan Harvey. Uraufgeführt wurde es jetzt unter der Gesamtleitung von Sir Simon Rattle von den Berliner Philharmonikern, dem Rundfunkchor Berlin mit Simon Halsey als Kodirigent und einem Kinderchor.
Küng hat den verschiedenen Religionen gemeinsame ethische Grundbegriffe wie Menschlichkeit, die sogenannte goldene Regel, Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Partnerschaft herausgefiltert und sie den verschiedenen Religionen zugeordnet. Je ein Abschnitt von 7 bis 15 Minuten ist dem Konfuzianismus, Judentum, Hinduismus, Islam, Buddhismus und Christentum gewidmet. In gesprochenen Rezitativen (Dale Duesing) über einer Musikgrundierung wird das Wirken der jeweiligen Religionsgründer skizziert. Ein Kinderchor beschließt jeden Abschnitt mit der Forderung nach einem bewusst menschlichen Leben als Zukunftserwartung.
Komponist Jonathan Harvey, erfahren in religiösen Dingen, Enkel-Schüler von Arnold Schönberg, beeinflusst von der Musik Olivier Messiaens und Karlheinz Stockhausens, hat in seine zwölftönige Musiksprache für die jeweiligen Religionen charakteristische Instrumente als Farbakzent eingewoben, zum Beispiel das Widderhorn Shofar beim Judentum oder Xylofone beim Konfuzianismus. Auf kritische Momente hat er nicht verzichtet; das Wort „Schonung“ im Hindu-Teil zum Thema Gewaltlosigkeit lässt er vom sonst oft nur flüsternden Chor regelrecht herausschreien. Den Schlussteil übers Christentum verdichtet er zu einem pfingstlichen Zungensprechen mit der Schichtung ethischer Schnittpunkte der sechs Religionen.
Eher penetrant wirken die rhythmisierten Einwürfe des Kinderchors; eingefügt hatte Küng den Litanei-artigen Kinderchor in der Hoffnung auf Melodisches im Sinne einer Weltharmonisierung. Zur Eröffnung des Kulturprogramms der Olympiade in England am 21.Juni soll diese 75-minütige „Vision in Musik“ auch in Birmingham erklingen. Der Applaus in Berlin war freundlich. Küng nahm ihn für das Auftragswerk seiner Stiftung selbst entgegen; der 72-jährige Harvey konnte sich krankheitshalber nicht zeigen. Weniger ein Kunst- als ein Bekenntniswerk ist dies, und so soll es auch wahrgenommen werden.
Im Rahmen einer Orchestervollversammlung hat Sir Simon Rattle bekannt gegeben, dass er mit dem Auslaufen seines derzeitigen Vertrages im Sommer 2018 seine Amtszeit als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker beenden wird.
Sir Simon Rattle: “2018 werde ich 16 Jahre mit
den Berliner Philharmonikern zusammengearbeitet haben. Davor war ich bereits
18 Jahre Chefdirigent in Birmingham. Außerdem werde ich dann kurz
vor meinem 64. Geburtstag stehen. Als ein „Liverpudlian“ kann
man diesen besonderen Geburtstag nicht ohne die Frage der Beatles:
„Will you still need me, when I’m 64?“ begehen. Ich bin mir
sicher, dass es dann an der Zeit ist, dass jemand anderes die große
und großartige Herausforderung übernehmen sollte, die
Berliner Philharmoniker heißt.
Die Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen. Ich liebe dieses
Orchester und habe auch deswegen den Musikern meinen Entschluss
so früh wie möglich mitgeteilt. Ich hoffe sehr, dass ihnen
damit genug Zeit bleibt, um in Ruhe die weitere Planung zu beginnen.
Ich freue mich auf viele schöne Konzerte in den kommenden fünf
Jahren und darüber hinaus und bin sehr dankbar für die
bisherige gemeinsame Zeit.“
Peter Riegelbauer/Stefan Dohr, Orchestervorstand: „Wir bedauern die Entscheidung Simon Rattles, dem Orchester mit seinem Vertragsende 2018 nicht mehr als künstlerischer Leiter zur Verfügung zu stehen. Zugleich respektieren wir seinen persönlichen Entschluss. Die Zusammenarbeit mit ihm ist durch große gegenseitige Sympathie und respektvollen künstlerischen und menschlichen Umgang geprägt. Dies ist für uns eine wunderbare Grundlage für die gemeinsame Arbeit mit Sir Simon als künstlerischem Leiter in den kommenden fünf Jahren. Wir freuen uns auf viele spannende Projekte, die bereits in Planung sind. Auch nach 2018 werden wir ihm freundschaftlich und eng verbunden bleiben.“
Martin Hoffmann, Intendant: „Für die Stiftung Berliner Philharmoniker und die Stadt Berlin ist das eine sehr bedauerliche Nachricht. Ich habe großen Respekt vor der Entscheidung Sir Simon Rattles. Mit seiner herausragenden Musikalität und Kreativität begeistert er täglich neue Zuhörer für das Orchester und prägt die nationale und internationale Wahrnehmung der Berliner Philharmoniker als vitaler Kulturbotschafter Berlins. Ich freue mich auf die weitere gemeinsame Arbeit im Sinne des Orchesters und der Stiftung.“