Eine übermäßig erfolgreiche Spielzeit war die ablaufende gerade nicht. Intendantin Kirsten Harms experimentiert, will neue, möglicherweise zu Unrecht vergessene Stücke, in Berlin unbekannte Regisseure dem Publikum nahebringen. Der in den späten Götz-Friedrich-Jahren und dann von den Nachfolgern ramponierte Ruf des Hauses wirkt da kontraproduktiv. Die Geduld mit dem Hause ist geschwunden. Man will Erfolge.
Am ehesten konnte man sich die versprechen beim Graben im Bergwerk des Vergessenen. 1907 sollte Alexander von Zemlinskys Oper „Traumgörge“ an der Wiener Hofoper uraufgeführt werden. Nach Gustav Mahlers Rückzug aus der Leitung blieb das Werk über siebzig Jahre liegen. Ab der Deutschen Oper hat man nun Joachim Schlömer diesen romantischen Traum eines jungen Schwärmers von einem innerlich befriedeten Leben anvertraut. Von Jens Kilian hat Schlömer sich dazu eine nüchterne Rolltreppen-Unterführung bauen lassen. Business-Leute, Skater, Penner, Zuhälter bevölkern sie. Görge sortiert dort die Manuskripte der Märchen, die er musikalisch zum Leben wecken will. Eine Revolution, in die er als Anführer hinein gezogen wird, artet aus zur Hexenjagd nach seiner neuen Geliebten Gertraud. Am Ende feiern sie Erntedank auf Leichenbergen. Und auch Gertraud schwindet dahin.
Zemlinskys Musik klingt fast impressionistisch mit Volkslied-Assoziationen. Jacques Lacombe dirigiert sie mit etwas viel Pathos. Ein klangschön intonierender Görge ist Steve Davislim, Manuela Uhl seine spielfreudige zweite Partnerin Gertraud. Fast alle historischen Assoziationen an die im Stück gemeinte antijüdische Pogromstimmung im Fin-de-siècle-Wien sind ausgemerzt. Immerhin kommt die Traumpartnerin Gertraud zuerst als Sisi-Double in Schwarz auf einem Rappen geritten. Ungelenk geht Schlömer um mit dem Chor, allzu gern lässt er den (verdoppelten) Vorhang öffnen und schließen, zwiespältig wirkt seine Ironisierung inneren Friedens. Ohne dass man sich ausgiebig mit dem Stoff befasst, kann man das Stück in dieser von der Musik angestrengt entfremdeten Interpretation kaum erkennen. Das Publikumsinteresse bröckelte schon stark bei der zweiten Vorstellung. Der Premiere hat die Opernleitung ein viertägiges Symposion angegliedert. Zemlinsky kann warten, meinte einst Arnold Schönberg. Worauf wohl?
Bei seiner Einrichtung von Richard Strauss‘ „Arabella“ verlegte Regisseur Alexander von Pfeil im Vorjahr das Prekariat einer österreichischen Adelsfamilie in eine Detroiter Tiefgarage. Es war Pfeils Einstands-Inszenierung als Chefregisseur der Deutschen Oper Berlin. Weil nicht viel mehr zu bewundern war als Bernd Damovskys getreulicher Nachbau jener historischen Garage aus der Zeit des frühen vorigen Jahrhunderts und die tapfer darin ein- und ausparkenden Autos samt Ganoven- und auch sonstigem Verkehr, zauste das Premieren-Publikum den Regisseur mit heftigen Buhs. Die durfte er auch jetzt wieder einstecken, als er – wiederum mit Damovsky – seinen neuen „Freischütz“ präsentierte. Allerdings hatte der musikalische Chef des Hauses, Renato Palumbo, seinen nicht unerheblichen Anteil an diesem Buhsturm.
Palumbos Domäne ist die italienische Oper. Mit der deutschen Romantik von Weber bis Wagner hatte er bislang wenig im Sinn. Seine offensichtliche Nervosität versuchte er zu überspielen mit forcierten Tempi, unartikuliertem Drüber-hinweg-Musizieren. Schon in der Ouvertüre. Immer wieder schlingerte er bei der Koordination von Bühne und Graben, zumal mit dem Chor. Der Jägerchor geriet fast völlig aus den Fugen. Obstruktion beim Chor, beim Orchester? Viel zu tun hatte der Chor jedenfalls nicht, und vielleicht lag es ja vor allem daran. Aber auch der einst die Wälder arglos durchstreifende Max kam mit seiner berühmten Arie immer mal ins Wanken.
Allerdings konnte man sängerische Spitzenkräfte kaum aufbieten. Etwas näselig in der Tongebung ist der Max des Will Hartmann. Als Figur muss er ständig pendeln zwischen Ruppigkeit und Freund Hasenfuß. Bei den Frauenpartien musste man kurzfristig auf die Alternativbesetzungen umpolen. Michaela Kaune als Agathe kann zwar ihren Sopran schön strömen lassen, aber in den piani neigt ihre Stimme zum Wackeln. Zudem lässt Palumbo sie ihre Arien, zumal die Kavatine, sentimentalisch überdehnen. Cécile de Boevers Ännchen wiederum fehlt es an soubrettiger Leichtigkeit. Auch ist sie als Figur nicht klar gezeichnet.
Als Spielort haben Regisseur und Bühnenbildner eine der seit Peter Konwitschnys Stuttgarter „Zauberflöte“ so beliebten Theaterkneipen gewählt. Allerdings: mit Kohl‘schem Aquarium und Lüstern zu Hauf wie in Erichs Lampenladen. Später werden noch die erlegten und für den Hochzeitsschmaus auszuweidenden Tiere dazu gehängt. Auch ein allerdings kaum zur Körper-Ertüchtigung genutzter Punchball pendelt von der Decke herum. Alle hängen irgendwie rum, saufen, schwofen, vertiefen sich in die Pinups an den Wänden inklusive Altförster Kuno, der der Agathe unschön auf die Kopfdecke fällt. Hätte sie nur etwas heftiger mit ihrer weißen Taube gegurrt, die sie anfangs im Käfig spazieren trug! Die richtigen Schuhe an die Füße zu kriegen, scheint ihr im Wortsinn drückendstes Problem. Ruckediguh!
Aber auch die Wolfsschlucht ist hier bloßes Theater. Ein gelber Kreis, aus dem Dämpfe steigen, um den Samiel – eine Art blutschlabbernder Wolfshund – ständig kreist und in dem Kaspar vorm Mischen der Freikugel-Zutaten selbst fast schon in Ohnmacht fällt. Vampirhaft gierig leckt das Tier am Ende seine Beute, den toten Kaspar. Derweil heben alle unter Anleitung des als Pater zum Dankgebet rufenden Eremiten schon die Sektkelche zur Brust – kleine Provokation. Aber es kribbelt und blubbert immer nur ein bisschen an der Oberfläche. Indes haben die drei sprichwörtlichen Affen noch ihren großen Auftritt und üben schon mal mit der leeren Flasche das „und raus bist du“-Spiel. Jeder pflegt hier seinen Affen, ist wohl die tiefschürfende Erkenntnis des Abends. Affengeil? Affenliebe? Affentheater? Affenschande? Affenplage? Was darf man denn nun assoziieren?
In der kommenden Spielzeit ist von Alexander von Pfeil keine neue Produktion angekündigt. Daran sich knüpfende weiter spinnende Spekulationen um ihren Chefregisseur dämpfte Intendantin Kirsten Harms indes jüngst bei ihrer Jahrespressekonferenz. Hingegen will man sich am Hause unter anderem dem Mystizismus zuwenden mit der szenischen Erstaufführung einer nachgelassenen, am Ende des zweiten Weltkriegs entstandenen Oper von Walter Braunfels über die „heilige Johanna“. Besorgen soll ihr es Christoph Schlingensief, und der habe ihr eine „seröse Arbeit“ versprochen, versicherte die Intendantin.
Die inkriminierte Schlussszene ist bekanntlich stumm und wurde auch diesmal nur von Zwischenrufern orchestriert. Die kommentierten abwechselnd mit „aufhören“, „buh“, „gut gemacht“, „bravo“. König Idomeneo kommt da irre lachend auf die Bühne mit einem blutverschmierten Sack von Köpfen. Die gehörten einst Buddha, Christus, Poseidon und Mohammed, und der Ex-König drapiert sie nun sorgfältig auf den vier Stühlen. Idomeneo hat in der Szene davor die Propheten düpiert, indem er ihnen das Opfer, seinen Sohn Idamante und künftige weitere Opfer, verweigert hat. Er will Frieden haben. Endlich auch inneren Frieden. Sein Sohn soll regieren und seine Geliebte, die erbeutete Trojaner-Prinzessin Ilja, heiraten – was den Leuten in Kreta aber gar nicht gefällt. Sie wollen weiter ihre blutigen Schauspiele. Weswegen sie das Paar auch bedrängen, das dann aus der Umzingelung flieht. Und auch die Propheten legen empört ihre Kleider ab und gehen. Idomeneo will mit seiner Kopf-ab-Aktion radikal Schluss machen mit den numinosen so genannt höheren Wesen, die die Menschen kujonieren. Jeder soll nach seiner Façon glücklich werden. Und sein Sohn ist ja im wörtlichen Sinn schon auf dem Wege mit Ilja. Idomeneo allerdings trifft der Schlag nach seiner Aktion. Er kann nicht mehr profitieren von diesem Schnitt. Ende.
Der Abend begann mit halbstündiger Verspätung. 3sat hatte sich aufgebaut im Parkett-Foyer mit Podium und Schminktisch. Aus den Lautsprechern hört man einen Moderator etwas säuseln von: ‚eine Intendantin habe den Mut gehabt, Angst zu haben‘ und so weiter. Und auch hernach wird weiter getalkt. Der Bundesinnenminister, dessen Rollstuhl ich beim Hinausgehen passiere, kann ein großes Gähnen nicht unterdrücken. Oder darf man das überhaupt sagen? Seine Wächter mussten den ganzen Abend an der Parkett-Wand lehnen und die Augen schweifen lassen. In der Pause diskutieren sie, wie’s ihnen gefallen hat. Die Antworten sind gemixt. Aber was war diese Aufführung schon? Eher eine Karikatur der eigentlichen Inszenierung. Ein Kollegin neben mir aus Schweden meint, „über inszeniert“ wirke das. Nein, sage ich, keiner der Solisten hat je diese Inszenierung mit Hans Neuenfels geprobt. Sie alle singen ihren Rollen quasi hinterher. Mehr schlecht als recht, mit Ausnahme von Ilja. Die allerdings, Nicole Cabell, hat darstellerisch außer Klischees auch nichts zu bieten. Und aus dem Graben kommt von Ralf Weikert ja auch nur Gesäusel. Das haben wir mit Lothar Zagrosek sehr anders in Erinnerung.
Eine Aufführung unter Polizeischutz? Es gab sie schon aus nichtigeren Anlässen. Wenn etwa Arturo Toscanini zwei Drittel eines Orchesters wegen Unfähigkeit kurz vor einer Premiere auswechselte und Randale von den Geschassten drohte. An diesem Abend ist der Weg in die Deutsche Oper durch Pulks von interviewenden Reporten (und dann auch wieder hinaus), wie der Einlass in den Abflugbereich eines Flughafens mit Durchleuchten aller Metallwaren und Probe-Anknipsen des Handys, Bodycheck. Und so viele telefonierende Besucher, die Sätze sagen wie „keine besonderen Vorkommnisse“, sieht man sonst auch so gut wie nie. Immerhin die Security-Leute laufen nicht mit Knöpfen in den Ohren herum sondern nur mit Ansteckern am Revers. Aber dezent? Die Aufführung selbst ist ein einziges Plädoyer gegen das in Berlin gerade wieder mal heiß diskutierte Thema Repertoire-Theater, wo lange – in diesem Fall drei Jahre! – nicht mehr gespielte Inszenierungen ohne detaillierte quasi Neueinstudierungs-Proben wieder aufgeführt werden, wo die Sänger eigentlich nicht wissen, warum sie auf der Bühne stehen und was sie tun. Eine Farce.
Und Regisseur Hans Neuenfels tat nur zu Recht gut daran, sie sich nicht zuzumuten. Sein Kommentar zu dem ganzen Vorgang schon vorher: „Das Wichtige, finde ich, und das ist eine politische Geschichte: dass die Kanzlerin, Frau Merkel, sich einmal klar geäußert hat, politisch, was man tun und lassen sollte in diesem Staat. Und dass das ausgerechnet eine Oper ist, die sie dazu provoziert hat, zu diesen klaren Äußerungen, das finde ich ein absolutes Liebeseingeständnis – gewollt oder nicht gewollt – zur Oper.“ Seine neue „Zauberflöte“ an der Komischen Oper variiert die im „Idomeneo“ angespielten Motive ohnehin frischer, triftiger. Den Oberpriester im „Idomeneo“ lässt er übrigens als Zirkusdirektor auftreten. Wie weise.
Leidenschaftlich hatte Intendantin Kirsten Harms vor einigen Tagen noch plädiert für die Eigenständigkeit ihres Hauses: dass die Deutsche Oper Berlin nicht, wie es das Papier des scheidenden Opernstiftung-Generaldirektors Michael Schindhelm empfiehlt, umgebaut wird in einen Semi-Stagione-Betrieb. Das hieße ein Theater ohne eigenes Ensemble, ohne eigenes Profil. Inzwischen muss man eher Angst haben vor diesem Eigenprofil.
Die Idee, Giuseppe Verdis ob seines wirr verschlungenen Librettos kaum je plausibel zu machende Oper über den vom Korsaren zum Dogen aufgestiegenen Simon Boccanegra auf den Spielplan zu setzen, entstand wohl als flankierende Maßnahme zu Alberto Franchettis Germania, mit dem die Hausherrin kürzlich die Spielzeit eröffnete – und das nun vor gähnend leerem Haus läuft. Franchettis Oper war ein für das Italien vor hundert Jahren gemeinter Appell zu innerem Frieden und Versöhnung. Und auch die eindrucksvollste Musik seines Simon Boccanegra hat Verdi einem solchen Aufruf zur Versöhnung gewidmet in einem vom Parteienstreit um die Titelfigur mit dunkler Vergangenheit zerwühlten Genua.
Was nun aber der aus der Hamburger Götz-Friedrich-Schule hervorgegangene und kürzlich auch noch mit einem Götz-Friedrich-Regie-Preis bedachte Regisseur Lorenzo Fioroni daraus macht, spottet jeglicher Beschreibung. Durften wir in der von dem ebenfalls aus der Hamburger Kaderschmiede stammenden Chefregisseur Alexander von Pfeil verantworteten Strauss-Inszenierung Arabella vor allem eine Garage bewundern mit ein- und ausfahrenden PKWs als Hauptattraktion, so wird uns jetzt ein Bahnhof mit einer fauchenden Riesen-Altlok als stücktragend präsentiert. Ein Sackbahnhof.
Über den Bahnsteig des aufwändigen Konstrukts wuseln Menschen durcheinander in den verwirrendsten Kostümierungen (Katharina Gault). Auf der Lok kommt es zum Höhepunkt, wenn der Heizer (oder Lokführer?) sich eine Puppe greift zum buchstäblich heißen Sex. In einem zweiten Bild (Bühne: Cordelia Matthes) wird uns ein Bahnsteig mit Spielzeug-Modelleisenbahn, Flipper-Kiosk und immer wieder fauchendem Untergrund gezeigt, aus dem dann Menschen aufsteigen.
Bei einem dritten Bild ist das Innere eines Salonwagens in Jumbo-Bühnenbreite mit röhrenden Hirschen an der Wand, Bildschirm und per Video durcheilten Gleisen der Blickfang. Herren mit Cut und Zylinder halten hier ihre Versammlung ab oder prügeln sich mit Eindringlingen. Der Doge hat hier sein Schlafcoupé. Von seinem Bett aus kann er fernsehen und zappt bald von den Straßenkämpfen draußen zu Tom & Jerry, die einzige zündende Idee dieses von überlangen Umbaupausen ermüdend gestreckten, in passend düsteres Licht getauchten und überhaupt dilettantisch-desaströsen Abends.
Musiziert wird unter der Leitung von Yves Abel immerhin sehr ansprechend. Und das war auch das Einzige, was das Publikum von dieser am Ende im Buh-Orkan untergegangenen Produktion übrig ließ, auch wenn die applaudierten Figuren, voran Roberto Frontali als Boccanegra und Tamar Iveri als seine Tochter Maria, kaum je Profil erlangen. Man hätte sich in der Tat die ganze teure Ausstattung sparen und das Stück konzertant spielen können. So hat das Haus nun einen weiteren Klotz am Bein und die Leitung ein Problem mehr.
Die Deutsche Oper war und sollte sein ein Hort innovativen Musiktheaters. Zum Götz-Friedrich-Gedächtnis-Wärmeraum taugt sie nicht. Und es ist auch fraglich, ob der frühere Patriarch sich nicht bedanken würde für derart kleinkarierten Stadttheater-„Realismus“.
Die Deutsche Oper hat sich herausgeputzt. Die Fassade bekam einen goldenen Glitzermantel, die Foyers wurden entrümpelt, die Gastronomie wurde aufgepeppt und die Bühnen-Untermaschinerie ausgetauscht. Zwei Jahre ließ sich die neue Hausherrin Kirsten Harms Zeit bis zu ihrer ersten eigenen Arbeit – oder musste sich Zeit lassen. Mit dieser Inszenierung setzt sie eine Linie fort, die ihr schon in Kiel immer wieder für Aufmerksamkeit sicherte: „Ausgrabungen“. Nun also Germania von Alberto Franchetti - eine italienische Oper über Deutschland und seine Nationenwerdung.
Der musikalisch wie szenisch vielleicht eindrucksvollste Teil ist ein
sinfonisches Intermezzo, eigentlich eine Schlachtenmusik. Ein
irrlichterndes Flackern mit einem emphatischen Siegeschor. Aber was
gibt‘s hier zu feiern? Auf der Bühne sieht man eine hochgerüstete
Germania durch ein dampfendes Feld von Trümmern und Tierkadavern
schreiten. Stück um Stück legt Germania ihre Armierungen ab, den
Armschutz, den Helm, den Brustpanzer, und geht still davon. Ricke taucht
auf, eine junge Frau zwischen zwei Männern, die auf je eigene Art dies
Deutschland verändern wollten. Sie sucht nach ihnen. Sie findet ihren
sterbenden Mann Federico Loewe und dann auch den toten Geliebten Carlo
Worms. Federico verzeiht ihr, und er will, dass auch sie verzeiht, dass
sie sich alle versöhnen. Dann hört man leises Trommeln. Napoleon zieht
ab mit seinen geschlagenen Truppen. „Deutschland ist frei“, ruft Loewe
noch voller Begeisterung – und stirbt.
Etwas bombastisch-melodramatisch schließt diese Oper Germania. 1902 wurde sie uraufgeführt an der Mailänder Scala unter Arturo Toscanini mit dann weltweitem Erfolg. Nur in Deutschland konnte die Deutschland-Hommage des italienisch-jüdischen Komponisten Alberto Franchetti nicht reüssieren. Ihr Thema: die Anti-Napoleonischen Befreiungskriege zwischen 1806, der Schlacht von Jena-Auerstedt, und 1813, der Völkerschlacht von Leipzig. Ein Memento gegen Hass säenden und „Helden“ gebärenden Nationalismus sollte es sein. Im Wilhelminischen Deutschland wollte man davon nichts wissen. Dabei kannte Franchetti die Verhältnisse in Deutschland sehr gut. Er hatte, aus einer reichen Familie stammend, hier studiert, ließ sich zeitweise sogar in Baden-Baden nieder.
Kirsten Harms wollte das Stück schon früher einmal der Vergessenheit entreißen, aber sie sah für eine solche Thematik kein geeignetes Umfeld. Jetzt hat sie es sich gewählt für ihre Einstandsinszenierung als Intendantin der Deutschen Oper Berlin. Und trotz der Turbulenzen der letzten Wochen wurde es ein zumindest mittlerer Erfolg. Zeigen will Harms mit Germania, wie zerstörerisch verbohrter Nationalismus wirken kann. Und dass die Premiere jetzt unter besonders erschwerten Bedingungen stand, musste sie, wie sie sagt, kühlen Kopfes „durchziehen“. Freilich, das Stück hat Schwächen. Das Libretto des Puccini-Zulieferers Luigi Illica ist historisch unscharf. Zwar zeigt es in einem Prolog, wie deutsche Studenten und Professoren um eine Erneuerung des Landes ringen – Harms lässt sie an und auf einem bühnenbreiten Tisch vor einer Schriftwand disputieren.
Napoleon und seine Truppen aber figurieren in der Oper nur als Zerstörer. Dass der Imperator den alten preußischen Ständestaat erst aufrollen musste, um hier Ansätze zu Reformen auch zu ermöglichen, wird nicht deutlich. In einem zweiten Bild nach Einfall der Truppen gleicht Deutschland mit einem entwurzelten Baum als bühnenfüllendem Environment einem Wintermärchen. Auch die Verquickung mit einer kolportagehaften Dreiecksgeschichte der beiden Studenten um die junge Frau Ricke – des eher jakobinischen Loewe und des eher idealistischen Worms, wobei Loewe sich dann zum Versöhnungswilligen wandelt – führt gelegentlich zu eher unfreiwilliger Komik.
Franchettis Musik hat durchaus Kraft. Sie nippt mal am deutschen Liedgut, bedient sich bei Wagner – zwischen Meistersingern und Walküre –, bei Puccini oder sogar auch bei Mussorgsky und Tschaikowsky. Und doch versucht sie immer einen eigenen Ton zu finden. Das Erstaunlichste der Aufführung ist, wie der neue GMD Renato Palumbo das Orchester der Deutschen Oper zu einem frischen und nuancierten Klang animiert. Offensichtlich hat man zueinander gefunden. Von den Sängern verdient Lob vor allem Bruno Caproni als der idealistische Worms, während Carlo Ventre als Loewe und auch Lise Lindstrom als Ricke doch allzu sehr forcieren. Viel Beifall gab es am Ende für die Sänger. Kirsten Harms und ihr Team mit Bernd Damovsky (Bühne) und Gabriele Jaenicke (Kostüme) mussten aber auch kräftige Buhs einstecken. Fraglich ist, ob sie der Intendantin galten oder der Regisseurin. In den Augen der Kritikerkollegen galten sie vor allem der Regisseurin.
Ein mitreißender Abend war es sicher nicht, aber ein historisch interessanter. Und er zeigt einmal mehr: es gab durchaus mäßigende Stimmen vor dem Ersten Weltkrieg. Aber man kann sich auch des Verdachts nicht ganz erwehren, dass der Mailänder Verdi-Verlag Ricordi mit diesem von ihm angestoßenen Projekt ein Damm bauen wollte gegen die hoch schwappende Wagner-Flut. Und nicht zuletzt sollte es wohl auch eine Ergebenheitsadresse sein an die damals ihre Rolle suchende neue europäische Großmacht Deutschland. Oder auch eine Mahnung an die Landsleute, das noch nicht lange geeinte Italien nicht wieder zerfasern zu lassen? Für die gegenwärtige Diskussion ums Deutsch-Nationale taugt die Oper indes kaum. Da gibt es sensiblere Regionen.
Es war die zentrale Szene und auch die packendste – es geht um die Frage, wem ein Mensch mehr trauen soll, irgendwelchen unbekannten Stimmen aus dem mythischen Untergrund oder seiner eigenen Vernunft? König Idomeneo kehrt heim vom zermürbenden Krieg um Troja nach Kreta. Aber die Götter haben ihm eine letzte Prüfung auferlegt. Mit einem Sturm wollen sie ihn an der Landung hindern. Und Rettung wird der König nur finden, wenn er dem Meeresgott Poseidon ein Menschenopfer verspricht. Idomeneo soll den ersten Menschen töten, dem er am Strand begegnet. Es ist, wie sich zeigt, der eigene Sohn Idamante. Der Vater überlegt nun vieles, den Sohn vor dem Kannibalen-Schwur zu bewahren. Aber alles, was er sich ausdenkt, funktioniert nicht. Schon gar nicht der Versuch, den Sohn einfach wegzuschicken. Poseidon pierct den Ausreisewilligen heftig mit seiner Dreizack-Forke und zwingt ihn zum Bleiben.
So nimmt der als Opfer Todgeweihte selber den Kampf auf gegen die Mächte des Irrationalen. Die Höflinge, vorher in bunten, barockisierenden Kleidern, die Damen in derwischhaft glockigen Reifröcken, bewaffnen sich mit Beilen. Wie auf einer Kommandobrücke werden die Götter hereingefahren: Ein grünlicher Poseidon, ein goldener Buddha, ein weißer Mohammed mit Schador und Kaftan und ein schmächtiger Christus. Am Ende müssen sie ihre Kleider ablegen, sie obsiegen nicht mit der Einforderung des Opfers. Idamante, der Sohn, hat den Vater Idomeneo zum Kampf gegen die Gottheiten mitgerissen. In Unterhosen treten sie ab von der Bühne. Auf die „Stimme“, die per Lautsprecher Idomeneo noch den Thronverzicht empfiehlt zugunsten des Sohns, schießt er mit seiner Pistole. Er weiß schon selber, was Sache ist. In einem stummen Nachspiel präsentiert der zum Götter-Schlachtemeister Emanzipierte die blutigen Glatzen auf ihren leeren Stühlen. Er will keine neuen Religions-Stifter.
Gott ist tot, verkündete schon Friedrich Nietzsche. Regisseur Hans Neuenfels übersetzt diese These mit dem Bild der abgeschlagenen Köpfe. Er will verdeutlichen, was Mozart 1781mit diesem seinem Plädoyer für die Aufklärung wollte: Befreiung vom Über-Ich durch Stärkung des eigenen Ich. „Indem ein Mensch das Leben für einen anderen bereit ist herzugeben, lädt er eine große Schuld auf sich“, meinte Neuenfels erklärend damals. Und daraus ergebe sich „ein Labyrinth, ein Chaos, eine Beschäftigung: Wie komme ich raus aus dieser Schuld, wie werde ich damit fertig, dass ich mein Leben für ein anderes eintausche?“ Der „Tausch“ war es, was ihn interessierte. Und Neuenfels erzählte diesen Vater-Sohn-Konflikt im März 2003 an der Deutschen Oper Berlin in einem arenenartigen rokoko-schmutzig-rosanen Bühnenbild seines Lieblings-Ausstatters Reinhard von der Thannen mit vielen Leinwand-Inserts und Schrifttafeln.
Kann man das falsch verstehen? Eigentlich nicht – trotz oder gerade wegen der Vielschichtigkeit, in der Neuenfels das auffächerte mit den vielen hinzu erfundenen Figuren. Ilja, die aus Troja verschleppte Trojaner-Prinzessin, die in den Kreter-Prinzen Idamante sich verliebt, wird in ihren inneren Konflikten gezeigt, wie sie mit dem Vater Priamos und den Brüdern kämpft für ihre Liebe. Die Agamemnon-Tochter Elektra, ebenfalls verliebt in Idamante und Zuflucht findend auf Kreta, sieht man mit einer Art Courage-Wägelchen durch die Szene ziehen. Das Andenken des Vaters beschwört sie, indem sie seinen Mantel auf ein Tischchen deckt und mit Steinen beschwert wie ein Grab; in ihre heile Kinderwelt träumt sie sich zurück mit Brüderchen Orest und Schwesterchen Chrysothemis, indem sie sich mit ihnen in ein hundehüttengroßes lichtes Tempelchen verkriecht.
Neuenfels zeigte die menschlichen Tragödien eines Kriegs und seiner Folgen: was passiert mit Menschen, die falschen Leitbildern nachlaufen, ihnen unbedingt, auf Gedeih und Verderb ergeben sind und dabei sich selbst und andere zerstören. Weder Mozart noch Neuenfels wollen werten, sie zeigen verschiedene Verhaltensmuster. Die Thematik ist brisant, und sie ist aktueller denn je. Die jetzt verfügte Absetzung wegen vage vermuteter möglicher Anschläge schwer nachvollziehbar. Intendantin Kirsten Harms war da offenbar falsch beraten. Neuenfels würde diese Inszenierung heute anders akzentuieren, wie er jetzt sagte. Aber schön ist, dass nun alle (Politiker-) Welt sich für die Freiheit der Kunst ins Zeug wirft, und geradezu verlockend wäre, in Osama und seinen Jüngern neue Mozart-Freunde zu entdecken.
Die Aufführung beginnt schon draußen vor der Tür, an der „Steinschlagmauer“ der Deutschen Oper. Fassadenkletterer hangeln sich an der Kieswand empor. Drinnen in der Eingangshalle, in den Foyers, sitzen, stehen, wandeln kleine Grüppchen von Musikern, „möblieren“ à la Satie mit Mozartischem die Räume.
Fragmente heißt der Abend. Statt einer geplanten Finta Giardiniera hat man – keine schlechte Idee – ihn als Beitrag zum Mozart-Jahr ins Programm gerückt. Neuproduktionen der „großen“ Mozart-Opern sind in Berlin bis 2009 für die Komische Oper reserviert. Im Zentrum des Abends: „L’Oca del Cairo“ (Die Gans von Kairo), eine Buffa, an die Mozart 1783 sich machte. Mit der Entführung hatte er sich auf dem „freien Markt“ in Wien etabliert. Nun musste er die Theater-Maschinerie füttern. Dutzende Libretti durchforstete er. Beim ihm vom Idomeneo-Librettisten Giovanni Battista Varesco gereichten griff er zu. Aber das orientalisierende Federvieh blieb ihm im Hals stecken. Kaum mehr als den ersten Akt bettete er in Musik.
Die Gans-Geschichte ist eine jener zeittypischen Komödien, in denen ein adliger Vater seine Tochter standesgemäß verheiraten will. Die aber hat sich längst einen Liebhaber ihres Herzens gewählt. Mit samt ihrer Gouvernante, auf die Don Pippo selbst ein Auge geworfen hat, wird sie in einen Turm gesperrt. Die Liebhaber der beiden Frauen versuchen erst, mittels Brückenbau sie zu befreien. Aber es klappt nicht. Dann mit einer Wunder-Riesen-Gans als sozusagen Trojanischem Pferd soll es gelingen – aber das hat Mozart, der diese Art von Frauen-Befreiung ja schon in der Entführung durchgekaut hatte, nicht mehr interessiert.
Der Regisseur Roland Schwab, sein Dramaturg Christian Baier und der Dirigent Johannes Debus haben dies Material, angereichert mit anderen Fundstücken, zu einem Abend verarbeitet, der Mozart einmal nicht als den ingeniösen Strahlemann zeigen will, sondern in seinem Scheitern. Noch andere Projekte, wie „Lo sposo deluso“ und „Regno delle Amazoni“, die er damals begann, blieben Torsi. Die Ausstatterin Karin Fritz hat für das Projekt eine Bühne entworfen wie einen katakombenartigen Friedhof. Nach hinten abgeschlossen wird er durch eine Rampe, an der eine andere Bühnencrew in prächtigen Kostümen der Zeit minutenlangen Applaus auf sich – und das Publikum im Saal – prasseln lässt.
Mit dem Schließen des eisernen Vorhangs hinten, steigen die vergessenen, weil nicht vollendeten Figuren als Mumien in fetzenartigen Unterkleidern empor. Aus der Seitenwand schiebt sich ein Steg wie ein Brückenkopf herein, der „Turm“, mit den beiden jungen Frauen. An den schrägen Wellblechwänden gegenüber sieht man wieder Kraxler und dann auch eine Figur, die immer wieder eine Kerze entzünden will. Alle wollen sie aus dem Dunkel ans Licht, will das sagen. Auch das Buffo-Diener-Paar, die sich immer wieder vor einen fahrenden Scheinwerfer vorn an der Rampe drängen.
Dramaturgisch ist das alles interessant gedacht. Nur – ein wirklich interessanter Bühnenabend wird daraus nicht. Im Unterschied zu der psychologisch so reich differenzierten Mozart-Musik bleibt das Bewegungs-Repertoire, das der noch junge Regisseur seinen Figuren vorgibt, im Klischeehaften. Es ist viel Gerudere auf der Bühne, das aber nichts erzählt. Es fehlt ein Gefühl für Timing. Kein Funke springt über – außer von der Musik, etwa mit der wunderbaren Arie der Tochter Celidora, der Erika Miklósa, ihre schlanke Stimme gibt, oder etwa den Ensembles.
An den Schluss hat man den „Introitus“ aus dem wohl berühmtesten Mozart-Fragment, dem Requiem, gestellt, um sozusagen „lucem aeternam“, das ewige Licht, auch für diese Fragmente zu entzünden. Aber der tiefe Eindruck, den das hinterlassen könnte, wird sogleich wieder verwischt durch ein angehängtes Klavier-Fragment, das nun aus der Unterbühne erklingt, während eine schwarze Frau als gleichsam Totengeist über die Bühne huscht.
Das Publikum applaudierte der hundertminütigen Veranstaltung am Ende dankbar. Das Inszenierungsteam bekam auch obligatorische Buhs. Als Experiment war das Ganze gemeint, und die Mozartsche Musik allen Erinnerns wert. Als Theater bleibt es papierenes Konzept, wachsbleich, und wie da Flügel wachsen sollen ungewiss.
Leicht zu inszenieren ist das heute gewiss nicht. Ursprünglich sollte es ja etwas werden wie eine Operette, vielleicht den Rosenkavalier rechts überholen. Vom Sujet her wirkt das Stück jedenfalls wie eine Variante zu Franz Lehárs Erfolgsoperette Die lustige Witwe: durch Spielschulden verarmter Adeliger namens Waldner verschachert Tochter an den meist bietenden Reichen, um dem finanziellen Ruin zu entgehen. Und wie im Märchen findet sich in Hugo von Hofmannsthals letztem Libretto für Richard Strauss nach einigen Fast-Karambolagen sogar „der Richtige“ für Arabella, und die zweite Tochter Zdenka kann gleich mit verheiratet werden. Indes der märchenhafte Erfolg, den Strauss sich für das 1933 uraufgeführte Stück erhoffte, stellte sich nie ein. Zynisch schrieb Joseph Goebbels es seinem späteren kurzzeitigen Vorsitzenden der Reichsmusikkammer, als der mal wieder gegen Lehár in Geldsachen quengelte, auch noch ins Stammbuch: die „Massen“ habe er nie.
Alexander von Pfeil, neuer Chefregisseur der Deutschen Oper Berlin, verpflanzt diese Arabella aus dem Wiener Fiakermilieu des mittleren 19.Jahrhunderts in ein Luden- und Mafia-Biotop unbestimmter „Ostigkeit“ von heute. Von Bernd Damovsky hat er sich dazu eine Bühne bauen lassen, die einem 1926 noch vor der großen Weltwirtschaftskrise in der Autometropole Detroit errichteten Superbowl-Filmtheater nachempfunden ist. In deren gruftigem Gewölbe ist eine Garage eingeparkt. Autos sind die Hauptdarsteller dieser neuen Arabella, offensichtlich hochmoderne mit flüsterleisem Hybridantrieb, jedenfalls nicht stinkend und lärmend. Der blaue Auspuffdunst der alles andere als pfeilschnell einrollenden Karossen wird künstlich hergestellt.
Pfeil liebt offensichtlich Autos auf der Bühne und hat die auch schon anderweitig rollen lassen. Seine Waldners leben aus dem Koffer in einem weißen Station Wagon mit Schiebetür. Für Zdenka, die ja eigentlich um die Aussteuer zu sparen als Junge erzogen wird aber dann endlich auch ihr coming out haben will, ist das die ideale nächtliche Fickzelle. Mandryka, der reiche Witwer mit dem Geldköfferchen, kommt im schwarzen Benz, will aber zwischendurch doch mal lieber mit der Bahn abreisen. Aber auch ansonsten zwickt und zwackt es mit Text, Musik und Bühne permanent. Kann man etwa wirklich glauben, dass dieser Mandryka große Wälder besitzt oder dass er diesen Waldner förmlich um die Hand seiner Tochter bittet?
Erfolgreich kann Regisseur von Pfeil das Muffige aus dieser Arabella weg retuschieren. Aber was öffnet er dem Stück mit seinem im Äußerlichen stecken bleibenden Hyperrealismus an neuer Perspektive? Machen Autos sinnlich? Die Bühne lebt von Sinnlichkeit. Und würde nicht der Text in Übertiteln projiziert, man verstünde von der Handlung fast nichts. Pfeil inszeniert keine Vorgänge. Die Figuren stehen wie angewurzelt in ihren Pelzmänteln und Jacken – es ist Fasching und am Ende rieselt in die Garage sogar versöhnlicher Schnee; sie bewegen sich, wenn überhaupt, nur immer nach demselben Schema.
Ulf Schirmer am Pult lässt die Strauss-Partitur mit dem Orchester der Deutschen Oper in voller Klangpracht erblühen. Freilich das Konversationsstück, das Hofmannsthal eigentlich vorschwebte für diese „Lyrische Komödie“, erleben wir hier nicht. Der Mandryka der Aufführung, Jean-Luc Chaignaud, hat allergrößte Mühe über das Orchester „drüber“ zu kommen. Michaela Kaune als Arabella hat es da einfacher. Ihre Stimme ist leicht und beweglich, hat nur noch nicht die große Kraft. Ihre Soli darf sie meist vorn an der Rampe singen. Darstellerisch wird sie hier entschieden unterfordert. Eine wandlungsfähige Zdenka ist Fionnuala McCarthy, Arnold Bezuyen ihr in seiner Gemütlichkeit genasführter Liebhaber Matteo.
Das Publikum quittierte die teils unfreiwillige Komik der Aufführung mit ironischem Beifall, zur Pause und dann insbesondere am Ende aber mit einem erbitterten Buhkonzert fürs Regie-Team. Auch der Mandryka musste viele Buhs einstecken. Umso mehr gefeiert wurden die übrigen Sänger, der Dirigent und das Orchester. Insgesamt kein Traumstart für das neue Team an der Berliner Bismarckstraße. Leider.
„Es gibt Leute, die suchen die Öffentlichkeit, und es gibt Leute, die werden hineingeboren. Ich gehöre zu den Letzteren, und dann kann man es einfach nicht ändern, man muss mit dem leben was man ist.“ Selbstbewusst, unprätentiös, aber auch mit dezidierter Distanz zu ihrer Familiengeschichte weiß Katharina Wagner mit ihrem Prominenz umzugehen. Dass sie mit ihren 27 Jahren sich schon so als Regisseurin exponiert – es war ihre eigene Entscheidung, „wann ich Regieführen anfange und ob ich Regie führe“, beharrt sie in ihrem dezent fränkischen, durch den Probenstress leicht angerauten Alt. Dass sie vom Vater Wolfgang nicht nur als „Wunschmaid“ betrachtet, sondern schon heute in die Bayreuther Planungen eingebunden wird – kein Geheimnis. „Natürlich fragt mich mein Vater, was ich von den jeweiligen halte. Aber letztlich die Entscheidung trägt er.“ Was überhaupt ist für sie wichtig an Oper? „Dass ich deutlich mache, dass Emotionen auf der Bühne sein müssen. Nur so kann es auch einen berühren als Zuschauer. Ob die Bilder schön kitschig sein müssen, der Meinung bin ich nicht. Sondern man kann durchaus Emotionen im Zuschauer hervorrufen durch harte Bilder.“
Zum vierten Mal steht sie am Regie-Pult, nun auf Einladung von Kirsten Harms, der Intendantin der Deutschen Oper Berlin. Eine frühere Einladung von Christian Thielemann, dem Ex-GMD, hatte sie wegen eines möglichen Vorwurfs von „Vetternwirtschaft“ zurückgegeben. Nach Holländer (Würzburg), Waffenschmied (München), Lohengrin (Budapest) versucht sie sich an Giacomo Puccinis trittico (1918), einer späten Reverenz des Komponisten an Richard Wagners Ring. Im Parkett und auf den Rängen viel Prominenz. Um die Gier nach Geld und Liebe geht es in den drei Einaktern – Themen, die der Wagner-„Prinzessin“ ja durchaus vertraut sind: Umgang mit dem Erbe, mit Devotionalien, mit Familienstreitereien, Eifersuchtsszenarien, Verdrängungen. Die drei Kurzopern von Puccinis Triptychon hat Katharina Wagner umgestellt. Das Mittelstück, Suor Angelica setzt sie an den Beginn. Es ist, wie sie sagt, das ihr innerlich am fernsten liegende. Und übertrieben Respekt zollt sie nicht.
Im Konvent der Damen, wo Schwester Angelica ob eines „Fehltritts“ seit sieben Jahren auf Nachricht über ihr Kind wartet, darf die Madonna auf dem Sims auch schon mal eine Zigarettenpause einlegen, wenn sie gerade nicht am Gebets-Weihrauch schnüffelt. Die übrigen Nonnen futtern Chips. Wohlgefällig schaut die Gottesmutter den Fitnessübungen der eher wie Putzfrauen gekleideten Schwestern zu. Nur Angelica wacht und wartet. Bis ihre Tante eines Tags im Kloster auftaucht. Aber statt einer positiven Nachricht vom Kind hetzt sie die Rottweiler auf Angelica, um ihr die Erbschaft abzuschwatzen. Immerhin weiß Angelica nun, dass ihr Kind tot ist. Und für ihren Freitod hat die Madonna offenbar Verständnis. Gedrängt von einem wohlmeinenden Engel räumt sie der in den Himmel aufsteigenden Angelica und ihrem toten Kind den Platz auf der Säule.
Als Mittelstück nimmt Katharina Wagner Gianni Schicchi, im Original der Rausschmeißer. Eine musicalartige Ganovenparodie macht sie daraus. Die Geschichte von einer Familie, die das nicht genehme Testament ihres soeben verstorbenen Onkels zu fälschen sucht und dabei selber über den Löffel balbiert wird, spielt im gleichen Bühnenbild. Aus dem Konvent der Damen ist der Devotionalienhandel des Onkels geworden. Ein Beichtstuhl steht bereit und wird auch heftig frequentiert, als der herbeigerufene Stimmenimitator Gianni Schicchi dem Notar ein neues Testament diktiert. Aber beide machen augenzwinkernd gemeinsame Sache und Schicchi schanzt sich selber die fettesten Schnäppchen zu. Das Haus wird nach der „alles muss raus“-Methode (inklusive natürlich der Verwandten) renoviert.
An den Schluss setzt Katharina Wagner den „Mantel“, il tabarro, sonst üblicherweise das Entree. Es ist ihr das nächste, und sie macht daraus fast ein Zwei-Personen-Stück: Die Krise einer Ehe. Die Frau hat ihr Kind verloren. Sie verliert sich in ihren Träumen – von ihrem Kinde, von einem Liebhaber. Der Mann fingert vorzugsweise am Handy und Laptop. Beziehungslos, stumpf stieren sie in ihrem Bett am Ende vor sich hin, als Ehemann Michele den Liebhaber seiner Frau mit dem Messer in der Bettkuhle versenkt hat. Mit einigem Pep und griffigen Ideen aber auch manch unnötigem Firlefanz ist das gemacht. Alexanders Dodges Ausstattung mit einem Bett als zentralem Möbel liefert den passenden Rahmen. Was Katharina Wagner als Regisseurin nicht gelingt, ist, Spannungsbögen nicht nur zu bauen sondern auch zu halten. Nie hat sie ja selber auf der Bühne gestanden. Das ihr zur Verfügung stehende Repertoire an Bewegungsformen scheint noch schmal. Was sie sicher beherrscht, ist das Handwerk. Und sie weiß es zu organisieren.
Musikalisch war es ein Abend auf hohem Niveau wie lange nicht in der Berliner Deutschen Oper. Unter den Sängern ragten zumal Cristina Gallardo-Domas als Suor Angelica mit breitem Ausdrucksspektrum hervor. Aber auch Alberto Rinaldi überzeugte als gerissener Schicchi (eine Parodie auf den Promi-Anwalt Raue?) oder Paolo Gavanelli als gehörnter Ehemann im tabarro mit seinem sehr weich geführten Organ. Stefano Ranzani spornte das Orchester der Deutschen Oper an zu Höchstleistungen. Der Jubel des Publikums galt indes nur der musikalischen Seite. Katharina Wagner musste eine Salve Buhs einstecken. Nicht ganz unerwartet in ihrer exponierten Situation. Ganz überzeugen konnte sie nicht. Das Puccini-Publikum mag keine Respektlosigkeiten. Immerhin Emotionen hat sie bei ihm offensichtlich geweckt.
Lange bleibt Odysseus stumm, eine Trompete ist sein akustischer Stellvertreter. Odysseus schwebt in Erinnerungen, beobachtet sich selbst. Lange sitzt er auf einer Art Ausguck im Bühnenportal, bis er vom Götterboten Hermes herabgeholt und auf die Reise geschickt wird. Erst am Ende, als er auf Penelope trifft, beginnt er zu singen. Da ist er im Heute angekommen – und bleibt doch fremd.
Nicht die klassische Odyssee wollte Isabel Mundry vertonen. Sie entdeckt darin bestimmte Phänomene der Wahrnehmung wie Erinnern, Vergessen, Desorientierung. Und sie wollte sie zeigen an etwas, das jeder nachvollziehen kann, wenn er allein ist in einem stillen Raum, wo schon der eigene Atem einem fremd werden ein kann. Ein Atemzug – die Odyssee nennt sie deshalb ihr knapp eineinhalbstündiges Stück für Sänger, Tänzer, Instrumentalisten und Chor, das nun nach langen Querelen an Berlins Deutscher Oper uraufgeführt wurde. Den Auftrag hatte noch der frühere Intendant Udo Zimmermann erteilt. Unter seinen interimistischen Nachfolgern schien es lange, als würde das Projekt gekippt. Man entschloss sich dann doch, es zu realisieren und nun sogar in „Tage der zeitgenössischen Oper“ zu integrieren. Für die neue Intendantin Kirsten Harms zwar eine Chance der künstlerischen Profilierung. Freilich, was Kulturpolitiker sich wünschen, ist bei den Finanzpolitikern ein rotes Tuch. Dort zählen nur die Kasseneinnahmen.
Penelopes Atem, ihre Erinnerung an den fernen Mann Odysseus löst das Geschehen aus. In der Inszenierung von Reinhild Hoffmann – und sie hat von Anfang an die Konzeption des Stücks mit gestaltet – sitzt Penelope an der Brüstung über dem Orchestergraben, verbringt ihre Zeit mit dem Knüpfen von Webmustern, die sie immer wieder, um die Zeit gleichsam anzuhalten, auflöst. Ihr musikalischer Begleiter, zu ihren Füßen sitzend, ist ein Akkordeonspieler. Eine multiple Figur mal mit geschweiftem Reifrock, mal im engen Latex und gelegentlich wie auf Stelzen – die Götterwelt repräsentierend als Hermes, Athene, Theresias, Kirke – lenkt Odysseus und auch Penelope in immer neue Konstellationen. Besetzt hat Mundry diese Figur sinnigerweise mit einem Altus. Als Athene kleidet sie auch Odysseus bei seiner Rückkehr neu ein. Aber Penelope gegenüber, die immer weiter wie verloren ihre Webmuster dann ohne Garn weiter webt, bleibt Odysseus fremd. Sie streifen sich nur, berühren einander kaum. Odysseus bleibt heimatlos, und er darf auch im Mythos nur eine Nacht bei der Gattin schlafen. Er muss weiter, wieder in den Kampf.
Thematisieren will Mundry mit ihrem Stück den Begriff von Heimat und Fremdheit. Was treibt uns an, was gibt uns das Gefühl von Geborgenheit? Ist Heimat der Ort, wo man geboren ist, oder ist es etwas anderes? Menschen heute suchen „Heimat“ ja eher dort, wo sie Arbeit finden. Und sie begeben sich auf der Suche nach Arbeit weit weg von ihren angestammten Orten. Odysseus erinnert sich zwar seiner Heimat, aber als er auf Ithaka ankommt, erkennt er sie nicht. Mundry setzt dies Fremdbleiben musikalisch um mit einer Sprache, die anfangs sehr farbig, sehr frisch klingt, die dann immer mehr verblasst, ja ins mechanische Repetieren gleitet. Das Orchester ist im ganzen Raum verteilt. Solisten vom Ensemble Recherche begleiten Odysseus bei seiner Reise zu den Lotophagen, zu Kirke, in den Hades. Wenn die Götterwelt eingreift, spielen Musiker auf dem oberen Rang. Auf Anhieb erschließt sich das Ganze nicht. Der Text, später hinzugefügt, bleibt bis zu Odysseus’ Rückkehr bloßes Laut-Material. Und Reinhild Hoffmann abstrahiert mit ihren Tänzern das schon abstrakte Geschehen noch mehr.
Die Ausstattung erarbeiteten Absolventen der Bühnenbildklasse von Hartmut Meyer an der Berliner Universität der Künste. Die Bühne zeigt einen offenen Raum mit umlaufenden Schaukästen. In der Auslage Anzüge und Hemden, aus denen Athene ihren Schützling bedient. Im fahlen Schwarzlicht erscheinen die Kästen angeordnet wie die Umrisse einer Insel. Gegen Ende werden sie zusammen geschoben zu einem Laufsteg für die maskenhaft aggressiven Freier. Besonders witzig und mit Szenenapplaus vom Publikum bedacht das aus einem Gestell als kleiner Ballon aufquellende Auge des Kyklopen, das per Videoprojektion animiert ist. Viel Beifall gab es am Ende für das gesamte Ensemble, für die vorzüglichen Sänger Thomas Laske, Salome Kammer und Kai Wessel, für den Dirigenten Peter Rundel und die Regisseurin Reinhild Hoffmann. Isabel Mundry durfte sich an einem Sonderbeifall laben. Durchaus neuartige Wege geht sie zwischen Oper, Konzert und Tanz. Eine Art Odyssee der Klänge hat sie hier versucht.
„Die brauchen dringend einen großen Erfolg“ meinte Regisseur David Pountney vor der Premiere – und trug’s mit Humor, dass das Publikum am Ende ihn mit Buh-Stürmen auf der Bühne empfing. Dabei hatte er durchaus klug versucht, die beiden so ungleichen Opern-Einakter Cavalleria Rusticana und I Pagilacci in ein sinnvolles Verhältnis zu rücken – angesichts der Verschiedenartigkeit der Werke eigentlich ein Unding, gespeist aus der Tradition. Und Pountney geht nicht mit den brachialen Methoden vor, mit denen der Katalane Calixto Bieito das Verismo-Tandem vor einigen Wochen in Hannover an die Wand fuhr. Er und sein Ausstatter Robert Innes Hopkins legen dezente Fährten von dem einen zum anderen Eifersuchtsdrama. Der Pagliacci-Harlekin streift schon mal als Sandwich-Werbemann mit Zylinder durch die Osterprozession der Cavalleria und wirbt für eine Aufführung der Schausteller-Truppe. Der teure Tote der Cavalleria, Turiddu, der seine Verlobte Santuzza mit der Frau des Gemüsehändlers betrog, wird in der zum Leichenwagen umdrapierten Imbiss-Bude der Mutter durch die Pagliacci-Szene gezogen.
Als Verklammerung dienen zusätzlich die optischen Versatzstücke der Bühnenaufbauten. Anregen lassen hat man sich da von den zahlreich in Sizilien zu besichtigenden Investitionsruinen der Mafia. So gibt es im ersten Teil des Abends als dominierendes Element eine den Asphaltstraßen-Stummel, an deren Rand Pounteny die Cavalleria ansiedelt, überwölbende Betonbrücke, auf der Turiddu und seine Geliebte Lola sich begegnen. Die Brücken-Teile werden in I Pagilacci dann verschoben zu einer Art Bühnenportal für die Schaustellertruppe. Die Straße wird umgedeutet zu einer Insel der Seligen, auf der die von ihrem Macker wegstrebende Nedda von ihrer Liebessehnsucht nach anderen Männern träumt. Aber auch als Tribüne für das nach Sensationen gierende Publikum hat sie zu figurieren. Gerade die Führung des Riesen-Chores erweist sich als eine der Schwächen der Aufführung. In der Cavalleria muss er zu endlosen Prozessionen sich durch die verstellte Landschaft winden, in Bajazzo wird er zu choreografisch gemeinten Freistil-Übungen angehalten. Pountney, Intendant der Bregenzer Festspiele, wo er die riesige Seebühne zu füllen und für jede Produktion quasi ein neues Theater zu bauen und zu organisieren hat, denkt da viel zu pauschal und undifferenziert in großen Bögen.
Immerhin gibt es bei dieser Neuproduktion der Berliner Deutschen Oper einige Sänger der Spitzenklasse zu bewundern. Zumal José Cura als Canio alias der Bajazzo ist nicht nur mit seinem Tenor eine strahlende Erscheinung sondern auch darstellerisch höchst präsent. Über seine Figurenzeichnung als anfangs brutaler Macho, der einem altersschwachen Citroën entsteigt und dann ob der Untreue seiner Nedda sich wandelt zum weinerlichen Weichling, kann man streiten. Aber auch der Turiddu von Peter Seiffert in der Cavalleria ist ein Sängerdarsteller von hohen Graden, mit der nötigen Abgebrühtheit und Verletzlichkeit schweifend zwischen den beiden Frauen. Zu sehr forcierend die Santuzza an seiner Seite: Georgina Lukács. Eine kühl kalkulierende Nedda in I Pagilacci gibt dagegen die kapriziöse Nuccia Focile. Ion Marin im Graben bündelt die Fäden der Partitur exzellent. Er ist nicht nur der bloße Ersatzmann für den ursprünglich vorgesehenen, vor einigen Wochen unerwartet verstorbenen Marcello Viotti. Das Orchester der Deutschen Oper kann er zu einem so geschmeidigen wie auch leuchtenden Klang animieren, durchaus die oft verkleisterten Unterschiede beider Partituren von Pietro Mascagni hie und Ruggiero Leoncavallo dort herausarbeitend. Und immerhin den Sängern, dem Chor und dem Orchester zollte das Publikum schon von Anfang an fast frenetischen Beifall.
Kontrastprogramm auf den Berliner Opernbühnen, und das am gleichen Tag: Volker Schlöndorff kehrte nach vielen Jahren einmal wieder zum Musiktheater zurück. Sasha Waltz wagte die ersten Schritte dorthin. Der Kontrast könnte kaum heftiger sein. Leoš Janáčeks letzte vollendete Oper Aus einem Totenhaus hat sich Schlöndorff noch einmal wieder vorgenommen, eine Einladung noch des früheren GMD der Deutschen Oper, Christian Thielemann.
Eine Aktualisierung der von Janáček nach den Erinnerungen Dostojewskis aus einem russischen Straflager in Sibirien komponierten Oper vermeidet Schlöndorff in seiner Opernarbeit bewusst. Kein Gulag, kein KZ, kein Guantanamo, kein Abu Ghraib ist bei ihm zu sehen. Eher versucht er, die besondere Spannung des Zusammenlebens von Männern auf engstem Raum an solchem Ort zu zeigen. Von Jennifer Bartlett hat er sich dazu zwei Hausgerippe bauen lassen. Panoramen-Bühnenbilder und einige Nadelbäumen simulieren die sibirische Weite. Der Wechsel der Jahreszeiten ist an der Kleidung der Häftlinge nicht zu spüren. Es herrscht ewiger Frühling. Gearbeitet wird kaum. Gelegentlich werden Eimer und Bretter geschleppt. Ansonsten wird getanzt, gerempelt, Theater gespielt und gefeiert – und immer mal wieder geht einer über den Jordan. Fast ein fideler Knast aus der Perspektive des Generals Frosch der Fledermaus ist das, wenn auch in Ketten.
Am Pult des Orchesters der Deutschen Oper waltet Adam Fischer. Thielemann saß nur im Publikum. Forciert packt der Mannheimer Musikchef die Partitur an. In seinem Dauer-Forte bis -Fortissimo gehen die Stimmen der Sänger fast unter. Gesungen wird in Deutsch. Es ist eine Choroper. Den Text kann man aber auch in Übertiteln obendrein noch mal nachlesen. Ebenfalls in Deutsch. Statur unter den Sängern gewinnt eigentlich nur René Kollo, der hier noch einmal wieder auftritt. Eine seltsam außerirdische Veranstaltung ist das Ganze. Der Titel etwas zu wörtlich genommen. An den Hypotheken der Friedrich- und Nach-Friedrich-Ära wird das Haus an der Berliner Bismarckstraße noch lange zu wuchten haben.
Eigentlich wollte Christian Thielemann diese Produktion betreuen. Und so hatte er sich die beteiligten Künstler auch ausgesucht: zumal einen pflegeleichten Routinier fürs Bühnenarrangement. Der Flame Gilbert Deflo war ihm ein sicherer Garant, diesen Part brav zu erfüllen und für seine Nicht-Inszenierung eine Ausstattung entwerfen zu lassen, als wär’s dem Komponisten Giacomo Puccini jemals um historistische Milieuschilderungen zu tun gewesen.
Was Puccini wirklich interessierte an dieser Geschichte des Abbé Prévost aus dem 18.Jahrhundert, war vielmehr das Drama, das Scheitern einer Liebe an ihren existenziellen Bedingungen. Schon ein kurzes Verständigungsgespräch mit seiner Dramaturgin, die darüber einen instruktiven Artikel im Programmheft schreibt, hätte Deflo darüber informieren können. Fluchtpunkt Amerika: In Manon Lescaut, Puccinis früher Meister-Oper, wird es als Thema formuliert. In Fanciulla del West, das Thielemann zuvor dirigiert hatte, ist es später die zentrale Melodie. Bei Bohème, Tosca ist der Flucht-Focus noch eng gezogen. Bei Butterfly spielt es als Projektion im Hintergrund. Immer geht es um diese Sehnsucht, der Enge des alten Lebens zu entkommen in eine neue Freiheit, die dann aber Fatamorgana bleibt.
Umständlich und mit unendlich langen Umbaupausen bekommt man hier von
Bühnenbilder und Ausstatter William Orlandi nun die Phasen der Flucht
Manons erzählt: aus der Kneipe auf dem Weg ins Kloster; aus dem goldenen
Käfig des Luxuslebens als Konkubine des Steuereintreibers mit den
Allongeperücken, Dreispitzen und dem Baldachinbett ins Gefängnis mit
Deportation am grauen Kai. Und schließlich das ganz unsägliche
Schlussbild: die klotzige Leere mit einem rötlichen Wüsten-Teppich als
Manons Sterbeort im gelobten Land Amerika. Ihr einst armer Student Des
Grieux und späterer Chevalier Renato, dessentwegen sie immer wieder
ausbricht, der ihr das Wasser des Lebens nun aber auch nicht mehr
reichen kann, verzweifelt an ihrer Seite.
Am Pult steht statt Thielemann nun Renato Palumbo. Immerhin flott geht
er die Partitur an. Mit Sentimentalitäten hält er sich nicht auf. Aber
es ist doch alles eher grob und knallig, wie er dirigiert. Die Sänger
haben anfangs alle Mühe sich durchzusetzen. Am wenigsten noch Marcello Giordani als Des Grieux. Er kann mit einem machtvollen Organ aufwarten.
Was ihm fehlt, ist der lyrische Schmelz. Trumpf dieser Aufführung ist
Adina Nitescu als Manon. Die Rumänin erweist sich in der Titelpartie als
Sängerin mit kerniger Stimmfärbung, vielleicht etwas schwach in den
Tiefen, aber selbst am Schluss noch zu zartestem Piano fähig. Zu
wünschen gewesen wäre ihr ein Regisseur, der ihr geholfen hätte im
Darstellerischen sich zu emanzipieren von den Primadonnen-Klischees.
Buh-Salven musste schon zur Pause Dirigent Palumbo einstecken, am Ende hatten sich die Gemüter ihm gegenüber wieder beruhigt. Immer besser bekam er das Orchester der Deutschen Oper in den Griff. Die Buhs gegenüber dem Regieteam hielten sich erstaunlich in Grenzen. Einhellig gefeiert wurden die Sänger, voran Adina Nitescu, die man schon als kommenden Star sehen möchte. Das Problem mit dieser Produktion, die bleischwer in den Repertoire-Registern ruhen wird, hat die Intendantin. Kirsten Harms muss gute Mine machen zum bösen Spiel mit einer Inszenierung, die so gar nicht ihren Vorstellungen von Musiktheater entsprechen dürfte.
Immerhin hat man hier eine Produktion, die sich anbietet neue Sänger zu testen. Das Szenische lernt sich im Nu. Nacharbeiten sollte man noch etwas an der allzu sparsamen Übertitelung. Ein bisschen „Arbeit“ sollte man ja dem Besucher schon gönnen beim Zuschauen.
In einem unterirdischen Betonbunker lässt Regisseur und Bühnenbildner Marco Arturo Marelli das Ganze spielen. Die Familiengeschichte des Hauses Allemonde ist eine Untergangsgeschichte. Feucht und kalt ist es in dieser Betonhöhle. Der Wasserstand steigt. In Nischen kauern oder lagern einzelne Familien-Mitglieder. Das Familien-Oberhaupt sitzt im Rollstuhl, künstlich ernährt am Tropf. Nur der junge Herr des Hauses, Golaud, scheint äußerlich jedenfalls kaum angekränkelt. Immer wieder stapft er mit seinen Schieß-Kumpanen hinaus zur Jagd. Dort hat er auch Mélisande aufgegabelt. Ein weiches schmales geistartiges Wesen mit Rapunzel-Haaren. In ihrem langen weißen Kleid scheint sie immun gegen die Unbill der Wetter. Eine Undine mit Boots-Untersatz.
Das Boot ist auch das Haupt-Requisit dieser Neuinszenierung von Debussys einst bahnbrechendem Werk an der Berliner Deutschen Oper. Das Boot ist Sonnendach und Schutzschild. Auf seinem Rücken streckt sich Mélisande beim flirtenden Liebesspiel mit Schwager Pelléas, der berühmten Turmszene. Als Leiter benutzt der eifersüchtige Ehemann Golaud dies Wassergefährt, wenn er den Knaben Yniold auf den Sprossen hochklettern lässt, um das vermutete ehebrecherische Treiben der beiden reportiert zu bekommen. Dies weiße Boot ist dann auch der Todeskahn, auf dem die im Kindbett sterbende Mélisande hinüber gleitet in die andere Existenzform des Seins. Aufrecht stehend wie der Engel in Böcklins berühmtem Todesinsel-Gemälde gleitet sie hinweg. Geleitet wird sie dabei von jungen Frauen in bunten Sommerkleidern. Sie entschwindet hinter einer wie ein Brennofen sich öffnenden Schleuse.
Eher preziös und nicht ganz frei von Kitschverdacht – zumal mit diesem Schluss – ist das geraten. Das vermeintlich Poetische bemüht allzu geläufige Bilder. Der angedachte gesellschaftkritische Affekt bleibt aufgesetzt. Typisch für eine Produktion eines inszenierenden Bühnenbildners, der Marelli von Haus aus ja ist: es fehlt die Reibung zwischen Bühne und Szene. Alles wird untergeordnet einer Bildidee. Unstimmigkeiten zwischen szenischen Vorgängen und Bild werden negiert. Besonders befremdlich wirkt, dass trotz Einheits-Bühnenbild immer wieder längere Umbaupausen eingelegt werden müssen. Für Debussys wie vegetativ sich entfaltende Musik eher störend.
Immerhin hat man an der Deutschen Oper ein exzellentes Sänger-Ensemble aufzubieten. Eine wunderbar weich artikulierende Mélisande ist Véronique Gens. Den quicken Pelléas gibt Richard Croft, den Brutalo Golaud, der seine Mélisande noch auf dem Sterbebett attackiert und demütigt, Laurent Naouri. Am Pult steht Marc Albrecht. An der Deutschen Oper hat er schon einige Produktionen mit geschultert, und manche wünschen sich ihn als Nachfolger für Christian Thielemann, der im Streit den GMD-Posten im Frühjahr schmiss. Albrecht benötigt an diesem Abend aber doch einige Zeit, um das Orchester auf jenen Debussy-typischen Klang einzuschwören, der ihm in den besten Momenten wie der Turmszene dann auch gelingt. Insgesamt spielt das Orchester aber doch sehr diszipliniert, wenn auch nur ausnahmsweise mit dem flirrenden Timbre, das Debussys Musik braucht.
Das Publikum jedenfalls war es voll zufrieden und bejubelte die Aufführung ohne Unterschied. Selten genug in dem Haus an der Bismarckstraße. Voreilige Schlüsse sollte die neu installierte Intendantin, Kirsten Harms, die diese Premiere freilich nur formal verantwortet, nicht ziehen. Wirkliche spannende Opern-Abende sind mit solchen Produktionen nicht zu erzielen. An ihnen haftet der ungute Geschmack des déjà-vu.