Zum Schluss machten sie mit ihm doch noch ihren Frieden. „Skandal“-Regisseur
Calixto Bieito wurde bei der Premiere gefeiert und mit ihm das
ganze Ensemble. Dabei ist dieser Wozzeck, zur Jahreswende schon
erstinszeniert in Barcelona, eine doch eher laue
Veranstaltung, auch wenn hier die üblichen Bieito-Ingredienzien wie
Blut, nackte und am liebsten aufgeschlitzte Leiber, Eimer,
Schlammwühlen, Wasserduschen, Peitschen und ein bisschen Technikkram
wieder hübsch vereint werden.
Die
geschundene Kreatur Wozzeck steht bei Bieito für die ausgebeutete
und ihrer Ressourcen beraubte Umwelt. Wozzeck arbeitet hier in einer
Ölraffinerie. Dicke phallusartige Rohre liegen auf der von Bieito selbst
entworfenen Bühne herum. In einem versteckt er später die tote Marie.
Von einer Beobachtungskanzel aus hält der Hauptmann ihn mit einem
Lasergewehr in Schach. Der Doktor schleppt allweil Tote herbei, oder
lässt sie herbeischleppen. Blutspritzend – sie müssen wohl taufrisch
sein – schlitzt er sie auf. Der Tambourmajor, ein wildwestiger
Tingeltangel-Schmalzbrocken mit Lämpchendekor, darf seine süßen Töne mal
von des Hauptmanns Kanzel aus verströmen, dann wieder lässt er auf
seinem PS-starken Schlitten ein Holz-PS für Maries Söhnchen antraben –
auf der Motorhaube, auch so eine Bieito-Stereotype.
Der Knabe ist in dieser Inszenierung die einzige Figur, die so etwas wie
„Entwicklung“ zeigt. Am Anfang sitzt er reglos am Bühnenrand, später
auch mal auf dem Töpfchen. Die Atemmaske kann er nur kurz ablegen, als
die Mutter tot und der Vater verschwunden ist und er sein Hip-Hop auf
dem Pferdchen singt. Eine Armada von Nackten ist da aus dem Nebel des
Bühnenhintergrunds nach vorn an die Rampe geschritten, nahm Marie quasi
auf in ihr Reich der vom Leben „Erlösten“. Sogleich zerren die
Bühnenkinder lustvoll böse den asthmatischen Knaben auf seinem Pferdchen
herbei – und überlassen ihn seinem Schicksal. Es ist der einzige
wirkliche Vorgang in diesem sonst in der Statik des Bühnenbilds
erlahmenden, viel heiße Luft pumpenden „Ideen“-Theater, wie es der
Intendant des Hauses so sehr liebt.
Wozzeck ist die fünfte Produktion, die der nun Richtung Stuttgart
scheidende Albrecht Puhlmann von Calixto Bieito in Hannover hat
realisieren lassen. Der Katalane, der es genoss das enfant terrible zu
sein, hat dem Haus und seinem Intendanten in den fünf Jahren seiner
Amtszeit die Aufmerksamkeit verschafft, die zum Geschäft gehört heute.
Zur ästhetischen Erneuerung des Musiktheaters hat er wenig beigetragen.
Allzu derb, grobkörnig und unmusikalisch wirkte, was Bieito zumal bei
seiner Einstands-Inszenierung Don Giovanni
ersann. Am passabelsten noch seine die Erwartungen der Zuschauer durch
einen frechen Schluss freilich düpierende Traviata.
In Bieitos eigenen Augen die gelungenste Inszenierung war sein besonders
„harter“ Trovatore. Ein Absturz ins
Bodenlose seine verstiegene Ineinander-Verquickung von
Cavalleria Rusticana & Bajazzo.
Für Puhlmann war Bieito so etwas wie ein Markenzeichen. Aufräumen wollte
der gelernte Dramaturg mit dem Muff von zwanzig Jahren, in dem sein
Vorgänger Hans-Peter Lehmann das Staatstheater hatte ersticken
lassen. Und in der Eröffnungsinszenierung Aida
durfte Regisseur Andreas Homoki das drastisch demonstrieren. Putzlappen
schwingende Palastdienerinnen bevölkerten lärmend die Bühne. Auch die
Einrichtung der Cageschen Europeras durch Nigel Lowery
mit ihren akustischen Readymades, verteilt übers ganze Haus, gehörte zu
den pfiffigeren Veranstaltungen in diesem architektonisch eher sterilen
Bau. Und insbesondere die Uraufführung von iOPAL,
große oper, in der Hans-Joachim Hespos im Verein mit Anna
Vierbrock als Realisatorin die Möglichkeiten von Musiktheater heute
durchspielte, zählt zu den „kultigeren“ Events.
Weniger Glück hatte Puhlmann mit der Verpflichtung des Choreografen
Joachim Schlömer. Allzu trocken geriet dessen Tristan,
allzu außerirdisch seine Così fan tutte. Bei
Luk Percevals zweiter Opernarbeit, Janáčeks Sache
Makropoulos, erschöpften sich die Figuren im Balancieren auf
dicken, ungebohrten Brettern. Peter Konwitschny, der sich hier erstmals
mit Nono befasste, landete mit seinem Al gran
sole carico d’amore zwar ein unerwarteten Publikumserfolg, zum
Besten dieses Regisseurs gehörte diese Arbeit aber nicht. Und dass
Puhlmann eine der schwächeren Arbeiten von Jossi Wieler, seinen die
Musik Debussys überlärmenden Pelléas, mit
nach Stuttgart nimmt, zeugt eher von einer gewissen Ängstlichkeit.
Es gab ja auch im Vorfeld reichlich Zoff ums neue Ensemble und um den
neuen GMD; und dass der von Puhlmann gewünschte Shao-Chia Lü kein
besonders feinnerviger Dirigent ist, musste man auch bei diesem
Hannoveraner Wozzeck wieder konstatieren. Wieler andererseits ist als
Regisseur in Stuttgart bestens eingeführt und dürfte das Entree
erleichtern. Bieito hingegen will Puhlmann in Stuttgart erst am Ende der
Eröffnungs-Spielzeit präsentieren. Puccinis gewiss nicht magenkranke
Fanuciulla del West soll er dort auf die Bretter heben. Und mit dem
Wildwest-Tingeltangel-Tambourmajor seines Wozzeck hat er ja schon mal
„geübt“.
Von einer Ära Puhlmann in Hannover mag man nicht reden. Dafür fehlten
die
wirklichen Höhepunkte. Und es gab ja auch echte Pleiten wie die
Inszenierungsversuche der Ausstatterin Kazuko Watanabe. Eines aber hat er gewiss erreicht: er konnte sein
Publikum verjüngen, man sah es auch bei den Premieren. Ob die
scharenweise von seinem Umkrempelungspathos vergräzten Abonnenten dem
dann von Michael Klügl geführten Haus sich wieder zuwenden, bleibt
abzuwarten. Vermutlich entsteht zunächst ein neues Vakuum. Aber
zwischendurch hatte Puhlmann ja auch durchaus Grundkonventionelles
gereicht. Die staatlichen Theateraufseher allerdings konnte er damit
nicht versöhnen. Sie kürzten die Zuwendungen. Das hat er in Stuttgart
nicht zu befürchten. Erst mal. Aber die Pläne, soweit er sie schon
verkündete, deuten auch auf Risiken. Vielleicht nützt es ja auch, dass
das Stuttgarter Haus fünfmal „Opernhaus des Jahres“ war. Das schafft
Selbstvertrauen – auch wenn nicht alles Gold ist, was glänzt.
Techniker in Isolieranzügen mit Glassturzhelmen und Greifern
sondieren das Gelände: eine riesige, schräg gestellte weiße Scheibe. Sie
finden eine Perücke, einen Fetzen Papier mit der Aufschrift
„Ehevertrag“. Die Ansage ist klar. Hier wird ein Reinraum bereitet für
einen neuen Laborversuch. Eine Petrischale in Sachen Liebe.
Die Grundanordnung für seine Mozartsche Così fan tutte macht
Regisseur Joachim Schlömer sehr deutlich. Auch im ersten Akt, wenn die
Testpersonen seiner „Schule der Liebenden“ auf ihre Reaktionen auf
erotische Reize geprüft werden sollen, bleibt das noch – im wörtlichen
Sinn – im grünen Bereich. Die beiden männlichen Spezies, Guglielmo und Ferrando, die da von einem älteren Zuhältertypen Alfonso – stets mit der
Weinflasche am Mund – einerseits auf ihre Verführungskünste und
andererseits deren Verlobte auf ihre Resistenzfähigkeit getestet werden
sollen, scheinen eher tumb, stattdessen ziemlich rauflustig. Sie werden
handgreiflich bei den geringsten Differenzen. Die beiden Frauen
andererseits, die Schwestern Fiordiligi und Dorabella, die ihren
jeweiligen Mann gold gerahmt anhimmeln und bei sich tragen, scheinen
kaum ein Wässerchen zu trüben. Fiordiligi allerdings, die länger dem
Werben widersteht, hat schon tiefer von den Segnungen der Liebe genippt.
Sie ist sichtlich und spürbar schwanger.
Die Verwandlung der Männer in ihre eigenen Nebenbuhler wird hier
mittels einer kleinen Garderobe auf der Bühne von der als Helferin
angeheuerten Zofe Despina bewerkstelligt. Wie Soldaten einer
Pioniereinheit mit Tarnanzug und MG präsentieren sich die so genannten
„Albaner“ dann ihren Frauen. Das Ergebnis ihrer Künste nach mehrmaligen
Anläufen kennt man. Beide Frauen werden „schwach“, und die Männer
geraten sich wieder mal in die Haare. Zur „Hochzeit“ mit vertauschten
Rollen ist die Scheibe in einen Tisch verwandelt. Die Paare darauf
werden angefunzelt von bezahlten Zuschauern. Die Männer bocken beim
Hochzeitstrank, die Frauen signieren zügig den Ehevertrag – bis der
ganze Schwindel auffliegt. Alle vier gehen zerstritten auseinander.
Dass Così fan tutte die am schwersten zu inszenierende der großen
Mozart-Opern ist – kein Geheimnis. Mit der Unwahrscheinlichkeit, dass
frisch Verliebte sich dem nächst besten Mann an den Hals werfen und den
eigenen beim Liebesturteln nicht erkennen, kämpfte schon das
19.Jahrhundert.
Joachim Schlömer versucht die Klippe zu umschiffen,
indem er das in der Musik verankerte parodistische Element, in immer
„schwindelndere“ Höhen treibt. Der Preis ist, dass die Szene mehr und
mehr an Zauber verliert. Der zum Komplizen des schmierigen
Strippenziehers Alfonso gemachte Zuschauer verliert das Interesse. Die
Spannung schwindet statt zu steigen. Dazu hat Schlömer in Hannover für
die Rollen nicht sonderlich geeignete Sänger. Die Stimmen sind zu
schwer, insbesondere der Fiordiligi der Francesca Scaini fehlt es an
Leichtigkeit. Und es wird generell nicht sehr sauber intoniert. Die
Sänger sind auch, um den Laborversuch halbwegs glaubwürdig zu machen,
nicht jugendlich genug. Dabei versucht das Hannoversche Staatsorchester
unter Mihkel Kütson einen durchaus luftigen Mozart-Klang, wozu auch die
Begleitung der Rezitative am Hammerklavier statt am Cembalo beiträgt.
Vom Publikum gab’s am Ende die gewohnten Bravos für die Sänger. Joachim
Schlömer und sein Team mussten viele Buhs einstecken. Enthusiasmiert
klang der Beifall nicht. Er ebbte schnell ab.
Vergnüglich war es
über weite Strecken, sehr vergnüglich sogar - im
Unterschied zu so manchem, was man sonst an dem Hause an angestrengten
Neuigkeiten sah. Und sogar das Publikum spielte mit, mischte sich mit
kommentierenden Zwischenrufen ein in die Stöhn-, Zisch-, Summlaute oder
auch Verbalinjurien, die von der Bühne schollen, und praktizierte
nachhaltig, wozu es schon beim Einlass in den Saal von Choristinnen
animiert wurde: lautes Türenzuschlagen.
iOPAL. große oper nennt Hans-Joachim Hespos kryptisch sein Werk. Eine Art
Hörtheater ist das: ohne Libretto, ohne eigentliche Geschichte, ohne
definierten Zusammenhang, in 46 losen Teilen. Die müssten nicht so und
nicht in dieser Reihenfolge alle aufgeführt werden. In Hannover tut man
es, wie die Teile angeliefert wurden. Das ergibt einen Abend von knapp
zwei Stunden mit kleinen Hängern zwischendurch. Aber der aus dem
Ostfriesischen stammende 67-jährige derzeitige Hannoveraner Hauskomponist
Hespos präsentiert eine solche Fülle von differenziertesten Lauten,
Klängen, Geräuschen aus dem Alltag, dass die gesamte Avantgarde des
20.Jahrhunderts am inneren Ohr Revue zu passieren scheint. Und immer
wieder wird erlebbar, was heute besonders kostbar ist: Stille, das Nichts.
Was macht man nun mit so ohne äußeren dramatischen Bogen aneinander
gefügten, aber mit durchaus innerer oft geradezu explodierender Spannung
erfüllten Konzertteilen? Die Regisseurin und Ausstatterin
Anna Viebrock
hat sich als Bühnenbild für die Uraufführung einen ihrer
DDR-Gedächtnis-Staatsrats-Repräsentativ-Räume mit Bitterfelder
Barock-Kronleuchtern auf die Bühne bauen lassen. Eine Diagonale teilt den
Raum mit einem Durchlass, der aussieht wie ein Riesenspiegel. Er wird auch
gelegentlich von den Chordamen so angespielt als Spiegel, aber mit so
vielen eingebauten „Fehlern“, dass bei einem angeschlossenen TV-Quiz die
Telefonleitungen glühen würden. An diesem frühen Teil des Abends reagiert
das Publikum aber noch launig mit animiertem Lächeln und sogar Klatschen.
Dann geht, noch bevor der Abend zur Hälfte voran geschritten ist, der
Vorhang plötzlich zu. Aber die Musik macht trotzdem weiter. Eine
Hilfsdirigentin übernimmt die Leitung, dirigiert einen imaginären Chor,
kommt ins Gehege mit einem Geiger, der ebenfalls die Leitung übernehmen
will, während der reguläre Dirigent Johannes Harneit abgetaucht ist und
nach seinen Noten kramt. Der Männerchor – mit einigen Exemplaren schlafend
im hochgefahrenen Orchestergraben sitzend, andere lümmeln auf der vorderen
Parkett-Reihe – ist da hinter die Bühne zurückgekehrt. Überhaupt ist ein
ständiges Kommen und Gehen auf der Bühne wie bei einer Probe. Einige
Orchestermitglieder verspäten sich gleich zu Beginn. Ein Cellist zieht
sich noch eben einen Kaffee aus dem Automaten. Und nach circa neunzig
Minuten verabschieden sie sich auch schon wieder peu à peu von ihren
Sitzen, sorgfältig die Lichter ausknipsend.
Da steht noch einer der Solisten auf der Bühne. Zuvor hat er sich vor
allem mit Schimpfkanonaden hervorgetan, nun röchelt er lallende
Stöhnlaute. An ihn geklammert wie ein abgestellter Besen ist eine junge
Frau beim letzten Tango. Aus dem Graben grollen Pauken- und Trommel-Untermalungen. Das
Publikum fordert abwechselnd „Aufhören“ und „Zugabe“. Und irgendwann
erlöscht das letzte Lichtlein. Worum also geht’s? Für Anna Viebrock um das
Thema Freiheit. Wieviel Freiheit hält man als Zuschauer, aber auch als
Produzent aus? Einerseits will sie sich auf die offene Form einlassen und
keine Geschichten erzählen. Aber letztlich muss sie das dann doch. Ganz
kleine Geschichten. Theater ist Geschichten erzählen, auch wenn man den
Klängen ganz gern auch bei geschlossenen Augen lauscht.
Die Freiheit nehm' ich mir – dachte sich auch das Publikum, erteilte dem
Komponisten einen strengen Verweis, schloss aber die darbietenden Künstler
einschließlich des Leitungsteams in seine durchaus zahlreichen Arme.
Allerdings jemandem von McKinsey sollte man diese Freiheitserfahrung nicht
empfehlen. Der oder die könnte dann vielleicht animiert sein, sich noch
ganz andere Freiheiten zu nehmen.
Sex und Crime gelten als seine Spezialität. Der Ruf verpflichtet. Und
das veristische Einakterdoppel von Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana
und Ruggero Leoncavallos Bajazzo scheint ein besonders verlockendes Objekt
von Calixto Bieitos Begierde. Der katalanische Regisseur spannt in
Hannover die beiden Eifersuchtstragödien gar zusammen zu einem Stück,
lässt die Hauptfiguren des einen mit geändertem Namen im anderen
wiederauferstehen. Aus Turridu wird Canio, aus Tonio Alfio, aus Lola Nedda.
Den Bajazzo-Prolog über die Bestie Mensch spannt er vor die Cavalleria.
Tonio schlitzt da der Liebe träumenden Santuzza mit einer Zeitung das
Kleid auf, um die Verworfenheit der Spezies Mann zu exemplifizieren. Und
die Arme wird dann auch noch mit dem Gartenschlauch abgespritzt, um ihr
nasstriefend einzubläuen, was sie ist.
„Ländlich“ ist an dieser Cavalleria wenig. Wie meistens lässt Bieito das
in einer dieser harmlosen Vorstadthöllen spielen; die Spaßgesellschaft
feiert spießige Dauerparty. Die Mechanik von Bieitos Opern-Adaptationen
kann man bei diesem Abend in Hannover aber besonders gut studieren. Im
Programmheft gibt’s dazu eine Art Kochrezept. Die Ingredienzien ähneln
sich. Es wird gewürgt (Clown Beppo in der Telefonzelle die Mamma),
gezündelt, vergewaltigt, begrapscht, beschmiert, ein bisschen getanzt.
Jeder kämpft hier gegen jeden. Der Chor spielt dafür Kulisse oder muss
sich mit Aerobic fit halten fürs Zuschauen. „Strahlende“ Siegerin in einer
verwüsteten Stadtlandschaft bleibt am Ende Santuzza. Ihr Gesicht erglüht
rot wie ein Osterfeuer. Ihre Hauptbeschäftigung davor: Ausschütten und
wieder Einfüllen ihrer sieben Sachen in ihren Einkaufsbeutel. Frauen sind
halt so.
Leandra Overmann gibt diese Santuzza mit Stentorstimme und beachtlichem
Durchhaltevermögen. Daneben kann vor allem Thomas Ruud als Clown Beppo und running gag punkten.
Mihkel Kütson hat das Staatsorchester Hannover zu
einem überraschend frischen Leoncavallo-Mascagni-Ton animiert. Was
wirklich gewonnen ist mit dieser Opern-Verschmelzung steht dahin. Zu
ungenau bleibt Bieitos Personenführung, zu pauschal, zu wenig geformt die
Charakterisierung. Wie sich das Ganze in der Musik begründet, sollte man
hier ohnehin nicht fragen. Man erkennt die Bieitoschen Versatzstücke.
Besonders spannend ist das nicht. Das Premieren-Publikum buhte ausdauernd.
Das darf genügen.
In Mannheim haben Sänger sich jüngst Bieitos Ansinnen verweigert. Der
Regisseur reiste beleidigt ab. Die Leitung des Hauses musste eilends einen
Don Carlo-Uraltersatz aus Zürich einkaufen. In Stuttgart lässt der
künftige, jetzt noch in Hannover wirkende Intendant Albrecht Puhlmann
einen Teil des Ensembles kündigen, wohl um Widerstand von vornherein
auszuräumen. Auffallen um jeden Preis, so bauen sich Karrieren.
Cravalleria Bieitana.
Eine Frau,
alterslos, mit vielen Identitäten. Die Männer himmeln sie
an. Ein junges Mädchen möchte werden wie sie: gefeierte Sängerin,
umschwärmte Schönheit. Die Frau hat ein Geheimnis. Es liegt viele hundert
Jahre zurück. Věc Makropulos („Sache Makropulos“) ist die
drittletzte Oper von Leoš Janáček, uraufgeführt 1926. Das Thema Angst vor
dem Altern, Angst vor dem körperlichen Verfall selbst scheint alterslos.
Zumal heute in Zeiten von Jugendwahn und florierender plastischer
Chirurgie. Und Marty, der umschwärmte Superstar dieser Oper, verdankt ihre
ewige Jugend eigentlich einer Versuchsanordnung, die als gescheitert galt.
Der Trank, den ihr Vater braute, sollte an ihr nur erprobt werden. Aber er
wirkte. Nun muss sie mit ihrer Jugendlichkeit leben, ist geradezu süchtig
danach – wie die Männer, denen sie begegnet, süchtig werden nach ihr. Aber
nun beginnt die Wirkung zu verfliegen. Fieberhaft fahndet sie nach dem
Rezept, das in irgend einer Erbschaftsakte versteckt liegt. Ein
Kriminalfall der besonderen Art.
Der flämische Regisseur Luc Perceval versetzt die Handlung in eine Art
psychiatrischen Raum. Seine Marty ist ein sich ewig jung gerierendes
Fräulein im Tüllkleid. Sie balanciert und tanzt auf schwankem Boden
(Bühne: Annette Kurz) von wie armdicke Mikadostäbchen die Bühne
bedeckenden Balken. Und sie schwebt auf einer Schaukel über den Köpfen der
Männer, die sie begehren, die sie begrapschen. Die Schaukel wird ihr am
Ende zum Galgenstrick. Heftig schluckt sie Fusel, bevor sie endlich der
ganzen Wahrheit ins Gesicht blickt, den Schleier lüftet und ihr Geheimnis
preisgibt. Es ist wie eine Therapie. Den Zettel mit dem Rezept, das sie
dem jungen Mädchen weitergeben will, knüllt dieses empört zusammen,
schmeißt es weg. Auch die Männer wenden sich von ihr ab. Heroisch versucht
sie noch Haltung zu wahren, wacklig auf der Schaukel stehend. Die
Einsamkeit überwinden kann sie nicht.
Christiane Iven singt diese Marty in der Hannoveraner Inszenierung mit
viel Kraft aber auch Mut zur Entblößung. Das Starmodel unserer Kino-, TV-
und Modewelt ist sie nicht. Das Begehren, das sie bei den Männern auslöst,
ist anderer Natur. Auch Gregor, eigentlich Martys verheimlichter Sohn aus
einem ihrer früheren Leben, der heftigst um sie wirbt, wird von Michael
König gezeigt als eher Nervenbündel. Immer zupft er sich mit den Händen am Jacket, am Oberteil seines Schlafanzugs. Grob fasst er der Frau an die
Brüste. Er weiß nicht, dass sie seine Mutter ist. Jaroslav Prus, der
andere Mann, der besonders eindringlich um sie wirbt, sich auch einen
(freilich enttäuschenden) one-night-stand mit ihr erobert, wird verkörpert
von dem großartigen Thomas Möwes. Am Premierenabend leider indisponiert,
musste er sich stimmlich doubeln lassen von Jan Zinkler, Sänger der Rolle
in einer Neuproduktion im benachbarten Braunschweig. Die Spaltung der
Figur (beide Sänger lässt Regisseur Perceval auf der Bühne agieren) gab
der Aufführung einen besonderen touch.
Etwas al fresco lässt Dirigent Shao-Chia Lü die Musik im Graben spielen.
Die gleißenden Farbmischungen von Janáceks Partitur kommen nicht so recht
zum Leuchten. Das Hannoveraner Publikum, offensichtlich mittlerweile
versöhnt mit dem neuen Kurs an seinem Opernhaus, war’s gleichwohl
zufrieden und spendete begeisterten Applaus, den Sängern wie dem
Leitungsteam. Wie schon bei seiner ersten Operninszenierung, dem Tristan
in Stuttgart letzten Sommer, versucht Perceval die Figuren eher von einer
inneren Spannung her zu modellieren. Sehr variantenreich ist dieser Abend
dadurch nicht. Man spielt die drei Akte ohne Pause. Die deutschen
Übertitel werden auf drei ebenfalls balkenartigen Laufschriftanzeigen ins
Bühnengeschehen eingeblendet, was das Mitlesen der textreichen Oper nicht
gerade erleichtert. Restlos überzeugen kann die Aufführung nicht. Etwas
einschichtig ist der Blick Percevals auf das Stück. Es bleiben blinde
Flecken im Netz der Figuren, unaufgelöst.
„Warm“ wird man hier lange nicht, und soll es auch nicht werden. Es ist
ein Tristan des Minimalismus. Und die vielen Toten am Ende – sie
verweigern ihr Totsein, stehen als Untote einfach wieder auf. Isolde
lassen sie mit ihrem Versinken, Ertrinken allein, sodass die sich
ungläubig umschauen muss im Saal.
Arg karg beginnt es. Schon im Vorspiel tapern die Beteiligten aufs
Proszenium, stellen sich wie Salzsäulen auf. Ein kleines Mädchen – es
entpuppt sich später als Morolds Spionin und Petze – schaut sich alle
genau an. Die Bühne ist verhängt mit einem halbtransparenten Tuch. Dort
kann man das Vorspiel auch „sehen“. Per Video wird das Orchester darauf
projiziert. Der Steuermann singt im Regen seine Ballade von Wind und
Wetter dahinter auf einem Podest als Schatten wie ein Giovanni-Komtur.
Etwas eng geht’s dann vorn zu, fast den ganzen ersten Akt. Brangäne und
Kurwenal, die Diener, müssen ihre Meldungen bei der anderen Partei jeweils
machen, indem sie unter dem Vorhang hindurch schlupfen. Isolde lebt ganz
ihrer Erinnerung an den getöteten Geliebten Morold, den sie als Statuette
aus der Wand kratzt. Den „furchtbaren“ oder vielleicht hier „fruchtbaren“ Trank ritzt sie mit einem
rasiermesserscharfen Amulett aus Brangänes Vene. Und, wie die Massai
stärkendes Stierblut, trinken Tristan und Isolde von diesem
traditions-„positiven“ Blut aus Brangänes Arm.
Für den zweiten Akt öffnet Regisseur und Choreograf
Joachim Schlömer, der
hier auch sein eigener Bühnenbildner ist, den Raum: nackt, nachtschwarz
und bloß ist der. Nur ein Spiegel mit Kamera dahinter wie eine Art
Bluttransfusionsstelle steht dort und ein Küchenstuhl. Ihren Liebesakt
gestalten Tristan und Isolde auf eben diesem Stuhl, durch eine graue Decke
medusenartig verwachsen zum Klimt-Paar. Zum Liebestod setzen sie sich vorn
auf Kante, lassen die Beine baumeln über dem Orchestergraben.
Aber nicht
nur Brangäne „wacht“. Auch Morolds Spionin-Töchterlein schleicht sich
unter der nach hinten abtrennenden Wand herein und petzt dann alles dem
Papa. Der kommt auch sogleich, alles zur Seite rempelnd, mit dem Chef.
Marke stellt sich für seine markante Durchsage auf den Küchenstuhl. Den
Ring, den der König Isolde trotzdem noch über den Finger zwingen will,
gibt Tristan wieder zurück. Und seine Wunde bringt er mit dem Amulett auch
sich selber bei. Nur keine falschen Abhängigkeiten, nur keine
Sentimentalitäten!
Auch für Tristans Sterben hält Schlömer nur einen Stuhl als Krankenlager
bereit. Ein paar Gummistiefel stehen noch herum für die eventuelle
Anlandung von Isolde. Doch die Wasserwelle – ganz bildlich direkt als
Klabautermann mit Rolle vor- und rückwärts – spuckt sie lange nicht aus.
Und als Isolde dann endlich kommt, folgen auch gleich noch ihr Double
Brangäne und der König. Marke, als er die Exbraut Isolde definitiv im
Liebeswahn versinken sieht, hübscht umstandslos deren Dienerin mit deren
Accessoires auf: zieht ihr die rot gelockte Perücke, den silbernen
ISO-Mantel und das Amulett um. Nicht nur die latente Homosexualität der
beiden Herren-Diener-Paare wird von Schlömer so noch einmal akzentuiert.
Sondern auch, dass Brangäne die eigentliche Lenkerin der Geschicke ist.
Aus ihrem starken Arm tranken Isolde und Tristan den vermeintlichen
Todestrank. Ein Naturereignis ist die Liebe von Tristan und Isolde also
nicht.
Sehr dicht und mit sich steigernder Stringenz ist das alles erzählt. Und
Schlömer hat dafür auch hervorragende Sängerdarsteller zur Verfügung.
Zumal die Isolde von Barbara Schneider-Hofstetter kann bei diesem
Rollendebüt mit ihrer kraftvoll strahlenden, vielleicht in den lyrischen
Partien nur etwas schwächeren Stimme überzeugen. Mühelos hält sie die
Spannung bis zu ihrem Schlussgesang. Louis Gentile als Tristan hat damit
doch etwas Probleme. Aber körpersprachlich ist er, zumal in der
Darstellung des kranken Tristan, höchst präsent. Großartig auch die beiden
Diener: Veronika Waldner ist eine stets aufmerksame Brangäne, Shigeo
Ishino ein kraftvoll dazwischen gehender Kurwenal. Xiaoliang Li gibt den
resolut wütenden König, Oliver Zwarg den immer schlagbereiten Bodyguard
Melot. Shao-Chia Lü am Pult beginnt mit etwas überdehnten Tempi,
unterläuft so eher die Kargheit der Bühne. Auch die Feinheiten der
Wagnerschen Partitur darf man sich hier nicht erwarten. Insgesamt
präsentiert sich das Hannoveraner Haus aber mit diesem Tristan in einer
frisch aufgeräumten Façon.
Das Publikum mochte diese (sehr Kosten sparende) Variante der Wagnerschen
„Handlung“ freilich nicht so ganz goutieren. Es buhte kräftig gegen
Schlömer und sein Team. Der Sog, den diese Aufführung zumal ab dem zweiten
Akt entwickelt, ist aber beträchtlich. Erstaunlich bei diesem so
handlungsarmen Stück.
Wir
befinden uns in einer dieser, neudeutsch gesprochen, „Shopping Malls“:
Menschen in einer überdachten Einkaufsstraße, Menschen mit ihren
Sehnsüchten, Hoffnungen, Ängsten. Da ist der Dr.Nice mit seiner Praxis,
ein Schönheitschirurg, der den universal blendenden Typ kreieren und dabei
selber auch immer mal wieder was Neues ausprobieren will. Die Ehefrau darf
derweil den Kinderwagen schieben und den Sohn beaufsichtigen beim Spielen
mit seinem ferngesteuerten Elektroauto. Da sind die Angestellten einer
Supermarktkette mit dem ebenfalls sprechenden Namen Allgo, die auch einen
erweiterten Service für alle Dinge des täglichen Bedarfs anbieten. Und da
ist ein Herr im Nadelstreif und mit Sonnenbrille, ein Mr.Hondo, der was
unternehmen will und der das am Ende auch „warm“ schafft – nach einem
kleinen Kaufhausbrand. So unterschreiben denn alle die vorgedruckten
Zettel und schlüpfen in die blütenweißen Kittel mit dem knallroten H auf
der Brust. Und auch Familie Nice findet in der Not wieder zusammen, der
Mann etwas lädiert im Rollstuhl, Mrs. Nice nach ausgiebiger Kur in der
Beautyfarm, und der Sohn darf das Abendgebet anstimmen, die Evening Hymn.
So auch der Titel des knapp zweistündigen Abends in der Staatsoper
Hannover.
Kazuko Watanabe hat das eingerichtet. Sie zeichnet verantwortlich nicht
nur als Ausstatterin sondern auch als Regisseurin. Im Mittelpunkt aber
steht die Musik Henry Purcells. Einige der schönsten Lieder, Kanons, Anthems, Chöre hat man hier zusammengestellt. Und da tun sich schon
gelegentliche Klüfte auf zwischen der Banalität der erzählten Geschichte
und der Schönheit dieser Musik aus dem des 17.Jahrhundet. Aber es gibt,
zumal in den Chören, begleitet von leibesertüchtigenden Übungen, doch auch
immer wieder reizvoll Kontrastierendes. Frisch erklingt diese Musik unter
Leitung von Konrad Junghänel mit dem auf historisierende Praxis
gebürsteten regulären Orchester des
Hauses.
Von den Sängern beeindrucken
können vor allem Carolin Masur als biestige blonde Rivalin Bess, die der
freilich zupackend wehrhaften Ehefrau Mrs.Nice (Cordula Berner) den Platz
auf dem Laufsteg streitig machen will und am Ende klein beigeben muss. Ein
nicht nur die Schönheit liebender Dr.Nice ist mit sehr agiler, heller
Stimme der Counter William Purefoy. Den geschäftstüchtigen Nadelstreif
gibt mit baritonalem Klang Shigeo Ishino; am Ende muss er als Blinder tapsen
durch sein neues Eigentum. Liebling aller indes ist Nice Junior, ein
Sänger vom Knabenchor Hannover, mit schon recht ausgereiftem
Ausdrucksvermögen, wenn auch anfangs etwas nervös.
Für die Regisseurin gab es am Ende einige Buhs. Und am Timing ließe sich
gewiss noch einiges straffen. Ein großer Theaterabend ist es eh nicht und
will es auch gar nicht sein. Mehr ein szenischer Liederabend auf den
entfernten Spuren eines Marthaler, eine Entdeckungsreise in die barocke
Welt des Henry Purcell. Denn für Musiktheaterabende heute spielbares
Material gibt es von diesem großen englischen Komponisten eigentlich
nicht. Die „Halbopern“ King Arthur oder The Fairy Queen sind wegen der
ausufernden Mischung der Gattungen Schauspiel und Oper kaum noch irgendwo
realisierbar.
Diese Spielzeit müsse die „Trendwende“ bringen, sagt Intendant
Albrecht Puhlmann. Es ist seine dritte in Hannover. Viel hat der frühere
Basler Operndirektor seinem Publikum zugemutet. In Scharen liefen ihm die
Abonnenten davon.
Jetzt
hat das Land auch noch eine Absenkung der
Subventionen für die Staatstheater beschlossen. Bis 2006 müssen Oper und
Schauspiel fünf Millionen Euro einsparen. Zwei Drittel davon hat die Oper
zu tragen. Er müsse jetzt „pragmatischer“ werden, sagt Puhlmann, mehr
populäre Stücke ins Programm heben.
Einer der Hauptverursacher des Abonnentenschwunds,
Calixto Bieito, hat nun
seine dritte Arbeit an dem Hause vorgelegt. Nach „Don Giovanni“
und „Il trovatore“ inszenierte der Katalane Verdis „La traviata“. Keine Orgie aus
Blut, Gewalt und Sperma ist daraus geworden, sondern eine sehr beachtliche
Neusicht des viel gespielten Stücks um die „vom Weg abgekommene“ Lebedame
der Pariser Partygesellschaft. Violetta Valéry und ihre Vertraute Annina
Flora – hier sind sie keine dem sicheren Schwindsuchtsende entgegen
siechende Schicksalsgemeinschaft. Violetta und Flora sind frühe Schwestern
der Lulu und Geschwitz. Die Krankheit Violettas ist nur gespielt, auf
Video tränenreich für die Medien „dokumentiert“. Das Geld ist gezählt, die
Koffer sind gepackt. Endlich wollen die beiden dem Dasein als Möbelstücke
für die Lust anderer Männer und Frauen ent-kommen. Mit schrillem Lachen
begleitet Valéry jeweils die Avancen des Alfredo Germont. Und dann spürt
sie doch so etwas wie Liebe für den jungen Mann. Aber sein Vater stellt
mit Scheckbuch und großen Scheinen im Portemonnaie die Relationen wieder
her. Er bedient sich selbst an Valéry. So, sagt er, schützt er die
„Reinheit“ seiner Tochter, die, sollte Sohn Alfredo Violetta heiraten, die
angestrebte große Partie nicht bekommen könnte.
Die Bühne (Ariane Isabell Unfried, Rifail Ajdarpašic) ist ein
Einheitsraum: Violettas „Arbeitsplatz“ mit Bar unten und für den Videochat
eingerichteter Kuschelecke oben auf der Galerie. In Strapsen und
wechselnden Perücken stöckelt Violetta durch die Szene (Kostüme: Anna
Eiermann). Den Husten für die Schwindsucht trainiert sie sich, als der
Fluchtplan reift, mit dicken Zigarren an. Leider nimmt Natalia Ushakova
als Violetta sich zum Einsingen etwas viel Zeit. Die hohen Töne kommen
anfangs eher schrill.
Berührend
aber das gleichsam tonlose Gestammel, wenn
sie Giorgio Germont (Trond Halstein Moe als immer kontrollierter
Geschäftsmann) den Verzicht erklärt auf Alfredo.
Will Hartmann spielt und
singt diese Figur höchst impulsiv, fit wie ein Turnschuh. Das pralle
Leben, mit Sinn auch fürs Geschäft, die Flora der Leandra Overmann. Trotz
draller Rundungen wagt sie schon auch mal einen Strip. Perfekt inszeniert
sie die Verwandlung zur Krankenschwester für die Blut spuckende
Simulantin. Enrique Mazzola am Pult schlägt mitunter so flotte Tempi an,
dass es gewisse Unstimmigkeiten gibt zwischen Bühne und Graben. Das
Publikum reagierte immer wieder mit Szenenbeifall.
Am Ende gab’s einige
erbitterte Buhs, es überwog aber eine fast euphorische Zustimmung – sicher
nicht nur als Mitleidseffekt nach dem staatlichen Anziehen der Geldschraube. Bieito hat hier, von Mätzchen weitgehend sich frei machend,
genau hinein gehört in die Musik. So kommt er zu der überraschenden
Umdeutung des jubelnd aufklarenden Verdischen Schlusses.
Ankunft
im Sanatorium. Eine Art geschlossene Anstalt, Anlaufpunkt für
Sanierungsfälle ist das Schloss Allemonde in dieser
Bühnen-Einrichtung. Die Melisande gabelt Patient Golaud als geistig
etwas verwirrte Gespielin auf unter den Patienten in dem kafkaesken
Labyrinth und bringt sie in
sein etwas freundlicheres Appartement mit Warte- und
sonnenblumenhellem Tagesraum. Pelleas ist eifrig mit der
Konditionierung seines Körpers beschäftigt. Das outfit deutet auf
Biken als Fitness-Hit. Die Alten, Arkel und Geneviève, sind übrig
gebliebene 68iger. Sie im struppig alternativen graumelierten
Halblanghaar, er mit weißblonder Beatles-Mähne. Noch immer träumen sie
träumen von einer möglichst heilen Welt. Nur Söhnchen Yniold, der
potenzielle Nutznießer, hält gar nichts davon. Laut und wuchtig tobt
er durch die klinisch kahlen Gänge, lässt seine Spielzeug-Jagdbomber
und -Panzer gegen Mensch und Wände donnern. Später darf’s dann auch
schon mal ein Stofftier-Klammer-Äffchen sein. Und er beschmiert die
Wände mit einem Haus in Grün.
Was Regisseur Jossi Wieler, sein dramaturgischer Souffleur
Sergio Morabito und Ausstatterin Kazuko Watanabe zeigen,
hat mit Claude Debussys als Siebenmeilenschritt ins
20.Jahrhundert einst gefeiertem und bekämpftem Lyrischen Drama
Pelléas et Mélisande immerhin den Namen gemeinsam. Alle sublime
Poesie ist dem Stück allerdings ausgetrieben. Geradezu grotesk laufen
Optik und Text zumal im ersten Teil auseinander. Die in Maurice
Maeterlincks Schauspiel geforderten Schauplätze werden von
Watanabes Bühne in keiner Weise übersetzt. Alles ist hier Fiktion oder
bleibt im Ungefähren. Auch auf die musikalische Qualität der
Aufführung (Leitung: Schao-Chia Lü) wirkt sich das aus. Sie
bleibt zumal der erste Teil matt, flau, ohne Spannung. Erst im zweiten
Teil spürt man etwas mehr innere Kraft. Der Halbbruder-Zweikampf wird
hier hochdramatisch dem finalen Rettungsschuss zugetrieben. Melisandes
Sturzgeborenes kommt als Frühchen im Brutkasten zur Erquickung von Oma
und Opa angefahren. Früh darf es sich einüben in die mobile
Gesellschaft, wie Yniold sie exzessiv mit permanenten Spritztouren auf
den Klinik-Gängen im Kinderwagen verinnerlicht hat. Golaud legt seiner
ins Jenseits scheidenden Ex noch die Pistole als Geleitschutz mit ins
Sterbebett. Sicher ist sicher.
Gesungen wird leidlich bis gut, zumal Alla Kravchuk als Mélisande,
Will Hartmann als Pelléas und mit einigen Abstrichen auch
Oliver Zwarg als Golaud können überzeugen. Wieler-Morabito begeben
sich auf die Spur, die Marthaler legte vor Jahren in Frankfurt. Eine
wirkliche Neudurchdringung ist ihre Version aber nicht. Zu viel bleibt
offen. Zu viel Unausgegorenes passieren dem Team: Unerfindlich, warum
der hypermotorische Yniold ständig Debussys heikle Musik torpedieren
muss. Um zu beweisen, dass es die Hochkultur schwer hat heute im Markt
der Entertainment-Angebote? Oder was soll die Umbaupause vor dem
5.Akt? Außer zur Entrümpelung des Sterbeorts erzählt sie nichts. In
Hannover blieben bei der Premiere viele Plätze leer. Ein Alarmzeichen,
zumal bei diesem Stück. Der Schlussapplaus galt allein den Sängern,
das Team musste energische Buhs einstecken.
Calixto Bieito liebt drastische Bilder.
Im Don Giovanni
ließ er den Frauenverführer seine Eroberung Donna Anna vergewaltigen
auf einer Fiat-Motorhaube. Die Mozart-Inszenierung des Katalanischen
Regisseurs geriet zur umstrittensten, freilich best verkauften in
der ersten Amtszeit des neuen Hannoveraner Intendanten und früheren
Basler Operndirektors Albrecht Puhlmann.
Auch bei Bieitos zweiter Inszenierung an
dem Hause, Verdis il trovatore
war Ärger vorprogrammiert. Und er machte sich Luft schon in der
Premiere lauthals mit Türenknallen und einem Buhgewitter am Ende.
Dabei fand Verdi selbst den reichlich dunklen Stoff aus dem
spanischen Mittelalter "bizarr", woran er sich auch als 40-Jähriger
delektierte. Hans
Neuenfels hatte in zwei Anläufen, erst in Nürnberg bei seinem
Einstand als Opernregisseur dann 1996 in Berlin, aus dem Stück ein
Fest absurd-provokanten Theaters gemacht. Bieito nimmt den Stoff
grimmig ernst mit aller ihm zu Gebote stehenden Humorlosigkeit. Bei
ihm spielt die Geschichte in irgendeinem zeitgenössischen
Bürgerkrieg, Sado-Maso inklusive.
Zuhälter,
Huren, Ausgestoßene bevölkern seine Szene. Die Bühne (Ariane
Isabell Unfried, Rifail Adjarpašić)
wirkt wie eine Verladehalle für Gepäck oder Postpakete. Leonora ist eine
tablettensüchtige, aber mariengläubige Prostituierte. Hin und her
gerissen zwischen dem Bandenboss Luna und dem angehenden Superstar
Manrico, beschließt sie in der größten
Not abzutauchen in die Badewanne statt ins Kloster. Lässt
Ferrando, Lunas Gehilfe, die krause Familiengeschichte seines Bosses mit der
Verhexung des Bruders und dessen vermeintlicher Verbrennung durch
eine am Kindbett gesichtete Zigeunerin schon drastisch
vorexerzieren, indem er einen seiner Leute auf offener Bühne
abfackelt – das Verhör der von seinen Leuten aufgegriffenen und fast
zu Tode gewürgten Azucena wird als Folterorgie mit Elektroschocks
dick ausgepinselt. Den Gifttod Leonoras verlegt Bieito in einen
Flucht-Container, wo der Eimer mit Fäkalienschlamm zur
Körperdekoration griffbereit steht. Und auch auf
Manrico, der längst seine Gitarre
zertrümmert hat, und auf Azucena wartet dort dann der Henker mit dem
Hackebeilchen. Hamann lässt schön grüssen.
Es wird viel geklettert, gerannt, gekreischt und gerauft in dieser
Inszenierung. Man sieht viele Macho-Muskelpakete und Glatzen, zumal
in der das Publikum am meisten enervierenden Folterszene. Aber
Bieitos knochenharter „Realismus“ bleibt
letztlich Oberflächenreiz. Die Szene dieser Sinfonie des Todes, wie
Bieito sie empfindet, wirkt überfrachtet, noch mehr
verunklart, sie rührt nicht tiefer.
Theater kann keine Filmreportage ersetzen, man wusste das eigentlich
schon länger. Immerhin ist Verdis Musik auch für solche szenische
Gewalt-Expeditionen durchlässiger als die eines Mozart.
Und es wird auch unter der Leitung des jungen Esten
Mihkel Kütson relativ frisch musiziert. Die Chöre gelingen recht präzis.
Und auch bei den Solisten spürt man das hohe Engagement.
Francesca Scaini, schon die Donna
Anna im Giovanni ist hier die leidgeprüfte Leonora,
Leandra Overmann die zur Rachegöttin
bestimmte Zigeunerin Azucena mit schön ausbalancierten Registern.
Den besten Eindruck macht Ki-Chon
Park mit seinem nicht sehr großen, aber doch strahlkräftigen Tenor als
Manrico, während der Luna von Hannu Niemelä etwas zu mondblass bleibt.
Viel Medienwind wurde im Vorhinein um die Produktion gemacht. An Bieito
scheiden sich die Geister. Das angestammte Opernpublikum ist wenig amüsiert.
Ob genügend junges nachströmt?
Mord
in der Abflughalle, und keiner schaut zu. Selbstzufrieden wischt sich
der Ripper die Pfoten mit dem Taschentuch.
Lulu liegt einfach hingekauert in ihrem Stahlrohrsessel und röchelt
ihr Leben aus. Zu Boden gestreckt die "Schwester", Geschwitz. Ihre
Geh-Hilfe liegt irgendwo zerkracht in
einer Ecke. Sie murmelt noch was von "für Frauenrechte kämpfen" - die
"lustigste" Idee in Barbara Beyers Hannoveraner Lulu-Inszenierung.
Als Radaumaus, als Regisseurin, die Stücke gegen den Strich zu lesen
verstehe, gilt Barbara Beyer. Hier allerdings rätselt man über weite
Strecken, was sie aus dieser Bergschen Lulu wohl herausliest.
Viel scheint’s nicht. Den gesamten ersten Teil bis Lulus Flucht lässt
Beyer in einer Theaterkantine spielen. Ihr Bühnenbildner Hermann
Feuchter hat dafür nach Viebrockschen
Vorbildern einen Raum mit viereckigen Tischchen, weißen Tischdecken
drauf und Stühlen mit ausgeschnittenen Herzchen in der Rückenlehne
gebaut. Lulu übt im seidenen Morgenmantel am Tresen Teebeutel-Fangen,
Kreuzworträtsel-Lösen oder sich nicht weiter kümmern, wenn ihr Maler
plötzlich wie ein Schinken im Rauchfang hängt. Der Vater ist der
Küchenchef und schlürft seine Suppe nach einem kräftigen "
Hier-sind-wir-endlich-zuhause"-Gebet. In ihrem pinkfarbenen
Zirkusprinzessinnen-Kostüm wälzt die
ehemalige Tänzerin sich köstlich lachend am Boden wie die
Dubarry nach der Revolution.
Praktischerweise heißt die Sängerin der Hauptpartie Melanie Walz.
Sie hat eine schöne Stimme, wenn sie denn Jürg Henneberger
am Pult des Dauer-Mezzoforte-Orchesters mal sich entfalten lässt. Nur so
was wie ein Vamp, nach dem die Männer sich verzehren, ist sie nicht.
Eher die Sekretärin vom Büro nebenan, deren Hobby Männer-Verbraten
ist. Immerhin drei davon schafft sie in der Kantine in den eineinhalb
Stunden von Teil eins. Man hat sich entschlossen zur (von Friedrich
Cerha dreiaktig "komplettierten" Version
des Bergschen Torso. Dabei ahnen Theaterpraktiker längst, warum Berg
den Torso als Torso beließ und nicht selber den Oberlehrer spielte und
„ergänzte“ mit dem Ab- zum Aufstieg der männermordenden Lulu. Aber
Hannovers Staatsoper probt seit dem Amtsantritt von Intendant Albrecht
Puhlmann letztes Jahr den Aufstieg in die
Opern-Oberliga. Da musste es wohl die Lulu in drei Akten sein.
Der Wartesaal für den zweiten Teil, den sich Feuchter hat einfallen
lassen, ist in chicem Silbergrau gehalten. Mit Cocktailbar wird er
später sogar zur VIP-Lounge upgraded. Das
Licht ist mehr oder minder Einheits-Neon. Viel gearbeitet wird damit
nicht. Es wird aber jetzt mehr gegangen als gesessen wie zuvor an den
Herzchen-Stühlen und Tischchen der Kantine, die dann alle der Reihe
nach wie Dominosteine männlicher Machtfantasien in die Horizontale
schlaffen. Alwa im weißen Sommerdress (Kostüme: Heide
Kastler) muss allerdings zum
Kontrollieren der Aktienkurse am Laptop jetzt längere Zeit an einem
Tisch Platz nehmen. Aber verkünden kann er da auch nur den Crash.
Gespannt verfolgen alle, wie Trauben an dem rosa Blatt hängend, die
gar nicht so rosigen Nachrichten.
Was man an dieser Aufführung vor allem vermisst, ist eine genaue
Charakterisierung der Figuren in ihren Spannungsverhältnissen. Eher
blass bleibt hier auch der Star des Marthaler-Theaters, Christoph
Homberger, als Alwa. Thomas Möwes als
Dr.Schön und Jack the Ripper, mittlerweile gereift zum
musikalischen Charakterdarsteller von hohen Graden, sticht ihn mühelos
aus. Am Ende gibt’s viel Beifall für die Sänger. Melanie Walz
allerdings muss als Lulu auch einige Buhs kassieren. Die sind fürs
Regieteam schon fast obligatorisch, was die Regisseurin Barbara Beyer,
die hier schon mit einer Jenufa heftiges Missfallen erntete,
gar nicht glauben mag. Zur Pause waren allerdings auch manche
Besucher schon abgewandert, ein weiteres Plädoyer für die Kurzfassung.
Eines hat Puhlmann allerdings mittlerweile geschafft: Das Publikum hat sich um einiges
verjüngt bei den Premieren. Vielleicht klappt's ja dann eines Tags auch mit
den ihnen kredenzten Produktionen.
Diesen Giovanni straft kein höheres Wesen, sondern die, die er gequält hat mit
seinen Exzessen. Auf einen Küchenstuhl wird er gebunden von Kumpels aus
der Vorstadt und mit Kleberolle arretiert. Jeder darf zum Schlusssextett
mal auf ihn einstechen. Und sie tun es mit Lust. Nur Elvira, die ihn
vielleicht wirklich geliebt hat und immer wieder sich ihm angeboten hat,
muss
man dazu zwingen.
Manches ist plausibel an des Katalanen Calixto Bieito
Deutung des Giovanni. Vor allem wie er gesprächsweise die Figuren
analysiert. Nur ist auf der Bühne davon wenig zu sehen. Und vieles wirkt
aufgesetzt, schlichtweg unmusikalisch. Einen weniger erotischen
Giovanni hat man selten gesehen. Wie etwa kriegt dieser
Vorstadt-Juanito Zerlina, die gerade ihre Hochzeitsparty feiert, rum? Es wird
lediglich behauptet.
Triste beginnt’s schon. Ein schwarzer Renault fährt
auf die Bühne (Alfons Flores). Leporello, ein Fußballnarr, sitzt am Steuer. Auf dem Rücksitz
besorgt’s Giovanni der Anna. Der Vater
taucht auf und knüppelt besinnungslos die Scheiben ein. Beim Handgemenge
läuft er in Giovannis Messer und wird halb tot in den Kofferraum
verfrachtet. Blutüberströmt - man ahnt’s -
taucht der "Commendatore" am Ende wieder auf
aus dem Kofferraum von Wagen CO-TORE1 in Leporello/Giovannis Kochnische.
Dort lässt er sich den Rest geben, nicht ohne dass er dem
Tochterschänder zuvor noch seinen ihm zugedachten Fraß ins Maul gestopft
hat. So ätzend humorig geht’s auch zu auf dem "Friedhof", einer
Bartheke mit Laub-Anschluss. Wenn Giovanni
und Leporello die Kleider tauschen, ist die Chips mampfende und im
Alkdusel verdunstende Elvira wie immer zur Stelle, um ihrem
vermeintlichen Giovanni einen zu blasen. Der
stets gern zum Hosen-Runterlassen bereite Leporello ächzt und stöhnt
unter dem potenten Zugriff - wie auch Mozart/da Pontes Zweiakter.
Aus dem Graben weht unter David Parry
ein eher laues, allzu laues Lüftchen. Mozart light. Mit Garry
Magee hat man in Hannover immerhin einen
zu allem bereiten flippigen Sportsfreund Giovanni. Francesca
Scaini ist eine großartig intonierende
Anna, im Tigerkleid (Kostüme: Mercé Paloma) sichtlich zu Höherem geboren,
José Montero ihr fieser Werber Ottavio.
Stimmlich etwas schmal, aber durchaus mit großem Talent,
Sunhae Im als verhinderte Braut Zerlina. Aufführungen wie diese im Geiste
von Peter Sellars vermutete man sonst eher
als letzten Schrei im Dunstkreis der Neuköllner Oper. Die Hannoveraner
Produktion ist freilich eine internationale Koproduktion mit der
English National Opera London (Premiere dort
im Juni
2001) und dem Gran Teatre Liceu Barcelona. Bieito,
der schon im Sommer in Salzburg mit seinem Macbeth einen
Empörungssturm entfachte, erntete auch diesmal wieder heftige
Publikumsschelte. Seinen Marktwert bei Dramaturgen dürfte das aber
zweifellos weiter ungemein steigern.
Die Verwurstung von Rinder-Wahn und Schweine-Backe wird uns gottlob nur per
Video vorgestellt. Dafür darf der Hund "live" nach der Wurst schnappen,
aufs Ketchup verzichtet er. Ansonsten schlägt Dr.Eisenbart kräftig zu
mit Bratpfanne und Bohrmaschine. Dem Patienten Oper werden auf dem
Operations-Tisch die Augen ausgekratzt, die Beine gebrochen. Sein
Gerippe klappert gruslig. Dennoch ist er ganz kregel und munter.
Als Heinz-Klaus Metzger und Reiner Riehn für die Eröffnungs-Opern-Saison der Frankfurter
Nach-Gielen-Ära 1985/86 bei John Cage ein Werk zur Uraufführung
erbaten, hatten sie wohl den listig-lustigen Hintergedanken, der Meister
der clownesken Zufallsoperationen würde es dem Todgeweihten schon
besorgen. Doch der vergrub sich in die Bibliothek der Metropolitan
Opera, scannte sich alle nicht urheberrechtlich geschützten Titel und
vermengte die Perlen wie in einer Lostrommel. Das sich öffnende Füllhorn
nannte er "Eure Oper", die amerikanische Aussprache von EurOperas
doppelsinnig nutzend. Ein Wunschkonzert der besonderen Art entstand, ein
Fest für Sänger, bei dem sie ihre Verdis, Wagners, Puccinis, Sträusse,
Lortzings, Mozarts und Glucks mal so richtig losgelöst aus lästigem
dramaturgischen Sinnzusammenhang auf der Bühne losträllern und
schmettern durften. Die "objets trouvés" der Opern-Literatur, genannt
Arien, sollten ihren eigenen Sinnzusammenhang stiften.
Bei Nigel Lowery, der das Werk nun in Hannover neu auf die Bühne
kippte, beginnt das mit einem mittelalterlichen Trauerzug auf starker
Schrägung. Per Blitzeinschlag werden die trauernden Hinterbliebenen
eines schönen Burgfräuleins in die Gegenwart einer Bahnhofs-/Airport-Departure
Hall katapultiert, nicht ohne vorherige kassenärztliche Prüfung ("Dich
teure Abflughalle grüß ich wieder!"). Ganz konventionell auf der
Hauptbühne mit einem richtigen Orchester im Graben (Johannes Harneit)
und dem Publikum im Parkett beginnt das in Teil 1+2. Teil 3 des
fünfaktigen Opus spielt auf einer neuerdings bei Opern-Regisseuren sehr
beliebten Baustelle. Mit Zementsäcken, Gerüsten, Beton-Mischmaschinen
und Baumaterialien der Firma Himmler ist das Foyer verziert ("wo Himmler
liefert, geht's voran"). Die Sängerinnen und Sänger verrichten da ihr
Dienstwerk besonders fromm mit betenden Händen zwischen
Herz-Jesulein-Krippe und INRI-Kreuz auf der Seufzerbrücke inklusive
Dampf-Schocks aus der Kanone. Für Teil 4 ist die Perspektive umgekehrt.
Nun sitzt das Publikum auf der Bühne und lauscht den Darbietungen der
die leeren Ränge und Parkettreihen durchstöbernden Sängerinnen zu leise
dahinplätschernden Klängen vom Klavier. Von Melisande bis Isolde, dem
Liebestod, über "ein Männlein steht im Walde" reicht der künstlerische
Bogen. Am Ende: Kehraus vor dem Theater mit popigem Dröhnen vom zweiten
Balkon und Feuerwerk-Illumination.
Kräftig wird in Lowerys Trash-Opera der Putzfeudel wieder geschwungen,
das wichtigste Utensil der neuen Puhlmann-Ära. Auch in Homokis
Aida zur Eröffnung vor Monatsfrist
hatten Staubsauger und Wischmopp zentrale künstlerische Bedeutung. Es
ist viel zu fegen, packen wir's an. Auch der Kinderchor lässt froh die
Zauberflöten-Morgenröte prangen. Die Softeis-Verkäuferinnen
kreisen mit ihren Angeboten durch die Reihen, regen Zuspruch findend.
Pass- und Zollkontrolle mit finalem Todesschuss ist ein weiteres
optisches Angebot dieser Inszenierung. Was dann doch nicht richtig
stimmt, ist das Timing. So viel Sahnetorte mit Bismarckhering – das
bringt auch den stärksten Magen in Wallung. Cage war ja nicht nur ein
Meister der zirzensischen Künste sondern auch einer der Verknappung.
Lowery lässt da lieber seine Gag-Maschine heiß laufen. Und manches von
seinen Späßen ist doch arg "low" und "lower". Da hat dem Meister des
dekonstruierenden Spaaasss-Theaters wohl der Widerstand gefehlt. Und
wenn dann gar die Sprengmaschine in Stellung gebracht wird, lugt auch
Mr.Bean-Laden mit um die Ecke. Immerhin diese Cage-Europeras 1-5
sind auch ein kuscheliger Wander-Abend durch Hannovers Opern-Eingeweide.
Und das nur gerade mal für eine Parkett-Füllung zugelassene Publikum,
mit erfreulich viel auch Jugend durchmischt, genießt es nach all dem
Bierernst der vergangenen Jahre wohl sichtlich. Wie auch die beteiligten
Sängerinnen und Sänger. Einmal werden sie am Garderobenhaken hängend
"entsorgt". Seinen Verstand muss man bei diesem ungläubigen Heiden-Spaß
– gottlob zum zweiten – nicht mit abgeben.
Ihren Putzlappen klatscht die
Arbeits-Sklavin Aida der Liebes-Rivalin Amneris auch schon mal wütend in die Fresse.
Aber entschuldigend trocknet sie der Prinzessin dann doch wieder das
Gesicht. Amneris wedelt da zwar noch nicht
provokant mit dem Brautkleid. Aber Besitz ergreifend ist sie schon. Dem
soeben zum Befehlshaber der Expeditions-Armee ernannten
Turnschuh-Feldherren Radamès, der sich in
der Zeitung etwas gelangweilt über den neuesten Stand der Dinge
informiert hat, drückt sie einen triumphierenden Schmatz auf die Lippen.
Und Radamès weiß gar nicht wie ihm
geschieht. Aida, seine heimliche Geliebte, schaut düpiert aus der
Wäsche.
Die Bühne
Hartmut Meyers zeigt einen drehbaren gelblichen Kubus
in einem schwarzen Rahmen. Der Kubus dient als Herrschaftssitz, in dem
die Höflinge im schwarzen Anzug, schwarzen Hemden, mit lila Krawatten
dicht sich drängen. Und er ist am Ende die dann in gleißendes Licht nach
hinten sich öffnende "Grabkammer" für die Liebenden. Aber er ist auch
Container für die von Radamès als
Kriegsbeute mitgebrachten Äthiopier, deren Einbürgerung er dann erwirken
kann, nachdem Aida unter den Gefangenen den Vater entdeckt hat. Statt
ihrer erdfarbenen Lappen werden die als Asylbewerber nun Anerkannten in
ägyptisch schwarzes Tuch gekleidet (Kostüme: Mechthild Seipel).
Keine Postkartengrüße
vom Nil, kein Operettenkrieg "Unterlauf gegen Oberlauf", Ägypter kontra
Äthiopier, ist da zu sehen. Radikal ins Heute zieht Andreas Homoki
Verdis als Lieblings-Ausstattungsoper gern missbrauchte Aida.
Interpretations-Ansätze von Neuenfels bis Konwitschny nutzt er und
entwickelt sie weiter. Eine erbitterte BuhAttacke schon zur Pause
antwortete dieser Produktion zum Auftakt der neuen Intendanz des
früheren Basler Operndirektors und Dramaturgen Albrecht Puhlmann
in Hannover. Am Ende weitet sich die Attacke gegen das
Inszenierungs-Team zum Buh-Orkan, in dem die vereinzelten
Bravos fast untergehen. Dabei liefert Homoki
keineswegs eine überspitzte Sicht dieser Dreiecks-Geschichte: ein Mann
zwischen zwei Frauen.
Allerdings herrschte an der Leine mit Hans-Peter Lehmann über zwanzig Jahre
ein Theaterprinzipal, der alle Erneuerungsströme des
Musiktheaters der letzten Jahre um sein Haus herumlenkte [PS: ...und
ausgerechnet als "Vollender" der neuen Münchner Festspiel-Walküre
2002 nach dem Tod Herbert Wernickes im Frühjahr 2002 wieder auferstand]. Das vorwiegend
ältere Publikum erlebt nun, was es hier sieht, offenbar als
Zeitensprung. Um ein jüngeres Publikum muss Intendant Puhlmann mithin
vor allem sich kümmern. So hat er das "geerbte" Repertoire erst mal in
Pension geschickt bis auf wenige Zugstücke wie Zauberflöte,
Bohème, Verkaufte Braut, Elektra. Und mit dem Engagement eines
solch eminenten Theater-Praktikers und -Erneuerers wie Homoki wollte
Puhlmann auch die Schwachstellen des Hauses ausleuchten - ähnlich
Zimmermann in Berlin mit
Konwitschny. Es fand sich wohl viel von dem, was Gustav Mahler
Schlamperei zu nennen pflegte. Und Putze Aida wird denn auch mit
Staubsauger auf die Bühne geschickt…
Auch beim Hannoverschen Staatsorchester im Graben musste man anfangs
doch ob vieler verwackelter Töne in den hohen Geigen bangen um die
musikalische Qualität der Aufführung, aber unter seinem neuen Leiter
Shao-Chia Lü
gewinnt das Orchester zunehmend an Sicherheit und Glanz. Von den Sängern
kann vor allem Francesca Scaini in der
Titelpartie der Aida begeistern mit ihrem so schlanken wie kraftvollen
Sopran, auch wenn man gegen Ende doch eine leichte Einbuße an
Flexibilität spürt. Eine glutvolle Amneris ist Janina Baechle, Luigi
Frattola (leider etwas wacklig) der
zwischen Ehrgeiz und Liebe zerrissene Radamès.
Seinen Feldherren-Job gewinnt er wie einen Oscar, als Zwangs-Bräutigam
der Amneris im weißen Anzug mit Rüschenhemd
wirkt er eher Mitleid erregend.
Krieg
- wie er plötzlich nahe rücken kann, wir erleben es in diesen Tagen.
Homoki zeigt auch die subtilen Formen von Demütigung und Unterdrückung,
die dem vorangehen, zumal im Verhältnis der beiden Frauen: Aida als
Putze, die immer die Reste vom Fest wegschaffen muss und nur heimlich
hoffen darf. Und Homoki zeigt den Zynismus einer Spaßgesellschaft, die
am Leid der "Anderen", der Fremden, deren Kultur sie nicht versteht und
verstehen will, mit Schampus-Orgien sich labt. So aktuell kann Oper
sein.