Mit einem Schuss beginnt’s. Und man denkt, nun ist man gleich mitten
im Stück. Aber es trudelt nur eine etwas verstörte junge Frau im
dunkelblauen Kleid auf die Bühne, setzt sich auf die Stufen, beginnt
einen Apfel zu schälen und mit einem Buch sich in eine Schaukel zu
verziehen. Aha Tatjana.
Äpfel werden immer wieder geschält, gegessen, weitergereicht. Tische
werden aufgestellt, verschoben, gedeckt, abgedeckt. Lenski, der
Nachbar und Liebhaber von Tatjanas Schwester Olga, wird bei seinem
Besuch gleich auf die Leiter gebeten, um eine Glüh-Birne überm
Tischchen mit den Marmelade-Koch-Utensilien auszuwechseln. Und dabei
verkündet er, wie verliebt er ist, in Olga. So sinnig-sinnlich geht’s
immer zu. Wenn die Bäuerinnen und Bauern im Tanzlied ihren Erntedank
darbringen, stehen sie wie angewurzelt auf der Bühne. Der wunderbare
Chor der Beerenpflückerinnen ertönt gleich ganz aus dem Off. Und beim
Meisterstück der Oper, der Polonaise zu Beginn des 3.Akts bleibt der
Vorhang die meiste Zeit geschlossen – und öffnet sich dann nur für
eine gelangweilt lümmelnde Party-Gesellschaft. Nein, von innen heraus,
aus der Musik gedacht sind diese Lyrischen Szenen Tschaikowskis in der
neuen Hannoveraner Inszenierung von Ingo Kerkhof nicht.
Und leider bleibt von einer so abgeplatteten Szene auch die
musikalische Ausführung dieses „Eugen Onegin“ nicht unberührt.
Ivan
Repušić am Pult vermag zumal etwa der gespenstischen Polonaise kaum
Kraft abzugewinnen. Onegin ist da auf der Flucht vor seiner Schuld
zurückgekehrt nach Sankt Peterburg, trifft Tatjana wieder als nun
verheiratete Gremina, und der Geist des beim Duell erschossenen
Freundes Lenski verfolgt ihn noch immer. Musikalisch besser gelungen
der morgendliche Sonnenaufgang nach Tatjanas Briefszene. Allerdings
lässt die Intonation bei den Streichern an den solistischen Stellen
oft zu wünschen übrig. Sara Eterno als Tatjana kann von den Sängern am
ehesten überzeugen mit einem von Schärfe und überstarkem Vibrato
freilich nicht ganz freien Sopran.
Eher steif bleiben die Männer, insbesondere der Onegin von
Adam Kim,
auch stimmlich. Olga (Julie-Marie Sundal) muss sich immer nervös im
Gesicht kratzen, darf aber Lenski (Philipp Heo, mit
leicht angeschmierten Tönen) beim Duell zuschauen. Fremd bleiben
die Figuren einander (und auch dem Zuschauer), selbst beim Namenstag-Ball. Da werden – wieder
mal – Tischchen aufgestellt. Man sitzt. Tatjana bekommt zu dem Couplet
von Triquet eine Torte auf den Schoß gepflatscht. Der kratzt die Reste
dann wieder ab und verteilt sie in Schälchen. Guten Appetit! Anne
Neusers rostfarbene Bühne begnügt sich mit circa einer Handvoll
Lichtstimmungen. Der Fluss von Tschaikowskis drängender Partitur wird
durch unnötige Vorhänge immer wieder unterbrochen. Von Szenenbeifall
allerdings kaum. Erst am Schluss gibt es freundlichen Applaus des
Publikums, und ein paar schüchterne Buhs fürs Regieteam.
Eine „authentische Interpretation“, vermerkt der Regisseur im
Programmheft, könne er nicht liefern. Das hat auch niemand verlangt.
Eine Interpretation darf man aber schon erwarten. Hier aber wird ein
Stück nur ziemlich lust- und hilflos, klischeehaft-routiniert
abgespult. Man könnte das ja als modisch abhaken, wüsste man nicht,
dass es ungleich sensibler geht. Und das macht schon traurig.
Es ist das wohl kostbarste Juwel im OEuvre von Richard Strauss. Um die Zeitenwende des 1.Weltkriegs wollte auch er neue Wege gehen, versuchte mit seinem Librettisten Hugo von Hofmannsthal den alten von Wagner geerbten Opern-„Panzer“ abzustreifen, die illusionistische Operndramaturgie einer geschlossenen Form mit einer neuen offeneren aufzubrechen, mythologische Tragödie mit gegenwartsnäherer Komödie im Stile der improvisatorischen Commedia dell’arte zu durchdringen.
An der Staatsoper Hannover sieht man bei Strauss-Hofmannsthals „Ariadne auf Naxos“ nun freilich nur Trümmer. Zu einem neuen Ganzen fügt sich da nichts. Schon der erste Eindruck beim Betreten des Theatersaals ist ernüchternd: auf der offenen Bühne ein langer Tisch mit Stühlen, wie zu einer Probenbesprechung. Wenn dann alle Darsteller sich eingefunden haben, taucht eine Figur im Bärenfell auf, die dann losbrabbelt, den Haushofmeister geben zu sollen, und warum er nicht singt, sondern nur den Laut-Sprecher seines Herren mimt. Kurzfristig sei er eingesprungen, woraufhin das Ensemble dann zu einer Art Aerobic-Übung sich anschickt.
Mit derlei von weither geholten statt aus dem Stück entwickelten Ideen geht es weiter. Der Tisch dient vor allem als Räkel-Podium, auf dem die Vortänzerin der Komödianten-Truppe, Zerbinetta, Hof hält und den Komponisten bezirzt, der sich derweil etwas andere Sorgen macht: nämlich wie er sein Stück vor dem Zugriff des kunstunsinnigen Mäzens rettet, der ständig verkünden lässt, wie reich er ist und warum er das auch auf der Bühne sehen will.
Wenn dann nach dem Vorspiel die eigentliche Oper als Mischung aus Ariadne-Tragödie und Zerbinetta-Komödianten-Truppe beginnt, ist auf der Bühne weiter geschäftiges Treiben mit dem Kompositionslehrer als eine Art Zufalls-Regisseur. Ariadne hockt meistens am Tisch oder am Boden, gramgebeugt. Die Nymphen fummeln in Cancan-Kleidchen herum. Zerbinetta windet sich für ihren großen Dialog mit Ariadne fast vom Stuhl und macht es sich dann mit Harlekin gemütlich. Gott Bacchus bringt gleich einen Tisch mit, um sich gehörig in Szene zu setzen.
Am Ende ist es wie am Anfang; Das Ensemble mimt Leibesübungen. Bacchus schaut zu. Ach, und dann ist da noch das anbefohlene Feuerwerk. Lieber allerdings hätte man ein Feuerwerk von Ideen auf der Bühne präsentiert bekommen. Aber bei Regisseur Ingo Kerkhof – soweit man von Regie hier sprechen kann – und seinem Team (Anne Neuser: Bühne, Inge Medert: Kostüme) ist alles stumpf, improvisatorische Leichtigkeit wird hier verwechselt mit Dilettantismus den lieben langen Abend lang.
Immerhin musiziert wird exzellent im Graben. Karen Kamensek versteht die von Strauss über weite Strecken kammermusikalisch angelegte Partitur aufzufächern, ohne ihr den Schmelz zu nehmen. Es ist ihr Antrittsdirigat als neue GMD. Einigen Lorbeer kann sich auch Ina Yoshikawa ersingen mit ihrer großen Zerbinetta-Arie, auch wenn ihre Stimme manchmal etwas gepresst wirkt. Brigitte Hahn findet in ihren Ariadne-Soli den großen Atem, hat allerdings Mühe mit den Tiefen. Ein nur schmetternder Tenor ist Robert Künzli als Bacchus.
Vom Publikum gab’s am Ende vor allem Beifall, nur vereinzelte Buhs. Hätte der reiche Wiener Mäzen auch diese Aufführung bezahlen müssen, er hätte sie wirklich überbezahlt. Aber die Abwesenheit von Kunst hat ja in der Kunst auch ihre lautstarke Lobby.
Radio-O-Ton: Abends Premiere. Die Faschisten machen organisierten Skandal. Einige werden von der Polizei verhaftet…
Es fängt ja ganz gut an. Im Foyer sind kleine Radioempfänger aufgebaut, Marke 50-iger Jahre, allerdings mit modernem LED-Licht. Aus denen tönt ein undefinierbares Gewirr von Lauten mit auch einer Rezitation der Sängerin Carla Henius Bericht über die Venezianer Uraufführung.
Radio-O-Ton: …Natürlich wissen wir alle, dass Gigi Mitglied der PCI ist…
Drinnen im Saal wird man dann zunächst in die mit Staubtüchern verhängten Parkettreihen komplimentiert. Aus den Lautsprechern ertönen Stimmen. An den eisernen Vorhang ist ein Gedicht projiziert: „lebendig ist, wer wach bleibt…“ Dann geht’s auf die Bühne, wo schon Chor, Solisten und Musiker sitzen, stehen, gehen, liegen. Leitern werden verschoben mit Diawerfern. Der Besucher soll in das Geschehen mit einbezogen werden – so ist wohl der Plan. 250 sind zugelassen.
Neu sind solche Regie-Ideen nicht. Man hat sie allerdings – lang ist’s her – schon ungleich professioneller umgesetzt erlebt. Bei Regisseur Benedikt von Peter und seinem Versuch mit Luigi Nonos „Intolleranza“ in Hannover wirkt das alles eher aufgesetzt, verkrampft. Die Choristen üben sich in allerlei zufälligen Posen. Die Solisten müssen sich dazwischen meist im Fortissimo vernehmen lassen, stehen auf Leitern oder Stühlen.
Mal wird auch ein zur Leinwand verwandeltes Kleidungsstück wie das Turiner Grabtuch herumgetragen mit Video-Projektionen eines Geschundenen. Dann müssen sich alle, auch die Besucher, auf Decken am Boden betten. Im Text ist da vorher vom ersten Atombomben-Abwurf auf Hiroshima die Rede. Und die im Geiste Geliebte des Helden, eines Migranten, singt ihre Sehnsuchts-Vokalisen.
Nono schrieb seinen expressiven Aufschrei gegen Intoleranz, Inhumanität und Kolonialismus 1960. Ein Bergwerksunglück, der Kampf Algeriens gegen die Kolonialmacht Frankreich, neofaschistische Aufstände und eine Überschwemmung in Italien hatten ihn dazu veranlasst. Manche empfanden dies erste Bühnenwerk des 1990 verstorbenen Komponisten als platte Polit-Werbung für die kommunistische Partei, der Nono angehörte. Lesen kann man es durchaus als allgemein-menschliche Einforderung von Humanität und Demokratie.
In der Hannoveraner Aufführung stürzt am Ende von der Bühnenrückwand ein armdicker Wasserfall auf das Geschehen wie ein Sturzbach, in dessen Fluten Tote schwimmen. Dann wird der Zuschauer wieder zurück ins Parkett gedrängt, blickt von dort auf eine pietà. Als reinigende Katharsis kommt das kaum an. Zu verkopft wirkt das Konzept, bleibt Konzept. Statt Ideen zu versinnlichen wird das Publikum ständig hin und her kommandiert. Oder soll es so Intoleranz erleben?
Bewundern darf man die musikalische Leistung des Chors. Szenisch geführt ist er nur schemenhaft. Wirkliche Figuren formen sich nicht. Stefan Klingele, als Dirigent nur per Video zu sehen, hält das musikalische Geschehen gut zusammen. Das Publikum in Hannover war es dennoch zufrieden. Nonos „Intolleranza“ ist eine Herausforderung, auch wenn seine Thematik doch etwas angejahrt wirkt und der Fokus der eigentlichen Problematik sich heute deutlich verschoben hat.
*
Warten. Erst heißt es „delayed“, dann „canceled“. Zeitgemäß in eine Airport-Wartehalle verlegt findet man in Hannover Gioacchino Rossinis selten gespielte Oper „Il viaggio a Reims“.
Warten musste man auch viele Jahrzehnte lang auf die nach ihrer mäßig erfolgreichen Uraufführung 1825 schnell wieder in der Versenkung verschwundene „Reise nach Reims“. Rossini komponierte sie als eine Art Morgengabe für seine neue Wirkungsstätte, das „Théâtre Italien“ in Paris. Und es sollte eine Huldigung sein an den neuen König, den Ultraroyalisten Karl X, der nach dem Tod des Bruders Ludwig XVIII den restaurierten Bourbonen-Thron bestieg als letzter „von Gottes Gnaden“. Bei der Uraufführung dieser ihm gewidmeten musikalischen Reise allerdings soll er selig geschlafen haben, oder hat er den doppelten Boden dieser Huldigung entdeckt?
Das musikalische Material dieser Gelegenheits-Oper verwertete Rossini später in seinem „Grafen Ory“. Teile tauchten auf in einer „Andremo a Parigi“ („Auf nach Paris!“) umgetauften Oper, 1848 zum Volksaufstand von Paris. Aber auch zur Krönung des österreichischen Kaiserpaars Franz Joseph und seiner bayrischen Elisabeth, genannt Sisi, wurde Material aus dieser Oper benutzt. Das Original rekonstruiert werden konnte erst in den 1970/80-iger Jahren nach verschiedenen Bibliotheksfunden. Neu präsentiert wurde es 1984 beim Rossini-Festival in Pesaro von Claudio Abbado.
Der Plot etabliert eine später in Musicals beliebte Drehtür-Dramaturgie. Eine multinationale Gesellschaft, Grafen, Gräfinnen, Bürger, Händler, Wissenschaftler finden sich in einem Bade-Hotel. Sie wollen zur Krönung des neuen Königs nach Reims, der traditionellen Krönungsstätte. Aber es gibt keine Kutsche, keine Pferde. Man wartet, trinkt, streitet, versucht kleine Flirts. Und als sich herausstellt, dass gar nichts geht, feiert man ein eigenes Fest, bei dem jeder der Wartenden ein Lied aus seinem Heimatland zum Besten geben muss.
Der Musical-erprobte Regisseur Matthias Davids macht daraus eine handfeste Komödie, neudeutsch würde man besser sagen: Comedy. Das Publikum amüsiert sich prächtig, auch wenn man einige Effekte lieber in den Wartestand versetzt sehen möchte. Auch nutzt sich das szenische Potenzial der Airport-Halle (Bühne: Marina Hellmann; Kostüme: Leo Kulaš) schnell ab. Nach dramaturgischen Begründungen, wer warum wo gerade jetzt auftaucht oder verschwindet, fragt man ohnehin besser nicht. Jedoch werden die zwischenmenschlichen Spannungen einer solchen Warte-Situation recht glaubwürdig und einfallsreich beleuchtet.
Ein gutes Dutzend Solisten benötigt das Werk – für jeden Operndirektor ein Albtraum. Auch deswegen begegnet man dieser letzten genuin italienischen Oper Rossinis nur selten auf den Spielplänen. Die Staatsoper Hannover aber kann dies drama giocoso recht überzeugend aus dem eigenen Ensemble besetzen. Herausragend mit geschliffenen Koloraturen Nicole Chevalier als Contessa di Folleville, die das quälende Warten schließlich mit ihrer Fest-Idee beendet. Am Pult achtet Gregor Bühl auf Rossini‘sche Leichtigkeit, hält Bühne und Graben gut zusammen. Viel Jubel im Parkett und auf den Rängen, auch schon und immer wieder auf offener Szene.
Ein bisschen flippig, ein bisschen gaga ist dies Märchen vom Aschenbrödel in der Version des Gioacchino Rossini bzw. der Regisseurin Andrea Schwalbach in Hannover. Auf einer Art Misthaufen mit Hühnern und Schafen residieren die beiden bösen Schwestern Tisbe und Clorinda, der in seiner Verarmung verschnarchte Vater darunter, und Cenerentola, alias Angelina eigentlich das Engelchen, am Rand davor. Bis der als sein eigener Diener verkleidete Prinz auftaucht samt dem als eine Art philosophischer Spielmacher, Bettler, Zauberer sich drapierenden Alidoro, der mit allerlei Filibusterei diese Versuchsanordnung dirigiert über das Glück: wie man es erzwingen oder verfehlen kann oder wie es einem einfach in den Schoß fällt.
Das Glück, der Fahrstuhl von ganz unten nach ganz oben, war das Heilsversprechen der amerikanischen Gründerväter 1776 und dann auch das der Französischen Revolution. Bei Mozart musste der Diener Figaro noch ein Tänzchen mit dem Grafen wagen, um sein Glück gegen das Begehren des Grafen durchzusetzen. Bei Rossini, über dreißig Jahre später 1817, muss der Prinz in die Rolle des Dieners schlüpfen, um unter den drei Halbschwestern die richtige für sein Glück zu finden. Rossini kannte (und liebte) seinen Mozart und er kannte seinen Beaumarchais. Für den lag das Glück im Zufall, in der Aufhebung der bestehenden Ordnung. Bei Rossini liegt die alle Ordnung aufhebende Revolution, die ihm vor allem in Gestalt marodierender Napoleon-Truppen entgegen kam, in schon ferner Vergangenheit. Zu spüren ist sie gleichwohl wie ein Donnergrollen oder wie eine in Akkord-Kaskaden heran rollende Tsunami-Welle, die alles unter sich hinweg spült. Das Glück ist verkommen zum Glücks-Spiel, von dem Italiens Opernhäuser damals ihren Unterhalt bestreiten mussten.
Bei Andrea Schwalbach wird aus Rossinis „Cenerentola“ eine Slapstick-„Klamödie“ mit depperten Dienern in blau-weißer Livree und gelackter Schmalzlocke. Die beiden bösen Stiefschwestern sind wie die Kohlhiesel-Töchter zu blöd, mit ihren Reifröcken durch die etwas schmalen Türen zu gehen. Ihr geldgieriger Papa macht Anstalten, die Hände der beiden abzusägen, damit der Armreif drauf passt, den der Prinz einzig als sicheres Zeichen erkennt, wer seine wirkliche Geliebte ist. Und immer wieder hoppelt ein weißes Kaninchen durch die Szene, das auch mal sein Schwänzchen verliert. Gewiss, es gibt mit der Ausstattung von Anne Neuser und Stephan von Wedel auch pfiffige Ideen. Etwa dass der Spielmacher Alidoro – eine beliebte Figur in jenen Zeiten des Übergangs – Angelina samt ihrem Misthaufen in die Bühnengrube kippt, als es zum Ball aufs Schloss geht und das Superstar-Roulette beginnt. Oder dass nach dem Ball, als die beiden Stiefschwestern sich die Gesichter reiben, diese sich Aschenputtel-grau schwärzen. Denn Diener Dandini weiß: eine Komödie für die einen kippt schnell in eine Tragödie für die anderen.
Musikalisch ist die Aufführung durchwachsen. Mit Valentina Kutzarova hat man immerhin eine Sängerin, die die gefürchteten Rossini-Koloraturen der Titelpartie fast perfekt beherrscht. Und auch der Prinz Ramiro ist mit Sung-Keun Park trefflich besetzt. Andreas Wolf am Pult heizt das Tempo immer wieder an, auch wenn es dadurch zu sozusagen „Zeitverschiebungen“ kommt zwischen Bühne und Graben. Zeit-Sprünge freilich gehören zu Rossinis Musik, zumal in den Romanzen der Angelina, wenn sie träumt vom Glück ferner, vergangener Zeiten – wie vielleicht auch mancher Besucher heute, wenn er in die Kontoauszüge seiner Fonds-Zertifikate sich vertieft. Der späte Rossini, der nur mehr für sich komponierte, vertiefte sich in die Welt Bachs. Aber von alledem weiß diese Inszenierung offenbar wenig oder nichts.
Nichts Menschliches ist hier fremd. Die GULag-Insassen hocken, den taubengrauen Pulli über den Kopf gezogen, wie Schachfiguren in Schlafposition auf einer schrägen Ebene im Quarré. Vorn am Eck einer, der kaum ein Wort von sich gibt und immer hocken bleibt. Die Männer entleeren ihre Kübel mit einer dunkelbraunen Masse – soll das eine Art Zement sein, sind es Fäkalien? – in eine Grube. Manche manschen mit den Händen den Dreck aus den Eimern, streichen den Boden um das Loch glatt und „sauber“. Ein Neuer kommt an. Die schneeweiße Hose samt Jacke wird ihm von den Kalfaktoren gierig vom Leib gerissen. Zur Taufe im Camp bekommt er einen Kübel Dreck über den Kopf gekippt. Höhnisches Lachen. Und es geht so weiter: ein älterer Mann bekommt eine Adlerfeder an den Kopf gebunden und wird wie ein Hündchen à la Abu Ghraib an der Leine im Kreis getrieben und mit Peitschenhieben blutig traktiert. Nächste Marotte: Aufstellen in Reih und Glied, Marschieren sinnlos in Reihen hin und her, als ob man den Appellplatz sauber rechen wollte. Schließlich Hexensabbat: Ficken, Blasen, Spielchen mit Mettwurst-Schwänzen und Tunten-Fummeln. Sexuelle Dienstleistungen jeder Art. Das volle Programm, wenn einem Regisseur einfällt, was ihm immer einfällt. Willkommen in Barrie Koskys Gulag-Freizeitpark.
Für Leoš Janáček bedeutete die Lektüre von Dostojewskijs „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ ein schockhaftes Erwachen aus seinem russophilen Traum. Mit der Umarbeitung zu einer Oper wollte der Komponist und Librettist Mitleid wecken mit den Opfern des russischen Straflager-Systems und den Funken Hoffnung wecken für die geschundene Kreatur. Bei Kosky spürt man davon nichts. Nun muss man heute zwar nicht mehr grundsätzlich aufklären über den Charakter der Sibirischen Lager. Ob man über den Stoff mit solcher Zyne hinweg gehen kann, wie Kosky das in Hannover tut, ist freilich mehr als eine Geschmacksfrage. Im Übrigen hat man schon bessere Nachbildungen von Blut- und Spermien-Orgien gesehen. Die Mitglieder des Chors sind gleichwohl mit Professionalität bei der Sache. Auch die kleinen solistischen Rollen sind durchweg gut besetzt. Gesungen wird in der Originalsprache.
Am Pult des Niedersächsischen Staatsorchesters steht Wolfgang Bozic. Anfangs klingt sein Orchester noch reichlich zerfahren, unsauber und spröde. Erst allmählich findet sich der herb-süffige Janáček-Ton. Applaudiert wurde am Ende allen: dem Chor, dem Orchester und sogar dem Team. Allerdings sah man auch Türen klappen während der gut 90-minütigen pausenlosen Aufführung. Dass die, je länger sie dauert, weniger und weniger spannend wirkt, liegt auch daran, dass man Koskys Privat-Ikonographie schon prägnanter präsentiert bekommen hat. Das Hannoversche Premieren-Publikum empfand das offenbar nicht so. Aber vielleicht demnächst. Der Regisseur ist dort jetzt gleichsam Stammgast, avisiert für eine „Ring“-Inszenierung. Das wird dann sicher auch ganz furchtbar-schrecklich „lustig“ werden.
Dies ist gleichsam ein „Idomeneo“ light, stark verkürzt, konzentriert auf die vier Hauptfiguren, mithin manchmal etwas pauschal wirkend aber mit durchaus eindrucksvollen Szenen. Zumal am Schluss, wenn das junge Paar und neue Herrscherpaar – der Kreter-Prinz Idamante und die Trojanische Beute-Prinzessin Ilia – durch ihre Hingabe füreinander und für das Volk gesiegt haben. Der als Symbol des drohenden Unheils auf der Bühne kreisende Mauerblock ist zum Stillstand gekommen. Das Volk versammelt sich davor um den zum Abtreten gezwungenen König Idomeneo, der die Übergabe der Herrschaft an seinen Sohn verkündet, schließt ihn gleichsam weg in seine Reihen. Idamante und Ilia steigen über die Menschen hinweg auf die Mauer. Und das Mauer-Monster sinkt in die Tiefe.
Ganz in weiß haben Regisseur Philipp Himmelmann und seine Ausstatterinnen Elisabeth Pedross und Petra Bongard das angelegt. Weiß ist der Bühnenraum, die Figuren tragen weiße Kleider und blonde Haare. Nuancen werden angedeutet durch Licht. Und, wenn Idomeneo aus dem Sturm vor dem Seeungeheuer errettet landet, durch die Blut-Spur rot. Nicht nur Idomeneo kommt blutbesudelt mit blutgefärbtem Hackebeil auf die Bühne, auch auf den Kostümen der Inselbewohner zeigen sich Male von Blut. Das vermittelt durchaus antikische Dimensionen – mit Querverweisen in die jüngere deutsche Vergangenheit. Auf der Strecke bleibt in dieser Deutung aber die Zeichnung der Figuren. Die Wand ist nicht nur Symbol des durch die Lebensgier des Königs und seinen Schwur ausgelösten Unheils: er hat gelobt, den ersten Menschen, der ihm am Strand begegnet, zu opfern – unglücklicherweise sein Sohn Idamante. Die Wand wird auch zum strapazierten Haltepunkt für die Inszenierung. An der Wand entlang schieben sich die Figuren, um ihre Bedrückung zu bekunden. Das Volk sitzt oder steht meist mit dem Rücken zum Publikum im Kreis um die Wand herum im Raum. Das Volk, obwohl musikalisch die fünfte Kraft in Mozarts Partitur, ist nicht Akteur, mit ihm wird agiert.
Martin Haselböck am Pult des Hannoverschen Staatsorchesters setzt auf drängende Tempi, neigt gelegentlich zum Überhasten, sodass Bühne und Graben auseinander fallen. Zumal Brigitte Hahn als auch darstellerisch zu sehr überzeichnende Elettra hat da mit den Koloraturen ihre Schwierigkeiten. Für Tomas Zagorski als stämmigen König Idomeneo hat man ohnehin die alternativ vorgesehene Variante ohne Koloraturen gewählt. Barbara Senator gibt den Idamante mit Sensibilität aber doch auch mit allzu viel Vibrato in der Stimme. Den besten Eindruck, stimmlich wie darstellerisch, macht Ania Wegrzyn als Ilia. Das Publikum spendete am Ende freundlichen Beifall, fürs Inszenierungsteam gab es ein paar Buhs. Man hat gewiss schon diffizilere Aufführungen dieser ersten großen, fast experimentellen Oper Mozarts gesehen und gehört. Aber das Stück, an dem Mozart vielfach feilte, hat selbst etwas Unfertiges. Es zu inszenieren verlangt viel psychologisches Feingefühl. Hier war davon nicht immer sehr viel zu spüren.
Auf der Achterbahn der Gefühle. Die schwankenden Dreier-Beziehungen, wer mit wem, die Frage nach der eigenen Identität im Strauss-Hofmannsthalschen „Rosenkavalier“ sind hier vor allem im Bühnenbild verdeutlicht. Jens Kilian setzt fahrbare Wände in eine wie eine querliegende Acht geformte Schiene, wodurch sich die Räume der knallroten Einheitsbühne fließend verändern. Regisseur Christof Nel zeigt darin das morgendliche Erwachen der 30-jährigen Marschallin und ihres 17-jährigen Liebhabers Octavian als ernüchterndes Auf-Distanz-Gehen in einer Art Badezimmer-Boudoir. Die berühmte Rosen-Überreichung Octavians an die erstaunlich offen ihre Zuneigung zu dem jungen Mann und ihren Widerwillen gegen den ihr aus Nobilitierungsgründen des Vaters aufgezwungenen Ochs bekundende Sophie, ist gezeigt als zögerliches Abnabeln Octavians von der mütterlichen Liebhaberin. Der Start von Octavian und Sophie in eine gemeinsame Zukunft am Ende erscheint hier von Widerständen gepflastert. Die Bediensteten formen sich zu einer Phalanx, durch die die jungen Leute sich einen Weg schlagen müssen, wobei sie hineingerissen werden in einen unendlichen Strudel.
Nel geht die Szene eher vom Text an als von der Musik. Das öffnet zwar viele inhaltliche Bezüglichkeiten, bleibt aber sinnlich blass. Und manches – wie vor allem die Beisel-Szene im dritten Akt – wirkt gar unbeholfen und angeschafft. Dabei versucht Nel doch den ja im 18.Jahrhundert verwurzelten Figuren ihre Modernität abzugewinnen. Der Ochs ist bei Albert Pesendorfer weniger der Dorf-Trottel von Lerchenau als ein Zuhälter mit starkem Herablassungs-Potenzial, der alle Schamgrenzen mühelos nieder trampelt. Schon zur Rosenüberreichung tanzt er an mit einer Bediensteten. Seine Kumpane sind ebenfalls ganz ungeniert beim Zugriff aufs Personal. Der um seine Reputation bemühte Geldaufsteiger Faninal von Frank Schneiders hat den unterwürfigen Zug eines Geschäftsmanns, der seine aufmüpfige Tochter kalt lächelnd zu verkaufen bereit ist. Die Marschallin von Kelly God ist eine teils träumerische, teils resolute Ehefrau eines unsichtbaren Ehemanns, die ihren Octavian nicht nur als „Bub“ bezeichnet, sondern ihn auch so behandelt. Und Octavian (Matilda Paulsson) ist ein roter Wuschelkopf, der nicht recht weiß, wie umgehen mit seinen Gefühlen, und lange zögert, der gleichaltrigen Sophie sich zu öffnen.
Musikalisch ist das bei Wolfgang Bozic gut aufgehoben, auch wenn beim Orchester zumal im Blech doch einiges verrutscht und manches etwas zu knallig klingt. Generell wird von den Sängern viel forciert und nur die Marschallin kann ihre Stimme immer gut modulieren. Beifall am Ende denn auch für die musikalische Seite, fürs Regie-Team heftige Buhs. Dass es sich bei dem „Rosenkavalier“ um ein Stück an einer Zeitenwende handelt, ist Nel hier kaum zu zeigen gelungen. Vielmehr sieht man gewisse Anknüpfungen an die einst gefeierte Frankfurter Inszenierung von Ruth Berghaus. Und die Nach-Pflege der einstigen Frankfurt-Stuttgarter Dramaturgie von Klaus Zehelein scheint ja eine Hauptlinie der gegenwärtigen Hannoveraner Intendanz zu sein. Nicht immer zum Vorteil des Hauses.
Das Haus ist schwer belagert an diesem Abend. Soldaten in Kampfanzügen und mit MG im Anschlag bewachen Eingangstüren und Treppenhaus. Eintreten muss man durch eine elektronische Sicherheitsschleuse. Und dann, noch bevor die Musik einsetzt, knallt’s auch schon: Putsch im Parlament. Ein Sicherheitsoffizier erschießt den regierenden König. Der Sohn, Pentheus, wird als neuer Regierender ausgerufen. Aber eigentlich ist auch er nur eine Marionette.
Der Regisseur Tilman Knabe mag’s gern drastisch-deutlich. Hans Werner Henzes Oper „Die Bassariden“ nach des Euripides „Bakchen“ verlegt er in ein Heute, gemixt aus Osama Bin Laden und Charles Manson. Der eigentliche Strippen-Zieher ist ein Mann in rotbrauner Lederjacke, der, ständig an einer Fluppe nuckelnd, sich Dionysos nennt, sich zum Gott von Zeus‘ Gnaden erklärt und mit einem pseudo-religiösen orgiastischen Kult aus Sex und Drogen die Leute besoffen macht und schließlich sogar den neuen König. Die eigene Mutter des Pentheus, Agaue, macht er sich hörig. Sie lässt er den Sohn als Löwin imaginieren, ihn zum Fleischpaket verstümmeln und töten. Am Ende zieht dieser Dionysos im Priestergewand und mit seinem beleuchteten Konterfei als Monstranz in die Stadt und lässt sich huldigen, bewacht von Soldaten, die zwischendurch auch mal von Mann zu Mann dem neuen Kult frönen durften.
Man kann diese von Euripides schon so als Warnung vor falschen Propheten und einem drohenden Untergang gemeinte Geschichte so interpretieren, wenn man’s kann. Bei Knabe allerdings wird daraus ein Opernabend fast ohne innere Spannung. Schon gleich alles gesagt ist mit dem Bühnenbild von Wilfried Buchholz, einer Holzwand mit Regierungsbänken und Rednerpult, das dann später, wenn die bisherige Staatsordnung kippt, krachend zu Boden knallt. Fleißig werden darauf die nächstliegenden Instinkte bedient. Ein bisschen Spannung kommt erst auf gegen Schluss, wenn die Frauen in blutgetränkten Dessous als Mänaden in Phalanx einziehen, vorn weg die Königsmutter Agaue, die das vermeintliche Löwenhaupt – in Wirklichkeit der Kopf ihres Sohns Pentheus – triumphierend in die Höhe reckt. Interessant übrigens, dass schon Euripides die Entstehung des neuen Kults auf einer einsamen Bergspitze ansiedelt, dem Kytheron bei Theben.
Man spielt in Hannover das von Henze als „Symphonie“ konzipierte, 1966 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführte Werk ohne Pause. Der junge Stefan Klingele am Pult hält den großen Apparat gut zusammen, auch wenn man im Orchester doch einige Unsauberkeiten bemerkt. Der Chor agiert engagiert. Von den Sängern überzeugen kann vor allem Brian Davis mit strahlendem Bariton als junger König Pentheus, der erst die alte, aber hohl gewordene Ordnung weiterführen will, dann immer neugieriger wird auf den geheimnisvollen neuen Kult und ihm schließlich zum Opfer fällt. Das Publikum reagierte am Ende des zweistündigen Abends mit heftigen Buhs und auch einigen Bravos.
Es war für das Hannoveraner Opernhaus sicher ein gewagter Start in die neue Spielzeit. Allerdings sollte die Leitung des Hauses nicht allzu unkritisch den personellen Leitlinien des einstigen Stuttgarter Opernchefs Klaus Zehelein folgen, wie sie immer wieder zu erkennen gibt. Tilman Knabes Inszenierungen wirken doch mehr als Polit-Kolportagen denn als wirklich politisch durchdachte Arbeiten. Es geht hier zwar ständig an die Wäsche aber nie unter die Haut. Und ein interessantes Konzept samt Programmheft macht noch keinen interessanten Opernabend.
Ein Musical nach Motiven aus Mozarts „Entführung“ könnte man das nennen, mit Elementen auch von Schulfunk. Zu Beginn tritt da ein kleiner Mozart auf, sagt, wer er ist und mit welchen Alias-Namen er gern seine Briefe unterzeichnete. Und auch zwischendurch und am Ende meldet er sich immer wieder mit biografischen Tipps. Die Ouvertüre zur Oper hört man dann noch im originalen Klanggewand, und immer mal gibt es Splitter aus Mozarts Partitur, wenn auch gesungen oft in verfremdeter Gestalt. Ansonsten erlebt man eine wilde Mischung aus Rap, HipHop und Pop mit Tanzeinlagen., am Pult geleitet von Lutz de Veer.
Ein Jahr lang haben in Hannover 60 Jugendliche aus meist sozialen Problem-Familien und von verschiedensten Nationen an dem Projekt „Culture Clash – Die Entführung“ gearbeitet. Die Macher – Christof Littman für Musik, Marc Prätsch für Inszenierung und Spax für den Rap – untersuchten zunächst das musikalische Potenzial der Jugendlichen und gestalteten danach ihre Fassung. Verändert wurden einige Figurenprofile. Die Haremswächter gibt es hier in zweierlei Gestalt: mit einem etwas sangesbegabten (weißen) Osmin 1 und einem mit rotblonder Perücke auf Pumps stöckelnden (schwarzen) Transvestiten-Comedy-Osmin-2. Blonde, die mit ihm auch schon heftig zur Sache kam, bleibt am Ende lieber bei ihm, als mit ihrem oberschülerhaften Pedrillo die „Freiheit“ zu suchen.
Belmonte taucht zuerst auf als Amateur-Terrorist, dem die Haremswächter mit einem Knacks die Spielzeug-MP entwinden. Am Ende will er Konstanze ausgerechnet in einem Sportwagen-Coupé entführen. Konstanze, eher rap- als koloraturverdächtig, umgibt sich mit einem ganzen Schweif von Tänzerinnen. Warum der Bassa so scharf ausgerechnet auf sie ist, lässt sich kaum nachvollziehen. Politisch überkorrekt ist der Schluss. Da lässt der Bassa die vier Eindringlinge erst an Kreuze binden, gibt sie dann aber unter entschiedenem Protest der Osmine frei – Auftakt zu allgemeiner Verbrüderung. Auch ein Tibeter darf noch ein Liedchen singen: standing ovations. Irgendwie wirkt das Ganze denn doch wie Fußbälle in Fan-Meilen tragen.
Es gibt in dem gut zweistündigen Opus durchaus gelungene, ja witzige Teile. Zumal die Street- und Brake-Dance-Einlagen zeugen von Authentizität und Professionalität. Für Pedrillo und Blonde hat man mit Simon Bode und Ania Wegrzyn Ensemblemitglieder der Staatsoper auf der Bühne. Insgesamt mangelt es dem Projekt jedoch an künstlerischer Durchdringung. Vieles wirkt zufällig, zusammengebastelt, peripher. Mit Zwischenrufen aus Parkett und Rängen wird Schein-Öffentlichkeit imaginiert. Die Mischung von gereimten Originaltexten und hinzu Erfundenem ist oft allzu krude. Trotz Mikroports versteht man zumal von den Rap-Texten wenig. Schade.
Modisch bleibt auch der Übertitel „Culture Clash“. Ein konfrontativer Austausch von auch nur Vorurteilen beschränkt sich auf eine kurze Sequenz. Immerhin zieht das Projekt aber doch eine Menge jugendlicher Besucher ins Opernhaus, die dieses noch nie von innen gesehen haben dürften. Sogar einige Kopftuchträgerinnen waren auszumachen. Wie „nachhaltig“ das ist, bleibt abzuwarten. Ein unschätzbarer Gewinn ist diese Erfahrung gewiss für die beteiligten 14- bis 20-Jährigen. Gleichwohl hätte man sich gewünscht, es wäre daraus ein nicht nur Theater-pädagogisches sondern auch mehr künstlerisches Projekt gewachsen.
Das Stück erzählt von einer um sich greifenden Verheerung von
Menschen durch den Krieg. Und das zumindest wird durch die Inszenierung
und zumal das Bühnenbild recht deutlich. 1934/35 schrieb
Karl Amadeus
Hartmann ahnungsvoll diese Szenen einer Jugend, der des arglos in die
Welt stolpernden Simplicius Simplicissimus. Hermann Scherchen, der
Dirigent und Mentor des vor den Nazis in die „innere Emigration“
abgetauchten Münchner Komponisten, regte ihn dazu an. Hartmann war
berührt von Grimmelshausens Roman über den 30jährigen Krieg (1668/69)
und über dies „verwahrloste, unmündige Kind“, das durch „mühsames Lernen
selbstverständlicher Dinge zum Wissen von sich selbst und von der Welt
gelangt.“
Holzschnittartig sind die Figuren angelegt, die Hartmann in den drei
Bildern zeigt: Wie Simplicius die Tötung seiner Eltern durch
marodierende Soldaten erlebt; wie er zu einem Einsiedler in den Wald
flüchtet und auch dessen Tod verkraften muss; wie er am Hof des
Gouverneurs vom baldigen Untergang der Oberen traumdeutend erzählt und
tatsächlich aufständische Bauern eindringen und das Oberste zu unters
kehren. Holzschnittartig sind auch Hartmanns Theater-Mittel. Ein
Sprecher nach Art des epischen Theaters tritt immer wieder auf, und
zieht gleichsam predigerhaft die Lehren aus dem Gezeigten. In der
Hannoveraner Neuinszenierung des selten gespielten Stücks ist dies die
schwächste Position. Ein älterer Darsteller in Hartmann-Maske zählt da
mit pathetischer Stimme die Totenstatistik auf: 12 Millionen Lebende in
Deutschland vor dem Krieg, nur mehr ein Drittel danach.
Wie schon in einer der wenigen früheren Inszenierungen (Christof Nel in
Stuttgart 2004) lässt der junge Frank Hilbrich in
seiner Hannoveraner Deutung das Stück in einem Innen-Einheitsraum
spielen. Volker Thiele hat dafür ein gutbürgerliches Zimmer gebaut,
anfangs mit zugezogenem Vorhang, hinter dem sich dann ein
Spiegelkabinett öffnet. Durch dies stürmt im dritten Bild das
aufständische Volk, während die Tapeten und die Decke immer weiter
herunter reißen. Simplicius im weißen Strampelanzug spielt anfangs mit
seinen Stofftieren auf einem Spielzeug-Bauernhof. In den dringt eine mit
Wolfsköpfen maskierte Prügel-Truppe ein. In dem verwüsteten Zimmer sucht
ein Penner, der Einsiedler, Zuflucht und stemmt bald schon die
Holzplatten auf, um sich darunter zur ewigen Ruhe zu betten. Das dritte
Bild wird dominiert von überfetteten Militärs mit frei hängendem
Gemächte und einer stöckelnden stummen Dame in Strapsen, die sich mit
Luftballons gepanzert hat. Mit orgasmischem Bumsen werden die dann zum
Platzen gebracht.
Hartmann hat das kaum 90minütige Kammerstück nach dem Krieg
überarbeitet, das Orchester erweitert auf symphonische Stärke und mit
einem versöhnlichen Schluss versehen. In Hannover spielt man unter
Lutz de Veer eine Mischfassung: ursprüngliche
Dramaturgie bei vollem Orchester. Das nimmt dem Stück mehr als es ihm
gibt. Die Bilder geraten allzu grob und auch das Spiel verliert an
pointierter Feinzeichnung. Olivia Stahn in der
Titelpartie wirkt eher outriert. Das Hannoveraner Publikum im nicht
gefüllten Haus schien es gleichwohl zufrieden, reagierte mit etwas
künstlichen Bravos, aber auch Buhs. Die Chance, das so aktuelle Stück
heimischer zu machen in den Spielplänen, wurde mit dieser Inszenierung
vertan. Man schaut eher ungerührt den allzu geläufigen Bildern zu. Und
Hartmanns zitatenreiche, assoziative Musik wirkt fremd zu dieser Szene.
Es gibt einige (wenige) Bilder, die durchaus beeindrucken: etwa wenn die
bigott frömmelnde Gemeinde des englischen Borough ihre Choräle singt wie
aus den Luken eines Weihnachtskalenders, zu dem die Bühnenbild
beherrschenden Kisten montiert sind. Oder wenn der der fahrlässigen
Kindstötung bezichtigte Fischer Grimes zum Tanzbär aufgezäumt wird. Die
Parallele zu Alban Bergs Wozzeck, auf den Benjamin Britten in seiner
1945 uraufgeführten „Peter Grimes“-Oper ja anspielt, wird da recht
deutlich.
Das meiste in dieser Inszenierung des von einigen Theatern als Superstar
gehandelten australischen Regisseurs Barrie Kosky ist aber kalt,
ideenlos, platt. Nicht mal vor polit-religiösem Kitsch schrecken Kosky
und seine Ausstatter, Florian Parbs und Alfred Mayerhofer, zurück. Da
wird die Puppe des Eigelb-Gummi-Latzhosenträgers Grimes an einem
riesigen Kranhaken aufgezogen, kopfüber gekreuzigt, dann wie ein Pendel
schwingend. Später bekommt der vorverurteilte Grimes noch ein
Kapuzenkleid übergestülpt wie die unglücklichen Menschen von Abu Ghuraib
und Wunderkerzen in die Hände gedrückt wie ein brennender
Weihnachtsbaum. Schließlich versenkt Grimes sich wie ein Clown in der
Kiste, die am Ende leer abtransportiert wird.
Überhaupt die Kisten, Koskys eigene Bühnenbildidee; assoziieren sollen
diese Möbel: Container, Hafen, Zirkus, Verkehr. Die Kisten werden vor
allem herumgetragen, aber auch zu Würfeln, Wänden, Wohncontainern
verbaut. Und dennoch wirkt das alles so unsinnlich, fantasielos, dass
man des Anblicks schnell müde wird. Wenig Fantasie anregend auch die
Figur des Grimes. In Robert Künzli hat Kosky zwar einen Sänger mit einer
schönen heldischen Stimme. Geben muss der einen verdruckst
kistenschleppenden 1€uro-Jobber, einen Mörder „M“ à la Peter Lorre. Bei
Britten ist Grimes ein Fischer mit „Visionen“, einer der es den anderen
zeigen will, wie man mehr aus dem Fischfang herausholt. Ein stolzer,
wenn auch verschlossener, emotional unkontrollierter Mann.
Wenig inszeniert Kosky auch aus der Musik heraus. Ganz schön zwar die
Tanzszene, in der Britten Erlebnisse aus der Zeit in Amerika
verarbeitet, wohin er vor dem Krieg geflüchtet war: Jazzige
Straßenmusik, die hier von einer kleinen Kapelle auf der Bühne gespielt
wird. Aber die Seebilder, Kernstücke dieser Oper, in denen sich
spiegelt, was in dem und um den zum Außenseiter gestempelten Fischer
Grimes vorgeht, werden entweder zertrampelt oder vernutzt für bloße
Umbauten. Wolfgang Bozic am Pult kann zwar mit seinem Hannoverschen
Staatsorchester den oft sämigen Streicherklang der Seebilder gut
vermitteln, von den karikierenden Anklängen etwa an Schostakowitsch in
dieser Partitur hört man wenig. Durch krankheitsbedingte kurzfristige
Umbesetzungen war der Abend zwar beeinträchtigt. Eine gültige Aufführung
bekommt man hier dennoch nicht. Koskys Inszenierung ist nur modisch,
ohne Substanz, sie berührt nicht.
Freundlich dennoch der Beifall des Publikums am Ende. Es musste sich
aber auch nicht betroffen fühlen.
Gags am laufenden Band. Und das passt ja auch zu der Geschichte –
oberflächlich betrachtet. Mustafà, ein algerischer Bey, hat die Nase
voll von seinen unterwürfigen Haremsdamen. Er will so richtig eine Frau,
eine Italienerin, kess und selbstbewusst. Und zufällig schwappt ja auch
gerade eine ans Ufer. Die allerdings, Isabella, ist auf der Suche nach
ihrem Geliebten, Lindoro, der Sklavendienste tun muss beim Bey. Der Gang
der Handlung ist voraussehbar. Wir schreiben das Jahr 1813. Die
Verwirrung ist heillos, wie immer bei Rossini. Und das Ende? – es ist
eine Buffa.
In Hannover, wo man seit Beginn der Spielzeit unter neuer Intendanz das
in den vergangenen Jahren vergnatzte Publikum wieder ans Haus binden
will – und damit auch erfolgreich ist, hat man für diese „Italienerin in
Algier“ einen jungen, vom Schauspiel kommenden Regisseur geholt, Ingo Kerkhof. Er inszeniert hier
erst zum zweiten Mal Oper
und soll es nun in Hannover auch öfters tun. Kerkhof betont den
Commedia-Charakter des Stücks. Die Bühne von Frank Philipp Schlößmann
ist wie eine Verlängerung der etwas tristen Oberfläche der
Wandvertäfelung im Hannoveraner Opernhaus. Der Chor der Sklaven
versammelt sich tröpfchenweise schon zur Ouvertüre um den
Orchestergraben und agiert auch ansonsten eher wie Publikum auf der
Bühne: das Spiel mit Bravos und Fratzen kommentierend.
Freilich das Genre heißt eigentlich: Commedia dell’arte. Und das hieß
ursprünglich mal: virtuose Kunststückchen, die die Darsteller einer
solchen Stegreif-Komödie nach festen Riten auszuführen hatten und
ausführen konnten. Hier wird mehr das Halbfertige, das Improvisatorische
betont. Die Rezitativbegleiterin am Hammerklavier wird mit einbezogen
ins Spiel, muss auch schon mal mitsingen, oder jedenfalls so tun als ob.
Der zum Deppen seiner männlichen Eitelkeit gemachte Bey, den die kesse
Italienerin zum Oberhaupt der Spaghettifresser, zum „pappataci“,
feierlich kürt, lässt das mit sich geschehen in reichlich
unglaubwürdiger Form. Isabellas vor allem selbstverliebter Geliebter
Lindoro, „o sole mio“ in der Wanne schmetternd, schlüpft immer wieder
durch die zahlreich aufgehängten (drei) Vorhänge, um sich vor dem
Publikum zu produzieren und nach Komplimenten zu fischen.
Und das lässt das
Pulver für die Gag-Rakete nass und nässer werden. Die
Darsteller produzieren sich vor allem selbst, sind zu wenig
durchgeformt. Die Beziehungen der Figuren untereinander bleiben
klischeehaft, undefiniert. Regisseur Kerkhof hat sich offenbar zu sehr
beeindrucken lassen vom Marionetten-Maschinenhaften der Rossinischen
Musik. Er blickt nicht dahinter: in die Leere der Gefühle nach den
enttäuschten Hoffnungen der Revolution. Isabella redet davon ja immer
wieder: der Bey habe keine Ahnung, was das heiße „Liebe“, was es
bedeute, dass sie ihre Heimat verließ, um ihren Geliebten Lindoro zu
befreien. Man sucht vergeblich in dieser Inszenierung nach dem doppelten
Boden, der Schicht darunter. Und so ermüdet die Gagmaschine mit ihren
leerlaufenden Verfolgungsjagden immer mehr. Es fehlt die Ökonomie der
Mittel. Dazu überdreht der junge Dirigent im Graben, Jahbom Koo, die
Tempi oft so, dass wirklich manchmal nur ein Strudel herüber schwappt
aus dem – letztlich – Guckkasten.
Immerhin hat man mit Ann Hallenberg als Isabella (für einige
Vorstellungen) eine Sängerin, die mit
ihrem satten Mezzo, ausgeglichen in den Registern, klar in der
Artikulation, alle an die Wand singt, die auch darstellerisch seit ihren
Anfängen einiges dazu gelernt hat, auch wenn sie hier zu eindimensional
bleibt. Und Tobias Schabel als Mustafà ist ihr zumindest darstellerisch
ebenbürtig mit seiner Kälte einerseits, seiner naiven Gutgläubigkeit
andererseits. Warum er allerdings schließlich zu seiner Haremsfrau
zurückkehrt, bleibt hier unbegründet. Am Ende viel Beifall für alle
Beteiligten. Der böse Satz Richard Wagners, eigentlich gezielt auf
Meyerbeer, scheint hier allerdings auch nicht ganz unpassend: „Wirkung
ohne Ursache“.
Als in rauer See treibendes Schiff wirbt die Staatsoper Hannover
neuerdings für sich auf einem Plakat. Und in den letzten fünf Jahren
läuteten ja des öfteren die Sturmglocken, wenn der jetzt nach Stuttgart
gewechselte Intendant Albrecht Puhlmann seine Vorstellungen von
zeitgenössischem Musiktheater mit Reizwäsche-Namen wie Calixto Bieito
propagierte. Auch jetzt zur Eröffnung der neuen Spielzeit läuten
Sturmglocken. Allerdings nur auf der Bühne. Mit einer Neuinszenierung
von Giuseppe Verdis Spätwerk Otello will der neue Intendant Michael Klügl Zeichen setzen für Oper, wie er sie sich denkt: anspruchsvoll,
entschieden aber ohne türschlagende Abonnenten. Und vor allem
„hervorragend erzählt.“
Regisseur Nicolas Brieger und Bühnenbildner Hans Dieter Schaal zeigen
die eröffnende Sturmszene als eine Art Jüngstes Gericht mit turbulierenden Kaimauern und vom Bühnenhimmel kopfüber herab taumelnden
nackten Leibern. Die Menschen am Kai wogen durcheinander mit roten
Totenlichtern. Ein durchaus magisches Bild. Dem geht voraus eine stumme
Szene in einer durch Säulenkolonnaden abgetrennten, gleichsam ins
Parkett verlängerten „Kirche“. Jago, der Intrigant, streift da auf der
Vorderbühne durch die Kirchenbänke, stößt sie um und macht aus dem
Gotteshaus seinen Satansclub, wenn er später ins Weihwasserbecken pisst.
Fürs Kneipenbild sind die Kaimauer-Elemente auf die Rückseite gedreht
als Theken einer etwas bemüht lasziv-trinkfreudigen Wirtshausszene. Am
Ende bekommt man einen ersten Einblick ins wohl offensichtlich nicht
sehr erfüllte Eheleben der Familie Otello-Desdemona.
Der venezianische Haudegen Otello ist hier kein Mohr. Brieger
interpretiert diese Figur, inspiriert wohl auch durch den Spielort
Zypern, aus der ursprünglichen Bedeutung von „moro“ als
Sammelbezeichnung für alle edlen Wilden östlich der
christlich-abendländischen Demarkationslinie – Menschen mit vor allem
unkontrollierten Trieben. Und wenn Otello von Jago ob der angeblichen
ehelichen Untreue seiner Gattin Desdemona immer wuschiger gemacht ist,
setzt Jago ihm – eines der von der Idee her stärkeren Bilder – den
Türken-Fez wie eine Narrenkappe auf. Zu Desdemona in die Schlafkammer
unterm Dach nimmt Otello statt der Peitsche den Krummsäbel mit. Otello
erstickt Desdemona in ihrem Bettlaken als vergrößertem Taschentuch. Dann
schlitzt er das Laken auf und bindet die Sterbende an beiden Handfesseln
wie bei einem Fememord fest an den Beichtstuhl, wo er die vermeintliche
Cassio-„Hure“ zuvor vergewaltigt hat.
Mit Drastik spart auch Brieger nicht. Aber sie ist nicht so provokant,
um das Publikum aus dem Theater zu vertreiben. Im Gegenteil. Am Ende
gibt es starken, lang anhaltenden Beifall. Und wie man hört, erholen
sich auch die Abonnentenzahlen wieder. Die szenisch-musikalischen
Leistungen sind eher gemischt. Janez Lotric steht die mörderische Partie
des Otello zwar gut durch, allerdings mit einem fast permanenten
forte-fortissimo, das Zwischentöne vermissen lässt. Ganz im Gegensatz zu
Jago, Brian Davis. Von Kostümbildner Jorge Jara ist er in eine Art
Kaspar-Jäger-Loden gesteckt. Mit differenziertem Spiel und Gesang gibt
er dieser Figur eindrucksvoll die Normalität des Bösen. Brigitte Hahn
als Desdemona ist nicht das sonst übliche junge unschuldig-naive Ding,
sondern eine Frau, die die Liebe schon erfahren hat und der man einen
Seitensprung durchaus zutraut. So umsichtig wie klug agiert Khatuna
Mikaberidze als deren Vertraute Emilia. Wolfgang Bozič am Pult hat Chor
und Orchester gut im Griff und bemüht sich um einen stimmigen
Verdi-Klang.
Die Aufführung insgesamt ist nicht unbedingt ein großer Wurf. Brieger
hat da Eindrücklicheres, Differenzierteres, von Symbolismus weniger
Befrachtetes geschaffen. Vor allem in der ersten Hälfte schleppen sich
die Bilder doch etwas steif dahin. Und es mangelt der Szene an
räumlicher Tiefenschärfe. Den Zusammenprall der Kulturen – hier der
venezianischen Gesellschaft mit dem islamischen Renegaten Otello als
Migranten, der naiv in jede ihm aufgestellte Falle tapst –, diesen Clash
macht diese Inszenierung recht deutlich. Ein nicht unwichtiger Aspekt,
den man in Hannover auch weiter verfolgen will.