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Avantgarde - bissel von gestern

Das Infektionen-Festival mit Sciarrino und Hermann

10.Juli (Sciarrino)
23.Juni, besuchte Vorstellung 06.Juli (Hermann)

Den einzigen Knalleffekt – im wörtlichen Sinn – liefert das Bühnenbild von Annette Murschetz. Die Rückwand, die mit fortschreitender Intimität der Liebenden einen immer stärkeren Riss bekommt, fällt, als der gehörnte Graf, nachdem er den buhlerischen Diener erdolcht und auch den sogenannten Gast seiner Ehefrau am Rücken verletzt hat – die Rückwand fällt. Und man sieht hinten ebenjenen Gast mit einer Pistole fuchtelnd auf den Grafen zielen. Vergeblich. Der gibt gerade seiner ehebrechenden Gattin den Rest – und stapft frustriert von dannen. Ende nach 70 langen Minuten.

„Luci miei traditrici“ nennt Salvatore Sciarrino sein Werk in zwei Akten, die die Staatsoper im Rahmen ihrer „Infektionen“-Reihe zum Spielzeitende als bescheidenen Beitrag zum zeitgenössischen Musiktheater herausgebracht hat. Die Produktion hatte zuvor schon in Bologna Premiere. Jürgen Flimm, Intendant und Regisseur dieser Produktion, hat das 1998 in Schwetzingen uraufgeführte Stück auch schon vorher mal gemacht. Ein spannender Abend ist es nicht. Musikalisch ist die Art raunender Sprechgesang Sciarrinos, den die handelnden Figuren praktizieren, mittlerweile geläufig und etwas eintönig. Szenisch wirkt das langatmig und ohne differenzierte Figurenzeichnung.

Der Graf (großartig Otto Katzamaier) muss erst ein bisschen gute Miene zum bösen Spiel machen, dann wie eine Katze fauchen und schließlich als Todesbote mit schwarzen Flügeln den Dolch schwingen. Die Gräfin (Katharina Kammerloher) darf vor allem ihr prächtige roséfarbene Robe auf dem Sofa und – mit ihrem Liebhaber – auch auf dem Boden ausbreiten (Kostüme: Birgit Wentsch). Der Liebhaber (in schicker Hosenrolle: Lena Haselmann) gibt sich vor allem fesch mit Reitstiefeln und Peitsche à la Nitzsche. Der Diener schließlich balanciert als clowniger Arlecchino Kaffee-Tabletts durch den Raum und beobachtet mit wachsendem Zorn das Liebesdoppelspiel seiner Herrin.

Ganz schön der einstimmige Gesang von Kinderstimmen, mit dem das Stück eröffnet wird, auch die eingeschobene Renaissance-Musik mit zunehmender Verfremdung (Musikalische Leitung: David Robert Coleman). Wozu man gebeten ist? Ein Fall von einem höchst kreativen aber auch mörderischen Künstler, nämlich Graf Carlo Gesualdo da Venosa. Nun ja.

*

Dem Abend auf der großen Bühne ging einer in der Werkstatt voraus. „Die Luft hier: scharfgeschliffen“ nennt er sich. Ein Kammermusikstück von Matthias Hermann, das den unglücklichen Einfall verfolgte, die vom sozialen Engagement in den Terrorismus getriebene Ulrike Meinhof und den von Stalin verfolgten russischen Dichter Ossip Mandelstam als vergleichbare politische Gefangene in ein Stück zu sperren. Es passt aber leider gar nicht, und der eine Fall erhellt nicht den anderen.

Eher betulich ist das von dem jungen Hans-Werner Kroesinger, der jüngst mit dokumentarischem Theater in Karlsruhe ins Medienlicht rückte, inszeniert. Die „Gefangene“ (Olivia Stahn) wird dabei von drei um sie kreisenden Frauen vervielfacht. Alle tragen sie weiße Papierkleider und mädchenhafte Frisuren. Der „Dichter“ (Thomas Wittmann) bekommt als clowneske Beigabe einen „Dschinn“ (Martin Gerke). Untermalt wird die Szene vor allem von drei Schlagzeuggruppen, Klarinette, Violoncello und Trompete.

1993/94 ist das Stück an der Staatlichen Hochschule für Musik in Stuttgart entstanden und 1994 am Stuttgarter Kammertheater uraufgeführt. So eins zu eins dies heute auf der Bühne zu zeigen, wirkt nur aus der Zeit gefallen, Avantgarde von gestern. Man sollte es ruhen lassen.


Psychodrama für Gesangsstars

Bohuslav Martinůs surrealistische Oper „Juliette“ mit Villazón und Kožena

Premiere: 28.Mai 2016, besucht die zweite Vorstellung
am 02.06.16

Sich erinnern, die eigene Identität suchen. Das ist das Thema. Entstanden ist Bohuslav Martinůs Oper „Juliette“ 1937, basierend auf einem Schauspiel von Georges Neveux „Juliette ou la Clé des songes“ von 1929. Es ist ein Werk des Surrealismus.

An der Berliner Staatsoper hat man nach der Wiedererweckung der Oper vor kurzem in Zürich Claus Guth mit der Inszenierung betraut. Guth, mittlerweile Dauergast an beiden Musikbühnen der Weststadt, hat wie von ihm kaum anders zu erwarten eine Art Psychodrama daraus gemacht. Immerhin steht ihm mit Rolando Villazón als Michel, der sich in die Stadt des Vergessens verirrt, ein ausgefuchster Komödiant zur Verfügung, der manchmal geradezu chaplinesk auf der Kastenbühne Alfred Peters mit ihren vielen Luken und Kammern sich bewegt. Leider hat seine Stimme nach der Krankheit doch einiges an Schmelz eingebüßt.

Magdalena Kožena als die von ihm gesuchte Juliette brilliert zwar stimmlich, die Leichtigkeit der Bewegung, wie sie Villazón zur Verfügung steht, geht ihr ab. Sie ist doch eher eine Konzertsängerin. Daran konnte wohl auch der hinzugezogene Choreograph Ramses Sigl nichts ändern. Im Graben lässt Daniel Barenboim mit der Staatskapelle die auch zeitgenössiche Popularmusik streifende Partitur voll auskosten. Fantasievoll die Kostüme von Eva Dessecker. Aber insgesamt bedauert man doch, dass man auf zwei Gesangsstars setzte und die Inszenierung nicht einem wirklichen Spezialisten des Surrealismus anvertraut hat. Der wohnt in Berlin nur ein paar Straßen weiter: Hans Neuenfels.


Liebe und Schicksal

René Jacobs mit Agostino Steffanis „Amor vien dal destino“

23.04.2016

Alles ganz wunderbar musiziert. Von der Akademie für Alte Musik unter René Jacobs, von den Sängern. Voran die wunderbaren Hauptdarsteller mit den herrlich sauberen Koloraturen. Insbesondere die Sängerin in der Hosenrolle des Turno, Olivia Vermeulen, aber auch die Sängerin der umworbenen Frau Lavinia, Katarina Bradić, mit dem wunderbar runden Alt und dem tiefen Register können begeistern.

Aber was ist das für ein Stück? Der Komponist Agostino Steffani, von Haus aus Priester, Diplomat, Geheimagent, Spion – und auch Sänger, Instrumentalist, Komponist – hat seine Opern vor allem für Repräsentationszwecke geschrieben. Diese nach Motiven aus der „Aeneis“ über schicksalhafte Liebe („Amor vien dal destino“) bietet vor allem ein glänzendes Tableau für glänzende Stimmen. Am Hof in Hannover, dessen Regent Ernst August im Reich prunken wollte, hat er sie vermutlich begonnen. In Düsseldorf, am Hof Jan Wellems, dann fertig gestellt und 1709 uraufgeführt.

Aber ein Theaterstück ist das nicht – und vielleicht deshalb in den Archiven verschwunden. Mehr ein Konzert mit vielen schönen und rasanten Arien ist das – insbesondere für den von Lavinia verschmähten aber auf Wunsch des Vaters Latino angedachten Bräutigam Turno. Er hat das kleine Fürstentum Latinos mit seinen Truppen beschützt. Deshalb wollte Lavinias Vater, dass die Tochter ihn zum Dank heiratet. Die junge Dame bietet ihm aber allenfalls ihren Körper, nicht ihr Herz. Dies gehört einem geheimnisvollen Neuankömmling aus Troja, Enea. Wie Lohengrin der Elsa ist er ihr zunächst im Traum erschienen.

Und das ist auch fast schon die ganze Geschichte. Aber wie daraus einen Theaterabend machen? Immerhin gibt es ein paar barock-zeitgenössisch derbe Einlagen mit Dienern. Die werden auch ziemlich outriert ausgekostet. Ansonsten viel Steh-, Geh- und Renn-Theater. Aber wirklich etwas eingefallen zu dem Plot ist dem Regisseur Ingo Kerkhof nicht. Da bedürfte es wohl eines wirklichen Könners. Die aber kennt man im Hause Flimm nicht oder will sie nicht kennen.

So zieht sich der Abend, und man blickt schon nach einer halben Stunde auf die Uhr – und es dauert noch über drei weitere Stunden. Den Götterstreit im Prolog – ob Enea nun mit seiner Flotte irgendwo landen darf oder nicht – zeigt Kerkhof als Sich-Beugen über ein Mittelmeer-Modell, über dem die diversen Götter nach Aufsetzen von wolkigen Perücken die Backen aufpusten oder mit den Fächern wedeln, um das Papierschifflein in die eine oder andere Richtung zu treiben. Das karge Bühnenbild (Dirk Becker) wird von einem clownigen Liebes-Gärtner nach und nach mit Weizenähren bepflanzt, während die Hauptfiguren ihren Streit um Heirat handfest oder sängerisch austragen.

Für die bravourösesten Koloratur-Arien gibt’s Szenenbeifall. Ansonsten sind die Reaktionen doch eher verhalten. Natürlich hat Jacobs da wieder eine treffliche musikalische Ausgrabung getätigt: Mit Hilfe eines englischen Wissenschaftlers und Agostini-Spezialisten. Sehr akademisch. Aber es ist eben kein Theaterabend. Und erstaunlich ist, dass Jacobs in seiner nunmehr über zwanzigjährigen Laufbahn als Dirigent barocker Opern noch immer so wenig Gespür fürs Theater und vor allem Regisseure entwickelt hat.

Kostümiertes Konzert, hier schön barock in ausgebleichtem Weiß (Kostüme: Stephan von Wedel), ist lange passé. Dafür gibt’s CDs, auf denen man sicher bald das Werk auch zu kaufen bekommen kann. Eine DVD aber braucht’s bestimmt nicht. Die war schon bei Jacobs‘ letzter großen Staatsopern-Produktion ziemlich überflüssig. Und die Musikgeschichte umschreiben wird man auch nicht. Ein Händel ist der umtriebige Padre nicht.


Asche im Geigenkasten

Daniel Barenboim und Jürgen Flimm mit Glucks „Orfeo ed Euridice“ bei den Oster-Festtagen

18. März 2016

Mit Spektakulärem konnte die Berliner Staatsoper in der Saison bislang kaum punkten. Die Premiere zu den alljährlichen Oster-Festtagen sollte es nun richten. Daniel Barenboim, der Musikalische Leiter, wagte sich auf neues Terrain. Erstmals griff er zu einem Musiktheater-Werk der Vorklassik, Christoph Willibald Glucks Reformoper „Orfeo ed Euridice“ in der Wiener Urfassung von 1762. Dass Barenboim sich auch an dem, was man heute historisch-informierte Aufführungs-Praxis nennt, versuchen würde, war nicht zu erwarten. Barenboim hält es mit Mendelssohn, der eine Bachsche Matthäuspassion im Klangbild seiner Zeit, seiner Moderne aufführte. Immerhin wurde die Staatskapelle auf Kammerbesetzung zurück- und der Orchestergraben hochgefahren. Man hörte frische Tempi, die verinnerlichten Partien dieser Oper vielleicht eine Spur zu gefühlig.

Als kleines Festtage-Bonbon hatte er fürs Bühnenbild bei seinem jüdischen Freund Frank O. Gehry angefragt. Von ihm stammt auch der Entwurf für den Konzertsaal der Barenboim-Said-Akademie im Magazin-Gebäude Unter den Linden. Jürgen Flimm, Intendant und Regisseur der Aufführung, durfte in den Büros des kalifornischen Stararchitekten nach einem geeigneten Bühnenmodell forschen. Fündig wurde er in einer quietschbunten Skulptur mit den typisch abgewinkelten Ecken und Kanten, wie sie das Markenzeichen Gehrys sind. Diese Skulptur ist denn auch das optische Prunkstück dieser Produktion. Sie ist begehbar und für Flimm das Elysium. Dort lässt er die Seelen der Toten klettern und sitzen. Staffiert sind sie in schwarzen Anzügen, mit dunklen Sonnenbrillen und einer Art Gesang- oder Gebetbücher in den Händen (Kostüme: Florence von Gerkan).

Den ersten Akt situiert Flimm in einer Leichenhalle mit flügelartigen Wänden aus Eis-Blöcken. Zur eigentlich festlichen Ouvertüre darf Orfeo seine tote Euridice auf einer Lafette über die Bühne rollen, sichtbar durch einen Sehschlitz im orange-farbenen Plastikvorhang. Der trägt den bedeutungsvollen Schriftzug «das hoffnungslos offene Tor». Hinten lodert eine stattliche Kremier-Flamme. Während die Trauergäste kondolieren – alle in schwarz und mit einer weißen Blume, die Frauen meist mit Gesichtsschleier –, herzt und beschnüffelt Orfeo das ausgezogene Brautkleid der Toten und ihre Schuhe, um einen letzten Hauch von ihr zu atmen. Schließlich streut er ihre in einem Geigenkasten gesammelte Asche in die Grube. Bejun Mehta ist der Orfeo dieser Produktion. Anfangs hat er noch merkliche Schwierigkeiten, sein Counter-Organ zu justieren. Im Laufe des Abends gelingt ihm das dann immer perfekter.

Darstellerisch gefordert ist er allerdings kaum. Wenn er hinabwandert ins Reich der Furien, schnallen ihn junge Männer in knalligen Strick-Masken auf eine Art Prokrustes-Bett und versetzen im Magenschläge. Blutüberströmt wird ihm dann auch noch ein Lorbeerkränzchen alias Dornenkrone aufs Haupt gesetzt. Die Furien, zum Teil bewaffnet mit SEK-Schilden und schwarzen Ku-Klux-Klan-Hauben, versperren ihm den Flucht-Weg. Dass an den Hauben aber auch noch breite Bänder über die Augen baumeln, erschwert offenbar den Blickkontakt mit dem Dirigenten. Es klappert zwischen Chor und Orchester. Im Elysium darf Orfeo dann eine Gruppe tanzender Brautpaare bewundern – nach allerdings einer gewöhnungs-bedürftigen Choreografie (Gail Skrela). Euridice erscheint zunächst als blasser Video-Schemen auf einer der Flächen der Skulptur.

Als Rückkehr-Schleuse für die Geliebte ins Diesseits dient ein trichterförmiges Schlafzimmer wie ein Riesen-Megaphon. Arrangiert wird der Transfer von Klein-Gott Amor (Nadine Sierra), der seinerseits angeleitet und kontrolliert wird von Groß-Gott Jupiter, der aber nur grau und stumm mitläuft. Warum? Orfeo versteht die Botschaft offenbar auch nicht. Er dreht sich doch nach Euridice um. Freilich wird diese Euridice von Anna Prohaska so quicklebendig gesungen und gespielt, dass er ihrem drängenden Fragen einfach nachgeben musste. Also muss sie wieder entschwinden, bleibt ein Schemen. Der Lieto-fine-Chor wird zwar gesungen, als wäre es eine wirkliche Hochzeit; alle Chor-Frauen sind nun Bräute und tanzen mit den Männern auf einer Massenhochzeit. Orfeo aber bleibt allein. Am Ende kommt er wieder mit seinem Geigenkasten und streut Asche. Eine der Trauermusiken hat man hierfür als Schluss angefügt.

Neunzig Minuten ohne Pause währt diese Fassung. Ästhetisch wirkt sie ein bisschen gestückelt, geschmäcklerisch und ohne rechte innere Dynamik. Sicher hat das auch damit zu tun, dass – wie es im Programmheft heißt – das Bühnenbild nur «in Kooperation mit Gehry Partners, LLP» entstanden ist und etwa die Elysium-Skulptur in das sonstige Inszenierungs-Umfeld kaum passt. Das Festtage-Publikum schien gleichwohl damit zufrieden, wenn auch nicht gerade enthusiasmiert. Nächstes Jahr verzichtet Barenboim sogar darauf, selber bei den Festtagen, die heuer ihr 20-jähriges Jubiläum feierten, die Premiere zu dirigieren. Den Job überlässt er mit Richard Strauss’ «Frau ohne Schatten» seinem Freund Zubin Mehta.


Deutsch und irgendwie Öko

Richard Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ mit Daniel Barenboim und Andrea Moses

03./04. Okt. 2015

Dafür zweimal ins Theater? So dünn haben wir Richard Wagners „Komödie“ lange nicht gesehen. Jedenfalls in den ersten beiden Akten. Andrea Moses zeichnet für diese „Meistersinger“ szenisch verantwortlich. Ihre Karriere von Dresden über Dessau nach Stuttgart zu Jossi Wieler (und dann von dort wieder bald verabschiedet) erscheint prominent. Wirklich herausragende Inszenierungen hat sie bisher nicht hervorgebracht, aber viel Wind wurde gemacht um sie.

Es geht irgendwie um die deutsche Einheit. Viel schwarz-rot-goldenes Fahnenlametta ist zu sehen. Den getäfelten Raum des ersten Akts (Bühne: Jan Pappelbaum) ziert eine Fahne im Eck. Und der Gemeindechoral zu Beginn unter dem Dirigat eines wohl lutherischen Pfarrers klingt wie ein Einheitschoral. Die bedeutendste Aktion dieses ersten Akts dieser Staatsopern-„Meistersinger“ ist freilich die, dass Walter von Stolzing beim Abgang aus der Meistersinger-Katharinen-Kirche die Merkertafel von Sixtus Beckmesser mit einem Fußtritt zum Umstürzen bringt. Ansonsten werden die anfangs die Bühne füllenden Bänke herum-, herausgetragen, umgestellt. Stattdessen werden für die Meister altväterliche Schnitzwerk-Stühle hereingebracht und eine Tafel mit den Firmenlogos der „Meister“ aufgestellt. Immer wenn’s um die deutsche Kunst geht, wird die im Eck wehende Fahne breit hervorgezerrt. Als Stuhl für den Prüfling wird einer hereingetragen, der in Plastik verpackt ist. Offenbar wurde er schon lange nicht mehr gebraucht. Aha, alte Meister! Beginn der Vorstellung 20:30 h.

Der zweite Akt, Beginn 22:40 h, weil man angeblich zum Gutenachtruf des Nachtwächters möglichst punktgenau um Mitternacht zu Ende sein will, aber dann natürlich schon 20 Minuten vorher fertig ist (Gottseidank) – also der zweite Akt zeigt als besonderes Merkmal einen Schuster Sachs, wie er seine Hanfpflanzen bewässert. Wahn! Wahnsinn! Ein paar Underground-Jugendliche mit Irokesenfrisur bedienen sich daran. Beckmesser schlüpft für sein Probepreislied in eine mittelalterliche Pagenuniform. Die Prügelfuge ist ein dichtes Gewimmel auf der von Neonreklame erleuchteten Bühne mit Fußballfans von Hertha BSC und Union Berlin. Ein kräftiges Buh aus dem Publikum beschließt das Ganze.

Der dritte Akt – am nächsten Tag 12 h (und um 17 h geht’s schräg gegenüber in der Deutschen Oper schon weiter mit einem anderen Fünf-Stunden-„Klopper“, Meyerbeers „Vasco da Gama“, und nachdem man am Vorabend auch noch Barrie Koskys neue Transenshow „Hoffmann“ in der Komischen Oper bewundern durfte – tolle Planung der offenbar nur auf dem Papier existierenden Berliner Opernstiftung!) –, der dritte Akt also bringt dann doch etwas mehr „Butter an die Fische“. Es läuft wohl auf eine Wieder-Behauptung der „Meistersinger“ als deutsche Nationaloper hinaus, wie von den Leitenden zuvor in Interviews angedeutet.

Sachsens Schusterstube gleicht eher einer Firmenzentrale mit elfstöckiger Bücherwand, an der später der auf einen brauchbaren Liedtext gierige Beckmesser wie ein Wiesel hochklettert. Eva, die hin- und hergerissen ist zwischen dem reifen Meister (der beim Stichwort Flieder lieber zum Joint greift, also West) und ihrer neuen Liebe-auf-den-ersten Blick Stolzing (aus einem benachbarten Territorium und mit Widerwillen zur Etikette, also Ost), wirft sich zunächst dem Sachs an den Hals, was Stolzing verwundert zur Kenntnis nimmt, aber dann sich ganz in Stolzing verkriecht.

Zum berühmten Innehalten-Quintett ergreifen die beiden jungen Paare (auch David bekommt ja seine Lene) die Zipfel der großen Deutschland-Fahne, während Sachs dahinter wacht. Der Aufzug der Zünfte auf der Festwiese vor der Attrappe des neu errichteten Berliner Stadtschlosses wird mit einem Bund schwarz-rot-goldener Luftballons im Saal eingeläutet. Die Meister-Honoratioren treten ebenfalls durchs Parkett auf die Bühne. Am Ende auch zwei Araberscheichs – der Islam gehört ja nun zu Deutschland (Kostüme: Adriana Braga Peretzki).

Beckmesser knallt mehrmals, vor Unsicherheit über sein Lied zitternd, seinen Kopf an die Wand, bevor er aufs Podium tritt, und auch dabei macht er noch viel Unsicherheits-Faxen. Stolzing lässt sich von Sachs als wahrer Autor aus dem Gewimmel hervorrufen, und ganz mit Blick auf Eva beginnt er schließlich. Bei der zweiten Strophe nähert sich schon das Publikum der Bühne, bei der dritten auch die Meister. Die Meister-Vereinigungskette aber will Stolzing nicht. Zu Sachs‘ eindringlicher Mahnung, die deutschen Meister nicht zu verachten, fällt dann die als Hintergrund imaginierte Berliner Stadtschloss-Kulisse. Der Blick schweift frei in eine Windows-grüne blühende Einheits-Wiesenlandschaft mit blauem Himmel, in den die Luftballons aufsteigen. Also die Einheit und die Ökologie bewahren, soll das heißen. Naja, etwas umständlich und nicht so furchtbar originell erzählt.

Musikalisch klingt da allerdings vieles auf allerhöchstem Niveau: die wunderbar leichten Julia Kleiter als Eva und Klaus Florian Vogt als Stolzing (trotz kleiner Hänger), die höchst differenziert artikulierenden Wolfgang Koch als Sachs und Kwangchul Youn als Pogner. Dazu in der Meisterrunde Altkämpen wie Siegfried Jerusalem, Reiner Goldberg, Franz Mazura oder Olaf Bär und der offenbar von der Regie zu allzu karikaturenhafter Mimik angehaltene jugendliche Beckmesser von Markus Werba. Daniel Barenboim gelingt der Wagnersche „Konversationston“ mit der Staatskapelle vorzüglich. Der duftige Klang der Johannisnacht im Vorspiel zum dritten Akt, ein wirkliches Gedicht.

Am Ende gab’s dafür doch einige Buhs – für Barenboim, nicht fürs Regieteam. Den stärksten Sängerapplaus konnte Wolfgang Koch einheimsen, zu Recht. Problematisch bleibt der Theaterbegriff, der dieser Zweiteilung der Premiere zugrunde liegt. Theater ist nicht Wirklichkeit. Es hat seine eigene Zeit. Man muss nicht einen Akt, der um Mitternacht endet, um Mitternacht enden lassen, und einen Akt, der am Ende blühende Landschaften propagiert bei Tage enden lassen. Der falsche Theaterbegriff schlägt sich auch nieder in einer Personenregie, die nur selten klare Vorgänge erarbeitet und allzu oft die handelnden Figuren privat auf der Bühne erscheinen lässt. Und dann gab’s da auch immer wieder Szenen mit Zeigefinger-Charakter. Alles nicht besonders professionell.

PS: Die Repertoire-Vorstellungen gehen in einem Rutsch durch...


Matthias Schulz wird ab 2018/2019 neuer Intendant der Staatsoper Unter den Linden
17.Juni 2015

Matthias SchulzMatthias Schulz, derzeit Leiter des Salzburger Mozarteums, wird ab der Spielzeit 2018/2019 neuer Intendant der Staatsoper Unter den Linden und somit Nachfolger von Jürgen Flimm. Dies gaben der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, und Generalmusikdirektor Daniel Barenboim heute auf einer Pressekonferenz der Senatskanzlei für Kulturelle Angelegenheiten in der Staatsoper im Schiller Theater bekannt. Matthias Schulz wird bereits ab 1. März 2016 seine Arbeit an der Berliner Staatsoper beginnen. Ab 1. September 2017 wird er Ko-Intendant von Jürgen Flimm und im ersten Quartal 2018 die Intendanz übernehmen.

Matthias Schulz, geboren 1977 in Bayern, studierte Klavier in Salzburg und Volkswirtschaft in München. Nach Stationen als Projektleiter für »Mozart 22« und als Konzert- und Medienreferent sowie Leiter der Konzertplanung für die Salzburger Festspiele ist er seit 2012 künstlerischer und kaufmännischer Geschäftsführer des Salzburger Mozarteums.


Kunst machen anders

Stockhausens „Originale“ und Strauss‘ „Ariadne auf Naxos“

13./14.Juni 2015

Ariadne möchte ihren Liebeskummer über den entschwundenen Theseus im Tod ersticken. Hier darf sie es. Es gibt für sie keine Rettung, nirgends. So konsequent wie bei Hans Neuenfels hat man die Strauss-Hofmannsthalsche Reform-Oper „Ariadne auf Naxos“ selten inszeniert gesehen. Neuenfels situiert die Oper in ihrer Entstehungszeit 1916 (Bühne: Katrin Lea Tag). Der Haushofmeister (Elisabeth Trissenaar) schnarrt da im Vorspiel wie ein sich in sein späteres Führertum einübender Gefreiter Adolf H. alias Schicklgruber. Der Komponist verliebt sich sowohl in die flirrige Zerbinetta wie auch in die todtraurige Ariadne. Nicht nur im Vorspiel, der Vorbereitung der Oper, die der Komponist für den pünktlichen Beginn des Feuerwerks schnell noch umarbeiten soll, auch in der Oper taucht er immer wieder in der Szene auf. Und Ariadne ist hier tatsächlich geistig verwirrt über das Entschwinden ihres Theseus. Teilnahmslos kauert sie meist auf einer Ottomane.

Camilla Nylund spielt und singt diese Ariadne mit somnambuler Leidenschaft. Weniger die grosse Primadonna gibt sie als die leidend verlassene Geliebte. Bacchus (Roberto Saccà), als eine Art Notarzt im Fahrstuhl herbeigeschwebt, kann ihr da auch nicht helfen. Zerbinetta (Brenda Rae mit behändem Koloratur-Sopran und schönen Spitzentönen) kontert mit ihrer Losung „die Liebe hat unzählige Gesichter“ gegenüber Ariadnes Festhalten an der „einzigen Liebe“ – und bleibt am Ende doch auf andere Weise stumm. Da haben auch Zerbinettas Komödianten-Truppe mal als Rübezahl, Matrose, Motorradfahrer oder Soldaten längst die Waffen gestreckt. Und auch die drei Najadan, hier als Krankenschwestern mit Muschel-Haarspange (Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer), haben Ariadne verlassen. Ein Puppenspieler mit Namen Tyche (Schicksal) erscheint immer mal wieder und weist Ariadne den Weg in den Freitod. Um die tote Ariadne trauert einzig der Komponist (Marina Prudenskaya mit etwas überzogener Gestik).

Ingo Metzmacher am Pult lässt die Staatskapelle einen eher trockenen Ton spielen. Strauss wollte mit seiner „Ariadne“ ja den Panzer der alten Oper abstreifen, auch wenn ihm das nie so ganz gelungen ist. Orientiert hat Metzmacher sich offenbar am Kammerton der berühmten Schönbergischen Privataufführungen mit dem Harmonium als zentralem Instrument. Am Ende wird Metzmacher in der Staatsoper gefeiert wie auch Neuenfels und das gesamte Team.

*

Die andere Produktion, die am Vorabend Premiere in der Werkstatt des Schillertheaters hatte, führt in die Zeit der frühen 1960er Jahre: „Originale“ von Karlheinz Stockhausen, ein Musiktheaterstück des Fluxus. Eröffnet wurde damit ein kleiner Programm-Schwerpunkt der Staatsoper jeweils zum Spielzeitende, mit dem unter dem Titel „Infektion!“ das Image zeitgenössischen Musiktheaters des Hauses ein bisschen aufgehübscht werden soll.

Die Partitur von „Originale“ ist eine Art zeitlicher Ablaufplan. Verbal ist notiert, welche(r) Mitwirkende wann agieren soll – wie und was ist weitgehend offen gelassen. 1961 ist das Stück entstanden. Die Avantgardisten wollten sich damit aus ihrer Falle seriellen Komponierens in den fünfziger Jahren befreien, als Tonhöhen, Dauern und Tonfarben durch Reihen determiniert wurden. Wieder erwachen sollte die Kreativität der Musiker. Und andererseits hatte John Cage mit seinen nur aus Punkten und Linien bestehenden aleatorischen Konzepten gezeigt, dass man ein ähnliches klangliches Ergebnis erzielen konnte auch ohne genaue Fixierung.

Was in Stockhausens Stück zu sehen und zu hören war – neben Ausschnitten aus seinen „Kontakten“ –, sind absurde Aktionen. Ein Kind sollte da einen Turm aus Bauklötzen bauen, der immer wieder umfällt; eine Modedame aus einem Koffer Kleider und Schmuck holen und anprobieren. Schauspieler sollten diverse Monologe vortragen, der Schlagzeuger Tiere im Aquarium oder Käfig füttern. Oder es sollten alle durcheinander sprechen, Obst essend. Die Malerin sollte etwas auf einer Staffelei entwerfen, der Kameramann Stummfilme projizieren, der Beleuchter leuchten usw.

Prominent besetzt war die Liste der Mitwirkenden bei der Uraufführung. Der Pianist David Tudor, der Schlagzeuger Christoph Caskel, der Videokünstler Nam June Paik, der Dichter Hans G. Helms, der Schauspieler Alfred Feussner oder die Künstlerin Mary Bauermeister fanden sich da. Aber auch die Garderobenfrau des Uraufführungstheaters und ein Zeitungsverkäufer standen mit auf der Rolle. Eine solche Mischung von Beteiligten und ihren Aktionen war damals ein provokantes Aufbegehren gegen die herrschende Enge des Kunstbegriffs. Heute in Zeiten professionalisierten Laientheaters ringt einem das vielleicht noch ein freundliches Lächeln ab.

Die Berliner Neuauflage ist ein hauptsächlich studentisches Projekt mit einigen Prominenten. Da trägt Irm Hermann eine Voliere herum, hängt sie unter dem Beleuchterhochsitz auf und redet was von Eis essen. Der Pianist gießt auch mal die Pflanzen. Der Schlagzeuger kleidet sich in Fechtermontur. Der Maler drapiert sich als Van Gogh. Gerhard Rühm liest was über Söhne von Söhnen von Söhnen von Töchtern. Straßenmusiker stimmen zur Ukulele einen fetzigen Country Song an. Der Clown dreht nach Einsatzzeichen des Dirigenten die Drehorgel oder einen Apfel durch den Fleischwolf. Ein Kind läuft mit Videokamera durch die Reihen. Eine Sängerin zerhackt einen Pappkarton, stößt Urlaute aus und erzählt, dass sie als Kind nicht in einem Knabenchor mitsingen durfte. Pech für sie.

Anfangs muss das Publikum um die Bühne in der Mitte stehen, später darf es sich dort setzen. 94 Minuten dauert laut Regiebuch der Spaß, den alle Darsteller mit heiligem Ernst exekutieren. Kunst machen anders – schön mal wieder davon gehört zu haben.


Maschinentheater

Telemanns „Emma und Eginhard oder die Last-tragende Liebe“ mit René Jacobs

26.April 2015

Das Werk ist eine Festoper zum fünfzigsten Geburtstag der Hamburger Gänsemarktoper 1728. Opulent geriet der Umfang, etwas unübersichtlich die Dramaturgie. Das Stück spielt in der Zeit Karls des Großen nach der Niederringung der Sachsen. Die wollte der Kaiser zum Christentum bekehren und zugleich sein Reich im Osten arrondieren. Zur Besiegelung des neuen Bundes soll seine Tochter Emma mit dem sächsischen Prinzen Heswin verheiratet werden. Aber Emma hat sich schon – unstandes- aber barockzeitgemäß – verliebt in des Kaisers Sekretär und engsten Mitarbeiter Eginhard. Es könnte tödlich enden für das Paar. Aber im letzten Augenblick lässt der Kaiser Gnade walten. Der Bürgerliche wird in den Adelsstand erhoben. Und Sachsenprinz Heswig muss sich trösten mit Emmas Schwester Hildegard.

Georg Philipp Telemann als Chef der Gänsemarktoper hat viel musikalisches Herzblut in „Emma und Eginhard“ investiert. Vor allem für die Arien und Duette der Liebespaare hat er zum Teil wunderschön-einfühlsame Musik geschrieben, was den Dirigenten René Jacobs an dem Werk gereizt haben dürfte. Daneben gibt es in dem Opus aber auch viel barocke „Meterware“. Etwa ein Drittel hat man schon gekürzt. Der Abend an der Berliner Staatsoper zieht sich dennoch auf weit über dreieinhalb Stunden. Es wäre an der Regie gewesen, dem entgegen zu arbeiten. Aber Eva-Maria Höckmayr und ihrer Bühnenbildnerin Nina von Essen fällt leider wenig mehr ein, als die in Segmente unterteilte barockisierende Bühne fast ständig rotieren oder einen Vorbühnen-Prospekt mal hoch, mal runter gehen zu lassen. Ins Innere der Figuren blickt man nicht.

Es beginnt mit einem rauchigen Schlachtenszenario im Hintergrund, das der Kaiser sinnierend betrachtet. Sein Narr Steffen, dem er gern auch mal seinen Hermelin und die Kaiserkrone überlässt, reißt ihn da heraus. Friede soll jetzt sein. Der Hofstaat in prächtigen Barock-Kostümen tritt auf, macht rhythmische Bewegungen zur Musik. Des Kaisers Kabinett tagt in bürgerlichem Schwarz. Hinten geht die riesig hohe Schiebetür auf und zu – und tut das an dem Abend immer wieder. Der Sachsenprinz Heswig, eine Hosenrolle, stürmt herein, noch im Harnisch. Die Kaisertochter Emma, auf die er ein Auge geworfen hat, sucht indes den Blick eines anderen. Sie ist schlichter gekleidet als ihre Schwester (Kostüme: Julia Rösler). Innerlich hat sie sich schon gelöst aus dem höfischen Gepränge.

Robin Johannsen als Emma ist in dem vielköpfigen Ensemble die beeindruckendste Stimme. Hell und leicht klingt ihr Sopran, mühelos perlen die Koloraturen. Und sie bewegt sich auch anmutig und sicher auf der Bühne. Nikolay Borchev als Eginhard dagegen wirkt steif-affektiert, klingt etwas gaumig. Auch hat er Mühe mit den Koloraturen. Als gleichsam Running Gag lässt Regisseurin Höckmayr den Kaiser und seinen Narren durch die Szene marschieren. Oder sie beobachten das Treiben von vorn. Die Drehbühne dreht und dreht sich – Maschinentheater simpel. Im Hauptraum steht mal ein Tisch, mal ein Bett. Dort räkelt sich gelegentlich auch Emmas Zofe Barbara, treibt ihre Spielchen mit ihrem Kammerdiener-Kollegen oder dem Narren. Die Buffa-Einlage.

Da der Kaiser seine Tochter nächtens beobachtet, wie sie im Schnee, um ihr Stelldichein mit Eginhard zu verschleiern, ihren Liebhaber auf dem eigenen Rücken aus dem Schloss trägt (daher wohl der ironisierende Untertitel „Die Last-tragende Liebe“), werden auch noch Kinder-Doubles und Gott Amor bemüht. Die Mutter als gestrenge Hüterin des Adelsprivilegs darf bei der Frage, ob die Todesstrafe an dem jungen Paar vollzogen werden muss oder nicht, eine Rachearie schmettern. Am Ende werden alle auf dem Ehebett vereint: Bürgertum und Adel, fürs Hamburger Publikum damals wichtig, arrangieren sich.

So glutvoll René Jacobs‘ Musizieren mit der Akademie für Alte Musik wieder gelingt, besonderes Glück mit seinen szenischen Realisatoren hat er wieder nicht. Da ist man inzwischen sogar in der Telemann-Stadt Magdeburg schon um einiges weiter. Das Berliner Publikum war’s dennoch zufrieden. Es wird an dem Hause ja nicht gerade verwöhnt.


Kannibalisch

Daniel Barenboim und Dmitri Tcherniakov mit Richard Wagners „Parsifal“

28.03.2015

Es ist ein sehr russischer „Parsifal“. Das Ambiente der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov (auch wieder sein eigener Bühnenbildner) erinnert etwas an Filme von Andrei Tarkowski. Dunkle Gestalten mit Wollmützen und meist langen Bärten schlurfen durch das Oktogon einer halb verfallenen romanischen Kirche. Auf einfachen Holzbänken vollziehen sie ihre Rituale. Die Knappen werden von Türhüter Gurnemanz per Dia-Schau eingeweiht in die Historie: was da war mit Titurel, Amfortas, Kundry, Klingsor, dem Gral und dem heiligen Speer. Der Nektar der Ritter, der Gral, wird dem armen Amfortas körperwarm abgezapft als Blutspende aus der Wunde, dann verdünnt mit (hoffentlich) heiligem Wasser und löffelweise an die Darbenden vertröpfelt. Parsifal, ein argloser Tramp im T-Shirt mit Wanderrucksack und Armbrust, kann sich da nur wundern – und versteht nichts.

Das ändert sich, als er in Klingsors Zauberreich hinab driftet. Die Bühne ist der gleiche Raum, aber nun ein sozusagen Weißes Haus. Klingsor, eine Mischung aus Mime und Mormonen-Bürohengst in ärmelloser Strickjacke, verwaltet da eine Kommune von Frauen und Kindern in weißen, buntgetupften Kleidern (Kostüme: Elena Zaytseva). Die ganz Kleinen pressen immer ihre Puppen an die Brust. Die Frauen und Mädchen tanzen, hopsen, spielen mit Reifen und Sprungseilen um Parsifal herum. Bis dann Kundry den Fremdling aufklärt über seinen Mutterkomplex und das handfeste Verbot der Mutter, frühkindliche Sexualität zu erproben. Die eine Stunde, die Kundry danach mit ihm haben will (bei Wagner ist es immer eine Stunde), verweigert er. Er packt das Spielzeug ein, das Kundry für ihn in ihrer Reisetasche seit seiner Kindheit mitgeschleppt hat, kassiert von Klingsor läppisch den Speer – und marschiert ab zu Amfortas und der heiligen Wunde.

Im dritten Akt trägt nun auch Gurnemanz einen langen Bart, ergötzt sich noch ein bisschen an dem schief hängenden Original-Siena-Dom-Parsifal-Urbayreuth-Bühnenbild-Foto. Der todessüchtige Amfortas kippt den verstorbenen Vater Titurel (immer im langen Ledermantel wie ein Sowjet-Kommissar) aus seinem Sarg, in den der sich bei den Gralsverkostungen immer wie ein Avatar legen musste. Statt in den Sarg zu dürfen, muss Amfortas sich balgen mit den „Brüdern“. Die brauchen als halbe Kannibalen sein Blut. Auftritt Parsifal. Gereift durch Kundrys Fusswaschung, wofür er sie ausgiebig herzt, erlöst er Amfortas mit dem Speer, indem er den Entsühnungsphallus demütig vor ihm ablegt. Und nun will der quicklebendige Amfortas sich mit Kundry vereinen, sie umarmen, küssen. Gurnemanz allerdings lässt das nicht zu, ersticht hinterrücks das Paar. Parsifal schleppt Kundry auf den Armen davon, eine personen-verkehrte pietà. Die Brüder rutschen auf ihren Knien, die Arme gen Himmel reckend. Allein.

Es ist der inzwischen vierte „Parsifal“, den Daniel Barenboim an der Berliner Staatsoper seit der Wende dirigiert. Den jetzigen hatte er sich vorgenommen als Hommage an seinen Freund und Kollegen Pierre Boulez, zu dessen 90.Geburtstag er die diesjährigen Oster-Festtage gestaltete. Wagners „Parsifal“ im Bayreuth der 1960-iger Jahre war Boulez‘ Eintritt in die Opernwelt. Krankheitshalber konnte Boulez allerdings nicht kommen. Besonders im dritten Akt erlebt man bei Barenboim musikalisch einen „Parsifal“, der in seiner Differenziertheit seinesgleichen suchen dürfte. Erst etwas unscharf, dann immer klarer sind die Strukturen modelliert, der Klang der Staatskapelle samtweich und leuchtend hell. Dank einer ansatzweisen Muschel am Orchestergraben ist das Orchester so weit gedämpft, dass man fast jedes Wort versteht von den Sängern.

Erneut ist René Pape als Gurnemanz deren Mittelpunkt. Sorgen musste man sich um Anja Kampe. Trotz einer heftigen Bronchitis und leichtem Fieber sang sie die Kundry. Und es glückte weitestgehend bravourös. Auch Wolfgang Koch überzeugte als Amfortas, sängerisch wie darstellerisch. Eine Entdeckung der Parsifal des jungen Österreichers Andreas Schager mit seinem frischen, flexiblen Tenor. Gestisch wirkt er noch etwas unbeholfen, ein Mangel der nie sehr ausgeprägten Personenregie Tcherniakovs. Der Regisseur bekam denn auch am Ende und schon in der zweiten Pause heftige Buhs. Es ist eine etwas skurrile, dennoch nicht uninteressante und unerwartet keusche „Parsifal“-Inszenierung.


Wunschkonzert mit lebenden Bildern

Webers „Freischütz“ – ohne Knochen

18. Jan. 2015

Mit einem „Freischütz“ startete die Staatsoper ins neue Jahr, einem der besonderen Art. Michael Thalheimer, der Spezialist fürs Ausdünnen von Texten, hat sich eine Light-Version der urdeutschen Oper Carl Maria von Webers ausgedacht. Vor allem über die gesprochenen Dialoge des in der Singspiel-Tradition daher kommenden Werks machte er sich her. Immerhin der eine oder andere Kernsatz blieb übrig. Und wenn man „seinen Freischütz“ kennt, kann man die Oper als quasi Wunschkonzert mit lebenden Bildern wie ein Relikt aus dem 19.Jahrhundert an sich vorüber gleiten lassen. Auf gut zwei Stunden war der pausenlose Abend eingedampft. Am Ende mischten sich in den Applaus viele Buhs.

Spannend hätte es sein können, wenn Thalheimer mindestens ebenso viel Energie aufs Inszenieren wie aufs Textkürzen verwandt hätte. Hier lässt er allerdings vor allem vorn an der Rampe stehen und knien. Bestimmte Figuren bekommen bestimmte Bewegungsprofile, zumal das Ännchen. Bei ihrem ersten Auftritt stakst sie herein, als ob sie einen Klumpfuß hätte. Aha, sie hält’s mit Kaspar und dem Teufel! Dann darf sie auch mal wie die Nachtgeister der Wolfsschlucht am Boden oder an der Wand hoch krabbeln oder gar ein Tänzchen mit dem in Wolfsgestalt und mit Ganzkörper-Tätowierung fast ständig gegenwärtigen, beim Wolfsschlucht-Thema der Ouvertüre aus dem Souffleurkasten auftauchenden Samiel wagen.

Das durch den pausenlosen Schnelldurchlauf erforderte Einheitsbühnenbild von Olaf Altmann, ein schlundartig, nach hinten sich verjüngender Schlauch, trägt auch kaum etwas zur inneren Spannung des Abends bei. Mit der bedrohlich Max sich nähernden, äste-bewaffneten und fantasievoll kostümierten Bauernschar gelingt indes ein beeindruckender Auftakt. Den Jägerchor stellt Thalheimer dann wieder als Bier-Maß-schwingende Meute vorn an die Rampe. Die verunsicherte Agathe, als flügellahmer Vogel umherirrend, hat Mühe, sich einen Weg durch die Menschenmauer hindurch zu bahnen.

Sebastian Weigle am Pult gelingt vor allem in der Ouvertüre ein das Dunkle der Musik betonendes, fast unhörbares Streicher-Pianissimo. Über manche Tempi könnte man streiten. Sängerisch kann vor allem Anna Prohaska mit ihrem leichten und doch ausdrucksvollen Sopran als quirliges Ännchen beeindrucken. Dorothea Röschmann als Agathe überzeugt mehr in den lyrischen als den dramatischen Tönen. Eher eng in der Tongebung Burkhard Fritz als Max und etwas röhrend der Kaspar von Falk Struckmann. Roman Trekel gibt den erst kalten, dann demütigen Fürsten Ottokar, Jan Martinik den baumartigen Eremiten.

Man hat schon eindrucksvollere gesehen als diesen knochenlosen Freischütz. Zumal in der Wolfsschlucht mit einem Samiel (Peter Moltzen), der immer dasselbe macht und die wenigen Worte, die er zu sprechen hat, kaum sprechen kann.


Uninspiriert

Alvis Hermanis inszeniert „Tosca“ mit Daniel Barenboim am Pult als Puccini-„Debütant“

03.Ok. 2014

„Tosca“ – das ist doch die Oper, die immer dann gebraucht wird, wenn der Spielplan wegen Sängerausfall möglicherweise schnell gewechselt werden muss. Allzu kompliziert sollten Inszenierungen dieser Oper möglichst nicht sein. Der an die Berliner Staatsoper hierfür gerufene Alvis Hermanis hat diese Einladung besonders ernst genommen. Es ist eine Aufführung, die eine Einspringerin oder ein Einspringer mühelos „lernen“ kann. Auch eine ganze Produktion einzutauschen macht mit dieser kaum Mühe.

Als eine Art Comic in Form einer Dia-Schau mit gemalten oder fotografierten Bildern läuft die Geschichte in der oberen Hälfte einer Art klassizistischem Altar ab. Die singenden Figuren davor und darunter sind mehr oder minder Staffage. Den einen oder anderen Gag leistet sich Hermanis immerhin: etwa wenn Tosca dem seine „Belohnung“ für das Ausreisepapier einfordernden Polizeichef Scarpia das Hinterteil für den Koitus hinhält, um ihm so heimlich das Messer in den Bauch zu rammen; oder wenn der Henker Cavaradossis seelenruhig sein Pausenbrot auspackt und zu einem Glas Rotwein verzehrt. Und nachdem er den von Scarpia Gehassten per Genickschuss hingerichtet hat, schnappt er sich im Hinausgehen auch noch den Rest seines Klappbrots.

Daniel Barenboim dirigiert erstmals Puccini. Die Übergänge zum Impressionismus hätten ihn an Puccinis Partitur besonders gereizt, gab er vorab zu Protokoll. Vor allem aber kostet Barenboim den vollen Orchesterklang aus, etwa bei den bedrohlichen Motiv-Einwürfen, die Scarpia markieren. Lediglich ab dem mittleren Akt lässt er auch die etwas zarteren Töne erblühen. Das gilt auch für die Sänger. Fabio Sartori als Cavaradossi ist ein über alle Lagen ausgeglichen, aber doch fast stets mindestens im Forte schmetternder Tenor, darstellerisch ein Totalausfall. Umso mehr kann in beiden Disziplinen Michael Volle als Scarpia punkten. Bei Anja Kampe in der Titelpartie hört man vor allem die Wagner-Heroine, was ihr etwas abgeht ist der italienische Schmelz.

Chor, Kinderchor und Orchester zeigen sich von der besten Seite. Sie bekamen denn auch samt den Solisten langen Beifall. Für das Regie-Team hagelte es Buhs. Selten hat man eine „Tosca“ derart uninspiriert in Szene gesetzt gesehen (Ausstattung: Kristine Jurjane). Als konservativ bezeichnet Hermanis sich selbst. Und mit vorgefertigten Bildern hat er’s ja gern. Aber Oper heißt Geschichten erzählen in Vorgängen mit lebenden Figuren. Und seit wann heißt konservativ auch langweilig? Ein Spielplan-Auftakt sollte anders aussehen.


Changierende Geschwindigkeiten

Becketts „Footfalls“ und Feldmans „Neither“

22.Juni 2014

Jeweils zum Spielzeit-Ende startet Berlins Staatsoper seit einigen Jahren ein kleines Festival, in dem sie sich vor allem als Theater der Gegenwart profilieren will. Konzerte und kleinere Musiktheater-Produktionen mit Zeitgenössischem werden da präsentiert unter dem medizinischen Sammeltitel „Infektion!“ – mit Ausrufungszeichen. Neben einer Produktion auf der vom Berliner Virus der nicht enden wollenden Bauvorhaben heftig infizierten Baustelle Unter den Linden mit Salvatore Sciarrinos „Macbeth“-Version gab es da in der gegenwärtigen Ausweichspielstätte Schillertheater einen Abend mit Werken von Samuel Beckett und Morton Feldman.

Die englische Regisseurin Katie Mitchell und Co-Regisseur Joseph W Alford haben beide Stücke zu einem kohärenten Ganzen zu binden versucht. Becketts „Footfalls“ ist die Reflektion einer Mitt-40-jährigen Frau mit ihrer 90-jährigen, an Alzheimer erkrankten Mutter. Die Tochter wird gezeigt in einem dunkelgrauen Sackkleid (Ausstattung: Vicki Mortimer), wie sie mit leicht gebeugtem Kopf jeweils neun Schritte in die eine, dann wieder neun Schritte in die entgegengesetzte Richtung stapft oder tastet. Die Stimme der Mutter kommt aus dem Off. Beckett selbst hatte das Stück einst inszeniert. Vor allem auf ein choreografisches Arrangement kam es ihm dabei an, worin ihm Mitchell und Choreografin Signe Fabricius weitgehend folgen.
Sie koppeln die einmal gefundene Bewegungsform mit dem zweiten Stück, „Neither“, für das Morton Feldman bei einer denkwürdigen Begegnung beider Künstler 1975 in Berlin sich einen Text erbat. Sechzehn Gedichtzeilen über die Unbestimmtheit von Wahrheiten heute lieferte ihm Beckett. Die knapp einstündige Musik, die Feldman dazu erfand, ist ein eher skulpturales Changieren von Klängen, gebaut aus kleinen Formeln. François Xavier Roth interpretiert sie mit Mitgliedern der Staatskapelle im Graben und der Sängerin Laura Aikin, die einzelne Laute gleichsam in den Instrumentalklang mischt.

Der Bühnen-Raum weitet sich immer mehr in die Tiefe. Die Figur der Tochter aus „Footfalls“ wird verneunfacht. Zwei mal sechs Türen tun sich auf, rechts und/oder links, schließen sich, einzeln oder zusammen, langsam oder schnell. Zu beobachten sind die Bewegungen der Frauen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, koordiniert mit dem Fluss der Musik. Licht und Dunkel im Raum spielen eine Rolle. Mal bewegen sich die Frauen in die eine, dann in die andere Richtung, halten aber im Wesentlichen ihre Spur. Gegen Ende versuchen sie auszubrechen durch die Türen hinaus ins Helle. Nur eine bleibt zurück. Aber dann kehren sie doch alle wieder, verharren zum Schluss steif, leicht gekrümmt in ihrer Pose.

Was die Regie damit meint, einen weiblichen Versuch der Emanzipation? Für Beckett selbst ging es weniger um Inhalte, sondern um Form. Spannung aufzubauen gelingt Mitchell und ihrem Team jedenfalls mit diesen allzu schematischen Mitteln kaum. Und die serielle Ästhetik der Nachkriegsjahre ist inzwischen doch sehr fern gerückt. Ein leider flauer Abschluss einer leider auch eher flauen Saison.


Graugrüne ET-Männchen

Brecht-Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ als Pop-Musical

06.Juni 2014

Viel Aufwand, wenig Inhalt. Es war zu erwarten, dass mit dem Inszenierungsteam Vincent Boussard (Regie), Vincent Lemaire (Bühne), Christian Lacroix (Kostüme) keine neue Tiefen-Sicht auf Brecht-Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ zu erwarten war. Dass sie so flach ausfiel, überrascht denn doch. Und verärgert.

Denn dass diese Oper aus den 1930iger Jahren mit ihrer kritischen Sicht auf den Kapitalismus uns heute nichts mehr zu sagen hätte, mag keiner behaupten, der nur ein bisschen in die Texte und in die Musik hinein leuchtet. Boussard-Lemaire-Lacroix bieten dagegen nur ein paar Musical-Effekte und poppige bis pseudo-barocke Ausstattung.

Auch der Choreograf Helge Letonja und Licht-Designer Guido Levi tragen zum schicken Outfit mit grauen tanzenden ET-Männchen und grünen Koffern oder grünem Mond von Alabama hinter dem doppelten Lametta-Vorhang und den darauf applizierten Projektionen (Isabel Robson) bei.

Musikalisch? Nun ja, die Wagner-Heroine Gabriele Schnaut hat man schon überzeugender singen hören. Als Witwe Leokadja Begbick ist sie nur ein Schatten ihrer selbst. Stimmlich runder die Jenny von Evelin Novak und insbesondere der Jim Mahonney von Michael König. Wayne Marshall am Pult hält das Ganze gut zusammen. Aber eine diesem Haus angemessene Neuproduktion ist das nicht.

Aufstieg und/oder Fall? Man darf's sich aussuchen.


Im Sucher

Wagners „Tannhäuser“ mit Daniel Barenboim und Sasha Waltz

12.April 2014

Bei der frommen Pilgermusik zu Beginn der Ouvertüre ist der Vorhang noch geschlossen. Er öffnet sich, wenn die flirrenden Geigen zur Venusbergmusik ansetzen. Ein riesiger Trichter konturiert sich da langsam aus dem Dunkel. Leiber, Männlein und Weiblein, kriechen herein, rutschen nach vorn, umschlingen einander konvulsivisch. Das Bild erinnert etwas an Hieronymus Bosch, aber auch an Pflanzen im Wasser wie in einer früheren Opernarbeit von Sasha Waltz, Purcells „Dido und Aeneas“, oder an „Körper“, ihre berühmteste Choreografie. In das wuselnde Körperspiel werden dann auch Venus (champagnerfarbenes Abendkleid, rote Haare) und Tannhäuser (ganz in Weiß) einbezogen. Wenn Tannhäuser Eros-gesättigt sich auf seine fromme Mission besinnt, legt er einen grauen Mantel über – Alltag.

In den 1950iger Jahren zwischen Restauration und neuer Freiheit lässt die Choreografin Sasha Waltz den Wagnerschen „Tannhäuser“ an der Berliner Staatsoper spielen. Es ist ihr erster Versuch mit Wagner, aber nicht ihr erster mit großer Oper. Für den Sängerkrieg auf der Wartburg hat sie mit Pia Maier-Schriever ein Bühnenbild entworfen, das erinnert an eine überdimensionale Harfe oder Leier. Holzfarbene Stangen hängen da wie Gardinen von der Decke, variieren erst den Trichter-Grundriss und weiten sich dann zu einem Quadrat. Elisabeth nimmt Platz im Kinosessel à la Grace Kelly. Den Einzug der Wartburggesellschaft gestalten vor allem die Tänzer: in wallenden hellblauen Roben die Frauen, in schwarzen Cuts die Männer (Kostüme: Bernd Skodzig). Für das Auslosen der Sänger-Reihenfolge wird eine gläserne Kugel hereinbalanciert. Die Liebes-Ergründungen der wettstreitenden Sänger kommentieren die Tänzer mit passenden Gesten. Bei Tannhäusers frevlerischem Lobpreis der Venus wird die Bühne in eine dunkle Schattenwelt getaucht.

Im Pilgerchor des dritten Akts dürfen die Tänzer allerlei mönchische Kasteiungs-Rituale vollführen. Sie recken betende Hände gen Himmel, werfen sich zu Boden. Eine Tänzerin wird wie eine Stele bei der Prozession getragen, dürre Reiser zu einem Wäldchen gruppiert. Auch Wolfram beginnt sein Lied an den Abendstern mit einer Unterwerfungsgeste im Lotussitz. Er herzt die Stöckelschuhe, die Elisabeth bußfertig und sterbeberiet am Bühnenrand abgestellt hat. Elisabeths Leichnam wird wie eine Reliquie vorgezeigt. Tannhäuser sinkt an ihrer Brust zu Boden, während die Bühne sich füllt mit in Schwesterntracht gekleideten Frauen, Männern und Tänzern.

Man hatte sich von dieser Premiere viel erwartet, sie wie eine kommende Offenbarung hochgeschrieben. Wagners Musik freilich ist psychologisch-dramatisch und kaum tänzerisch wie die des Barock. Den Schlüssel dazu findet Waltz nicht, trotz einiger hübscher Einfälle. Viel zu wenig ist mit den Sängern gearbeitet, kaum sind Vorgänge für sie und mit ihnen erfunden. Vielbeschäftigt sind dafür die Tänzer, aber oft bloß zur Dekoration. Zumal im ersten Akt müssen sie immer wieder Sinnlücken füllen. Des Landgrafen Jagdgesellschaft umkreisen etwa einige männliche Tänzer, wollen die Herrschaften im Lodengrün zum Hopsen animieren – eine Groteske. Und auch die Bet-Rituale der Frauen wirken oft gedrechselt, aufgesetzt, nicht in den Handlungsfluss integriert.

So ist das eigentliche Prunkstück dieser Produktion wieder einmal Daniel Barenboim und seine Berliner Staatskapelle. Wunderbar weich, nuanciert und energiegeladen kommen bei ihr Agogik und Klang. Barenboim weiß inzwischen ungeheuer genau Tempi und Dynamik zu steuern. Nie werden die Sänger zugeschüttet aus dem Graben. Nur beim Chor gibt es gelegentlich Wackler. Ganz so glücklich mit den Sängern konnte man allerdings nicht sein. Herausragend zwar René Pape, der dem Landgrafen, allem Firlefanz sich verweigernd, strenge Würde verleiht. Auch Peter Seiffert als Tannhäuser kann mit heldischem Tenor und Gestaltungskraft überzeugen. Marina Prudenskaya als Venus singt eher forciert und mit zu starkem Vibrato. Ähnlich Ann Petersen als Elisabeth. Peter Mattei ist ein darstellerisch sehr präsenter Wolfram, kann aber Intonationsschwächen nicht verbergen.

Es gab bei der Premiere im Schillertheater am Ende Ovationen zumal für die Tänzer, das Orchester und Barenboim. Sasha Waltz und ihr Team mussten auch Buhs einstecken. Homogen und originell wirkt diese Arbeit nicht. Den Venusberg als eine Art Trichter dargestellt hat schon Peter Konwitschny in seiner einstigen Dresdner Inszenierung. Dort allerdings war der Trichter spielerisch-ironisch als Schlund gesetzt. Hier darf man mehr ein umgekehrtes Fernglas assoziieren für Tannhäuser, den Suchenden, wie Waltz ihn versteht. Durch die in Berlin gewählte Mischung aus Dresdner und Pariser „Tannhäuser“-Fassung mit dem erweiterten Venusberg-Bild gleich zu Beginn wirkt die Szene aber überdehnt. Die Aktionen wiederholen sich, es gibt Längen und viel überflüssiges Gewese.

Einen plausiblen „Tannhäuser“ zu inszenieren ist gewiss nicht leicht bei der schwurbeligen Moral dieses Stücks. Und Wagner wusste ja selbst, dass er der Welt noch einen Tannhäuser „schuldete“. Für Waltz eine nicht lösbare Aufgabe.

Fotos: © Bernd Uhlig

Musik nach der Musik - oder: Wotan als Häuslebauer

Nicolas Stemann mischt Wagner mit Elfriede Jelinek zu „Rein Gold“

09.März 2014

Wie klingt Wagner minus Erlösung? Auf die Formel bringt es Regisseur Nicolas Stemann. Der Münchner Opern-Intendant Nikolaus Bachler hatte einst von Elfriede Jelinek einen Programmhefttext zu Wagners „Ring“ erbeten. Heraus kam ein zweihundert-Seiten langer Fließtext, den man dann in einer achtstündigen Lesung rezitierte. Stemann wollte diesen von Jelinek mit Marx und aktuellen Erscheinungen des Finanzwesens „kurz geschlossenen“ Bühnen-Essay aber auch an der Wagnerschen Musik messen. An Berlins Staatsoper fand er dafür einen Ort. Und entstanden ist eine Aufführung von (pausenlosen) zweidreiviertel Stunden mit der Staatskapelle, die auf einem beweglichen Podest mit auf der Bühne sitzt, drei Schauspielern, den drei Rheintöchtern, zwei Musikern, die eine Tonbandmaschine mit angeschlossenem Synthesizer bedienen, und den zwei Protagonisten der „Ring“-Geschichte, Wotan und Brünnhilde.

Die Grundidee von „Rein Gold“ ist: Tochter fragt „Papa“, wie er sich das mit dem Hausbau vorgestellt hat. Wer hat ihn dazu gedrängt? Das Geld zum Bauen hatte er nicht. Er musste es sich von unzählig vielen Leuten leihen, und den Überblick hat er wohl schon verloren. Beim Ratenzahlen kam er in Verzug – und ging auf Raubzug aus. Arbeiter hat er nicht angestellt – die gibt’s ja kaum noch – sondern zwei Riesen. Von denen hat jeder hunderte Malocher ersetzt, und beim Walhall-Bau sind sie so dumm geblieben wie sie vorher waren. Zum Schluss muss alles abgefackelt werden, weil es niemanden mehr gibt, der in dem Protzbau auf dem Hügel wohnen will. Keine Helden jedenfalls.

An dieser Stelle gegen Schluss, gelingt der Aufführung dann doch eine ganz aktuelle Querverbindung zu den neuen „deutschen Helden“. Die drei Schauspieler, zwei Männer und eine Frau, kreisen auf Fahrrädern über die Bühne. Hinten rollt ein Campingauto vor, Wotan im Cockpit. Brünnhilde lässt Flammen züngeln auf dem Fahrzeug. Und dazu sieht man einen Film, in dem zwei Männer heftig streiten und schliesslich sich erschiessen. Die entsetzte Frau wird noch ihre Katzen in Sicherheit bringen, bevor sie ihr Heim in Asche legt. Die Brünnhilde des „Ring“ allerdings ritt mit ihrem Ross Grane in die Flammen. Ein Kind sammelt noch die aus dem Bühnenhimmel herunter geregneten Geldscheine auf und stellt die Bandmaschine an. Das Des-Dur-Liebesmotiv kommt blechern aus der Konserve. Auch die Liebe gibt’s nicht mehr, ein falsches Versprechen wie das des Goldes.

Als ein Work in Progress bezeichnen Regisseur Stemann und der Dirigent Markus Poschner diesen Abend. Kennen und schätzen lernten sie einander bei einer Offenbach-Produktion vor Jahren in der Berliner Komischen Oper. Gearbeitet habe man mit musikalischen „Modulen“. Zwischen denen hat David Robert Coleman verfremdende Übergänge komponiert, die die Originalmusik wie „mit Säure“ übergossen zerfliessen lassen sollen. Ein zentrales Motiv ist Siegfrieds Liebe. Die Rheintöchter in goldglitzernden Kleidern (Kostüme: Marysol del Castillo) treten immer wieder auf, wenn sie die neuen deutschen Helden ankündigen mit schwarz umränderten Augen. Der Trauermarsch oder die Waldvogel-Musik klingen an. Wotan (Jürgen Linn) mit seinem Walhall-Bombast kommt erst steif im schwarzen Gehrock, zum Schluss wie ein Penner auf die Bühne. Brünnhilde (Rebecca Teem) erscheint mal als Walküre, mal als bunte Witzfigur oder Todesbotin.

Den Löwenanteil des Abends allerdings bestreiten drei Schauspieler (Philipp Hauß, Katharina Lorenz, Sebastian Rudolph), die die Jelinek-Texte vom Blatt rezitieren, im dritten Abschnitt des Abends dann vor allem Regieanweisungen. Das Publikum wird da auch mal aufgefordert aufzustehen, was sogar weitgehend befolgt wird. Und am Ende halten sie wie bei „Mahagonny“ Pappschilder hoch, die die Moral der Geschichte verkünden: Etwa die vom Geld, das sich von sich selber befreit hat, oder dass alles bleibt wie es ist als neuer Definition von Revolution. Viel Leerlauf ist dabei, was den Abend unnötig aufplustert. Die ersten Leute gehen schon nach weniger als einer Stunde.

Überhaupt zerfleddert alles etwas im dritten Abschnitt. Es fehlt an szenischer Stringenz, was bei Schauspielern, die ihre Texte meist ablesen, auch nicht so sehr wundert. Kabarettistisches drängt sich vor, wenn etwa als neues Evangelium des Glücks ein „i-Schwert“ präsentiert wird, mit dem man im Internet surfen und auch telefonieren kann. Bis dann das Orchester, dem zwei Pausen gegönnt sind, wieder aufs Podium zurückkehrt und Wagners Musik Revue passieren lässt. Sternstunden des Wagner-Gesangs erlebt man hier zwar nicht. Aber darauf kam es nicht an. Nur dass der Abend dann doch immer wieder eher an Seminar als an Theater denken lässt, befremdet. Man habe, sagen Stemann und Poschner, bis zuletzt an der Zusammensetzung der „Module“ gearbeitet. Etwas mehr Abstand hätte vielleicht die Längen und Durchhänger tilgen lassen.

Immerhin aber ein interessantes, vom Publikum am Ende akklamiertes Experiment, Wagner am Heute zu überprüfen. Ein „Ring“-Digest ist es nicht, aber die proklamierte „Musik nach der Musik“ auch nicht.


Und noch eine Übernahme:

 „Katja Kabanova“ von Leoš Janáček

25.Jan. 2014

Eine Inszenierung von Andrea Breth in der eindrucksvoll an Beckett erinnernden Ausstattung von Annette Murschetz und hingebungsvoll dirigert von Sir Simon Rattle. 2010 in Brüssel entstanden, wert auch anderswo gezeigt zu werden. Bedeutsam auch durch die eindringliche Darstellung der Kabanicha von Deborah Polaski.

Aber das Image des Hauses, das das erste in der Stadt wenn nicht im ganzen Land sein will, erhöhen solche Übernahmen nicht.


In der Krabbelkiste

Verdis „il trovatore“ als Übernahme von den Wiener Festwochen

29.11.2013

Die Staatsopern-Leitung kauft gern anderswo herausgekommene Inszenierungen ein. Spart wohl Geld, aber sicher auch (unfreiwillig?) an der Reputation des Hauses.

Philipp Stölzl, der besondere Liebling, hat seine Version des Verdischen „Trovatore“ im Frühjahr bei den Wiener Festwochen herausgebracht. Es ist ein Troubadour in der Spiel- und Krabbelkiste. Die Figuren niedlich wie Hampelmänner und –frauen. Der Chor wie auf Kommando zuckende Zinnsoldaten. Und ein paar Videos.

Lohnen sollte sich das wegen zwei Superstars in der Besetzung als Debütanten: Anna Netrebko als Leonora und Plácido Domingo als Luna. Wie ein Stehaufweibchen wirbelt Netrebko über die Bühne, lässt augenklappernd ihre Koloraturen aus der Kehle kullern. Nur leider – sauber ist selten ein Ton. Als Debütant angekündigt auch Plácido Domingo. Er gibt die Bariton-Rolle des Grafen Luna, angemessen stocksteif und mit immerhin sonorem Klang. Was den Abend einzig wert macht, ist Daniel Barenboims Debut als Troubadour-Dirigent. So präzis, geradezu Toscanini’sch kann man das Werk selten hören.

Und als reines Hörtheater taugt der Abend gerade noch, zu mehr nicht. Die mehreren hundert Euro, die eine Premieren-Karte auf dem Schwarzmarkt gekostet haben soll – unglaublich. Und man fragt sich einmal mehr, was ist in dieser Staatsoper drin, wo Staatsoper drauf steht – zumal die nächste Übernahme schon anrollt…


Tod im Studio

Nikolai Rimsky-Korsakows rare „Zarenbraut“ - zum Spielzeit-Auftakt

03.Okt. 2013

Eigentlich ist das eine ganz opernnormale Dreiecks- und Eifersuchtsgeschichte. Grjasnoj, ein Opritschnik-Oberer, möchte seine Geliebte Ljubascha loswerden. Er will Marfa, eine Kaufmanns-Tochter. Die aber ist versprochen an Lykow, der gerade heimgekehrt ist von einer Auslandsreise und viel zu fabulieren weiß von einem blühenden Land im Westen. Und mittenhinein platzt der verwitwete Zar, der gerade nach einer neuen Frau suchen lässt. Unter zweitausend russischen Mädchen fällt die Wahl ausgerechnet auf Marfa. Der Beziehungswirrwarr ist komplett – und tödlich. Liebes- und Todestränke à la Wagner werden gemischt. Am Ende erdolcht Grjasnoj Ljubascha und tötet sich selbst. Marfa stirbt an einem Gift, das eigentlich ein Liebestrank sein sollte. Der Zar, der in der ganzen Oper nie leibhaftig auftaucht, wird sich eine neue Braut suchen müssen.

Die Story ist historisch fundiert. Mit dem Zaren gemeint ist Iwan IV, genannt Grosnij, der Strenge oder Schreckliche, berüchtigt durch sein blutrünstiges Regime, als er mithilfe seiner Opritschnik-Leibgarde das Land „auskehren“ liess. In der Regie von Dmitri Tcherniakov an der Berliner Staatsoper dient die Historie indes nur als Kostümfest im Fernsehstudio. Derweil casten im Regieraum Opritschniks und Bojaren per Internet-Chat einen Phantom-Zaren samt passender Braut. Biometrische Daten von Trotzki bis Jelzin flimmern auf. Steckbriefe der heißesten Mädchen passieren Revue. Die wie meist bei Tcherniakov (als sein eigener Bühnenbildner, Kostüme: Elena Zaytseva) mehrteilige Bühne rotiert fleißig. Vollgepfropft ist sie mit Computertechnik und dem grünen TV-Studio, daneben ein schmales Konferenzzimmer mit raumfüllendem Tisch und reichlich Flaschen drauf für die Trinkgelage.

Muss man in solch engem Ambiente noch viel inszenieren? Die Personenregie jedenfalls ruht weitgehend. In den mittleren Teilen der vieraktigen Oper wird der Blick noch ins Wohnzimmer der Sobakins, Marfas Eltern, gelenkt. Dort flimmert vor der Blümchen-Tapete das Fernsehgerät mit den laufenden News. Allerdings wird uns das Wohnzimmer nur quasi „teichoskopisch“ durchs Hochparterre-Fenster präsentiert. Marfa zieht auch schon mal die Vorhänge zu, wenn unterm Sims die verschmähte Ljubascha auftaucht, um ihre Rivalin zu begutachten. Deren strahlende Schönheit muss Ljubascha so sehr anerkennen, dass sie sich bis zur Selbstaufgabe an Marfas Fußsohlen klettet und bereut, bei einem Giftmischer, der wiederum ihr an die Wäsche will, einen Gifttrank bestellt zu haben.

„Die Zarenbraut“ (Zarskaja newesta) ist Nikolai Rimsky-Korsakows neunte von insgesamt fünfzehn Opern. 1899 in Moskau erfolgreich uraufgeführt aber im Westen kaum bekannt, wird sie im Programmheft erläutert als Versuch des Komponisten, vom deklamatorischen Stil des sogenannten „Mächtigen Häufleins“ um Mussorgsky sich abzuwenden hin zu einer am älteren Glinka orientierten Gesangskultur. Sehr viel deutlicher aber ist Rimsky-Korsakows Wendung zu den näheren Verdi und Tschaikowsky. Fast tongetreu hört man Anlehnungen an deren „Otello“ bzw. „Onegin“, zumal in den lyrischen Partien. Die Zarenwelt indes tönt archaisch wie bei Mussorgsky. Eine eigene neue Musiksprache entdeckt man in dem Werk nicht.

Daniel Barenboim am Pult der Berliner Staatskapelle lässt die Farben in der Partitur des als Instrumentator legendären Rimsky-Korsakow kräftig aufleuchten. Mit Johannes Martin Kränzle als beim Fäden-Spinnen sich verzockender Opritschnik hat man einen wunderbar agilen und sonoren Grjasnoj in der Quasi-Hauptrolle. Olga Peretyatko ist die etwas schmalstimmige Marfa, Anita Rachvelishvili die ungemein temperamentvolle Ljubascha. Regisseur Dmitri Tcherniakov inszeniert in dieser Koproduktion mit der Mailänder Scala das kaum bekannte Stück nicht eigentlich, er nimmt es als Folie. Zeigen will er wohl, wie Herrschaft heute funktioniert: als manipulative Telekratie mit Märchen, Traumwelten und Krimis – Marfa darf im Studio sterben.

So taufrisch ist die Idee nun aber nicht und der Preis einer alles lebendige Spiel erstickenden Bühnen-Technik hoch. Spannung entsteht in den zugebauten Räumen wenig, außer wenn Ljubascha hereinwirbelt. Funktioniert Theater im Fernsehen schon selten, umgekehrt tut’s das noch weniger – und die techniktrunkene Kooperation Berlin-Mailand ebenso.


Perforationen

Die Berliner Staatsoper und ihr Festival „Infektion!“ mit For the disconnected child / AscheMOND / Hanjo

14.-30.Juni 2013

Eine Frau, eine frühere Geisha, wartet. Sie wartet auf ihren Freund. Auf einem Bahngleis balanciert sie traumverloren. Er wollte sie heiraten. Inzwischen hat eine ältere Frau sich in sie verliebt, hat sie freigekauft, umsorgt sie. Und als der Mann tatsächlich kommt, erkennt die junge Frau ihn nicht, sieht in ihm ein Skelett. In zarten Pastelltönen hat der Komponist Toshio Hosokawa diese von Yukio Mishima in die Moderne übersetzte Geschichte des Nô-Theaters komponiert. Calixto Bieito hat sie in für ihn dezenten, wenn auch kenntlichen Formen inszeniert. Die Bühne von Susanne Gschwender zeigt ein Bahngleis mit Schotterkies. Ein entwurzelter Baum liegt quer. Das kleine Orchester, die Musiker mit geweißten Stirnen und Haaren, sitzt links und rechts des Bahndamms. Die drei Sänger, Ingela Bohlin, Ursula Hesse von den Steinen und Georg Nigl, geben eine ungemein dichte Vorstellung. Hosokawas „Hanjo“ ist eine Koproduktion der Berliner Staatsoper mit der Ruhrtriennale 2011.

Jeweils zu Spielzeitende will Berlins Staatsoper noch zeigen, es geht auch anders: neues Musiktheater muss sein. Zwar ist derlei auch immer wieder auf der kleinen Werkstattbühne zu sehen, aber in Produktionen, die eher als Übungsfeld für den Nachwuchs dienen. „Infektion!“ – mit Ausrufezeichen – nennt Intendant Jürgen Flimm sein kleines Festival auf der grossen Schillertheater-Bühne. Aber ob der Virus neue Musik wirklich ansteckt, ist Glückssache. So gab es neben „Hanjo“ auch als Koproduktion mit der Schaubühne eine Uraufführung, bei der der Autor und Regisseur Falk Richter sinniert über Bindungslosigkeit von Beziehungen heute. Ausgangspunkt: die Titelfigur von Tschaikowskys Oper „Eugen Onegin“. Richter nennt sein Opus für Schauspieler, Musiker, Tänzer „For the disconnected child“. Als Abschlussarbeit eines Volkshochschul-Kurses würde es gut taugen.

In der Staatsoper als Auftragswerk zu sehen „AscheMOND oder The Fairy Queen“. Der Regisseur Claus Guth und der Komponist Helmut Oehring haben dafür Teile von Henry Purcells „Fairy Queen“ mit neuen Texten und neuer Musik verquickt. Ursprünglich sollte Guth Henry Purcells Semi-Opera blank inszenieren; doch schien ihm dessen Dramaturgie heute nicht mehr tragbar. So bat er den fürs Bearbeiten tradierter Werke erprobten Helmut Oehring hinzu. Entstanden ist ein Gemisch aus Musiken und Songs von Purcell, Texten von Shakespeare, Heine und Stifter, die Stefanie Wördemann zu einem Libretto verarbeitete, und Neu-Kompositionen Oehrings. Als erzählerische Klammer stülpte Guth dem Ganzen noch die Geschichte eines Manns über, der in das leere Haus seiner Kindheit zurückkehrt, um dort herauszufinden, wie und weshalb sich seine Mutter tötete.

Das von Christian Schmidt erdachte Bühnenbild zeigt die vier Räume der Wohnung, die der Mann durchstöbert. Er liest im Tagebuch der Mutter, erinnert sich der in allen vier Jahreszeiten immer gleichen Rituale der Eltern und eines befreundeten Paars, die sich besuchen, Blumensträuße und Getränke auspacken, feiern, miteinander schlafen – auch überkreuz. Und dann im Winter passiert’s. Die Mutter vergiftet sich. Marlis Petersen spielt diese Mutter, mit eindrucksvoller Präsenz sowohl die Purcellschen Songs wie Oehrings Kantilenen interpretierend. Den als Sprechrolle eingefügten erwachsenen Sohn gibt Ulrich Matthes, der außer aus dem Tagebuch der Mutter auch Gedichte zitiert. Im Graben spielen zwei Orchester, die Akademie für Alte Musik unter Benjamin Bayl für Purcell und Mitglieder der Staatskapelle unter dem kurzfristig eingesprungenen Johannes Kalitzke für Oehrings oft elektronisch „durchlöcherte“ Musik. Mitglieder des Chors agieren meist als die in die Jenseitswelt weisenden Wesen der Feen und Geister.

Auch wenn das Publikum freundlich applaudierte – der Abend wirkt trotz der gleitenden Übergänge mit über zwei Stunden deutlich zu lang. Eher nervig das auf der Drehscheibe fast permanent rotierende massige Bühnenbild. Gewiss hätte man sich einen stimmigeren Erfolg gewünscht für diesen neuen Versuch mit Purcell. Zumal die Staatsoper in der auslaufenden Saison keinen gerade Esprit-sprühenden Eindruck macht. Lähmend wirkte besonders der zusammen mit Mailand produzierte sterile Video-„Ring“ von Guy Cassiers. Als wenig glücklich erwies sich auch die Übernahme des von Philipp Stölzl einst produzierten „Fliegenden Holländer“ mit seiner filmischen Pseudo-Romantik. Und eine neue Stölzl-Übernahme steht bevor. Überhaupt krankt das Haus an zu vielen Koproduktionen. Zum Teil sind sie geschuldet der über Daniel Barenboim vermittelten Kooperation mit der Mailänder Scala, die nach dem Intendantenwechsel dort aber wohl ausläuft; zum Teil auch der löchrigen Rückkehr-Perspektive ins Linden-Stammhaus.

Allerdings ist die Konkurrenz der beiden anderen Berliner Musikbühnen auch nicht berückend. Die Deutsche Oper unter Dietmar Schwarz fährt einen schmalen Kurs des Gängigen. An der Komischen Oper driftet Intendant Barrie Kosky immer strikter ins unterhaltsame Musiktheater der Vor-Felsenstein-Ära, mit kleinen Abweichungen. Die eisern auf den Plakatsäulen proklamierte Opern-Hauptstadt-Berlin bleibt Wunschprojektion.


Stiller Tod

Frank Martins „Le vin herbé“

25.Mai 2013

Ein schöner Kontrapunkt eigentlich, im sogenannten Wagner-Jahr an eine andere, gleichsam skelettierte Version des Tristan-und-Isolde-Mythos zu erinnern. Der Genfer Pastorensohn Frank Martin schuf sie im Stil eines Mysterienspiels, kammermusikalisch instrumentiert, mit Rückgriffen sowohl auf frühe Modalharmonik wie Schönbergsche Reihentechnik. Ein „weltliches Oratorium“ nannte Martin sein etwa hundertminütiges Werk „Le vin herbé“ (Der Zaubertrank). Für einen Madrigalchor komponiert nach Teilen des 1900 erschienenen Romans „Tristan et Iseut“ des französischen Mediävisten Joseph Bédier, wurde es 1942 konzertant uraufgeführt in Zürich, dann nach dem Krieg (1948) auch szenisch in Salzburg. Ein zwölfstimmiger Chor ist der kollektive Akteur. Er berichtet über und kommentiert das Geschehen. Die einzelnen Figuren des Mythos treten solistisch aus dem Chor hervor. Der Liebesfuror zwischen Tristan und Isolde entsteht hier nicht wie bei Wagner durch einen bewussten Eingriff von Isoldes Dienerin Brangäne sondern durch eine schlichte Verwechslung beim Öffnen des Getränke-Behälters.

Dass solche Liebe als etwas Äusserlich-Zufälliges, Aufgesetztes erscheint und nicht als von innen heraus gewachsene, wird nicht weiter reflektiert. Auch nicht in der szenischen Einrichtung von Katie Mitchell (Co-Regie: Joseph W Alford) in der derzeitigen Spielstätte der Berliner Staatsoper, dem Schillertheater. Allerdings lässt Mitchell den Trank aus einer Thermoskanne ausschenken. Und entgegen des sonst bei der englischen Regisseurin beliebten Stilmittels, das Geschehen auf der Bühne mit Videokameras abgefilmt auf Leinwänden im Theater mikroskopierend zu verdoppeln, fungiert hier der Chor selbst als „Big Brother“, der die Liebenden aus nächster Nähe beäugt. Situiert ist das Ganze in der Weltkriegs-Entstehungszeit; als Bühnen-Raum dient ein ausgebombtes Theater (Ausstattung: Lizzie Clachan). Im Hintergrund lodert Feuer, von oben rieselt leise Schnee. Wenn Tristan oder Isolde oder die anderen Figuren aus dem Chor heraustreten, werden ihnen die Mäntel abgestreift – auf dem lazarettähnlichen Liebeslager auch die Über-Kleider. Der Chor ist vor allem damit beschäftigt, Requisiten herein und wieder hinaus zu schleppen. Das sorgt für ständige Bewegung – nach einem stummen, wie eine Totenmesse angelegten Prolog. Einzelne Ideen, wie das Gehen auf Stühlen als Zeichen für Flucht und Wald, werden stark strapaziert. Es ist armes Theater. Aber was will es erzählen? Etwas über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Liebe im Krieg? Etwas über den Tod des Theaters?

Die Distanz bleibt. Grossartig die musikalische Interpretation mit Solisten der Staatskapelle und des Chors unter der Leitung von Franck Ollu. Anna Prohaska, mit weicher Tongebung trotz leichter Indisposition, spielt eine erst etwas verschüchterte Isolde, die am Ende aber die von König Marke Tristan als Ersatz-Ehefrau an die Seite gegebene Rivalin resolut von Tristans Totenbett verscheucht. Matthias Klink gibt den leidenden Tristan. Es ist eine solide, stille Aufführung, vom Publikum dankbar akklamiert.


Exhumiert

Stölzls „Holländer“ mit vielen déjà-vus

28.04.2013

Diese Inszenierung ist ein Import. Entstanden ist sie im einst als Mekka neuzeitlichen Musiktheaters so hochgelobten Basel. Dass dessen Ruhm mittlerweile abgeblättert ist, bezeugt auch diese Produktion. Regisseur Philipp Stölzl, bekannt geworden weil er mal für Madonna Videos drehte, greift hier voll in die Film-Ausstattungskiste. Senta träumt (war schon mal viel überzeugender da) und sitzt in der Bibliothek ihres gutbürgerlichen Vaters. Sie greift nächtens nach einem dicken Schmöker von Sagen und Märchen und liest von dem Seemann, der alle sieben Jahr an Land kommt, um nach einer Frau zu fahnden, die ewig ihm treu ist.

Das panaromabreite Ölgemälde mit den die Felsklippen umtosenden Wellen auf der Rückwand der Bibliothek (Ausstattung: Ph.Stölzl/Conrad Moritz Reinhardt) öffnet sich und gibt den Blick frei auf ein Kabinett mit den anlandenden Seeleute des Vaters, die in Sentas Zimmer sich vorübergehend einquartieren. Neben den Daland-Kahn schiebt sich der riesige Seetang-ummantelte Bug des Holländer-Schiffs. Der steigt nun auch wie ein Klabautermann herab in Sentas Kemenate. Mit seiner silbrig glänzenden Metallfaust (war auch schon mal da in einem der besten Bond-Filme) durchschlägt er einen Globus, wenn er das Weltengericht herab beschwört auf die so verkommene Erde. Aber Senta schmiegt sich fasziniert an ihn.

Die „Spinnstube“ des zweiten Akts ist der Aktionsraum für die in weiße Schürzen überm grauen Kleid adrett gekleidete Putz-Feen des Daland-Hauses (Kostüme: Ursula Kudrna). Sie kleiden Senta an und servieren ihr das Frühstück. Als Vater Daland den greisen Zigarre-paffenden Opa reinschleppt, den sie heiraten soll, träumt sie nur noch vom als Traumbild verdoppelten Holländer. Die Hochzeit ist ein Sekt-Besäufnis, dem das Brautpaar auf dem Sofa betröppelt zuguckt. Die Mannen des Fantasie-Holländers ziehen die ganze bürgerliche Gesellschaft in ihre Welt und wässern sie im Meer. Das Senta-Double auf dem Holländerschiff fackelt zum Abschied das Verlies mit dessen ehemaligen Geliebten ab, und die Real-Senta durchschneidet sich mit einem abgebrochenen Sektglas die Gurgel. Statt Sekt spritzt Blut.

Ende der pausenlosen, gleichwohl nicht gerade atemberaubenden Veranstaltung. Nicht einmal musikalisch hält diese Aufführung, was man an einem solchen Haus erwarten darf. Dirigent Daniel Harding lässt es im Orchestergraben zwar gewaltig donnern, aber es fehlt doch hörbar an Feinschliff. Von den Sängern können Michael Volle als kraftvoller Holländer und Stephan Rügamer als der von Senta verschmähte Liebhaber Erik überzeugen. Die Senta der Emma Vetter ertränkt die Figur in reichlich Vibrato. Das Publikum, allmählich wohl der szenischen Qualität in diesem Haus entwöhnt, applaudierte am Ende ohne Trübung. Warum man diese Produktion aus Basel exhumierte – es bleibt das Geheimnis der Intendanz, zumal Stölzl wegen Proben in Wien für einen neuen „Troubadour“, der dann auch nach Berlin importiert werden soll, die Erweckungsarbeit seiner Koregisseurin Mara Kurotschka überlassen musste.

Überhaupt - lebt die Berliner Staatsoper nur noch von Koproduktionen und Re-Importen? In der kommenden Spielzeit sieht es nicht wesentlich besser aus.


Wurzeltheater

Daniel Barenboim und Guy Cassiers beenden den geflopten Koop-„Ring“ mit  „Götterdämmerung“

Es war das ehrgeizigste Projekt der Kooperation zwischen Berliner Staatsoper und Mailänder Scala, dieser „Ring“. Aber schon beim Vorabend „Rheingold“ konnte man ahnen, „wie das wird“. Die abschließende „Götterdämmerung“ hat die Ahnungen noch weiter bestätigt: dekoratives „Wurzel“-Theater. Die Sänger stehen meist wie angewurzelt auf der Bühne. Hinten flimmern Videowände: In der „Götterdämmerung“ mit dem Weltenbrand viel Gelb-Rot. Zur Rheinfahrt schönes Blau. Und bei Siegfrieds Erzählung im Wald saftiges Grün, das sich in Rot verfärbt.

Immerhin im Graben musiziert wird auf exzellentem Niveau. Daniel Barenboim und seine Staatskapelle lassen die Farben dieser wunderbar dichten Partitur prächtig Farben leuchten. Es wird höchst differenziert musiziert, in den zartesten Pianissimi wie in den satten Fortissimi. Die Sänger werden nie zugedeckt. Auch wenn in den beiden Protagonisten, Jan Storey als Siegfried und Iréne Theorin mit ihren vibrato-getränkten Stimmen, keine strahlenden Heldenfiguren zu bewundern sind. Stimmlich viel schlanker austariert: Gerd Grochowski als Gunther und Mikhail Petrenko als Hagen. Auch Marina Poplavskaya kann zumal im Schlussakt als gebrochene Gutrune sehr überzeugen, ebenso wie die den Ring zurückfordernden Rheintöchter.

Das Regieteam, Guy Cassiers, Enrico Bagnoli und Tim van Steenbergen – sie versuchen in der „Götterdämmerung“ dem Ganzen doch noch etwas (Dramaturgen-)Sinn zu verpassen, von dem man vorher nichts ahnte und auch nichts sah. Im Programmheft liest man da etwa über den belgischen Kongo-Kolonialismus, den man mit dem „Ring“ aufspießen wollte mit dem Zitat eines Frieses des Antwerpener Bildhauers Jef Lambeaux („Les passions humaines“, 1898) und einer Erzählung von Joseph Conrad („Herz der Finsternis“) über eine Fahrt auf dem Kongo-Fluss. So sieht man die Gibichungen kostümiert in kolonialen Reithosen mit schwarzen Hosenträgern und Stiefeln. Die Gibichungen-Halle ist dekoriert mit dem Zitat jenes Frieses, einem gold-schimmernden Tresen, in dem verblichene Menschenbeine wie Reliquien ineinander verschlungen lagern.

Im Schlussakt werden diese Tribünen-artig aufgebauten Tresen wie auf einem Rangierbahnhof immer wieder hin und her geschoben, oder dienen auch Brünnhilde als Absprung-Rampe ins Walhall vernichtende Feuer. Die Gibichungen-Menschen tragen bei dieser Trauer-Zeremonie über die Hemden gestülpt Tierfelle, die Trophäen wohl einstiger Großwild-Jagden. Eine Szene gibt es, bei der man so etwas wie Regie vermuten kann: Wenn Siegfried zu Brünnhilde auf den Walküren-Felsen steigt, um sie für den neuen Blutsbruder Gunther und ihr den glitzernden Arm-Ring zu rauben, bemächtigen sich die vier Tänzerinnen und Tänzer, die ihm zuvor als Ross Grane dienten, Brünnhildes in einer Weise, als wollten sie sie in ihren schwarzen Tüchern wie Krokodile verschlingen. Choreografie: Sidi Larbi Cherkoui.

Auch die Warnung der Waltraute vor dem drohenden Ende, in dem sie die Schwester Brünnhilde mahnt, das Ring-Gold den Rheintöchtern zurück zu geben und damit den Raubbau an der Natur zu beenden, strahlt eine gewisse Intensität aus, zumal durch die Sängerin Marina Prudenskaja. Ansonsten ist das mehr ein Hör-Theater. Immerhin den Text kann man bequem mitlesen und sich vergegenwärtigen. Am Ende gab es gemischte Reaktionen, auch für die Sänger. Einhellig gefeiert wurden nur Barenboim und die Staatskapelle, das Regieteam erntete Buhs. Ein „Ring“ fürs 21.Jahrhundert und mit dessen technischen Möglichkeiten ist das nicht. Da fehlt denn doch nicht nur „etwas“ sondern viel, allzu viel.


Krude Mischung

Hans Neuenfels dichtet Mozarts „La Finta Giardiniera“ um

24.Nov. 2012

Das Libretto der Oper „La Finta Giardiniera“, das Mozart 1774 für München in wenigen Wochen vertonte, sei „fadenscheinig, banal, idiotisch“, sagt Regisseur Hans Neuenfels. Stimmt. Es geht da um eine Gräfin Violante. Die wird von ihrem Geliebten Belfiore erstochen, aber nicht tödlich getroffen, wie Belfiore meint. Sie versteckt sich als Gärtnerin unter dem Namen Sandrina bei einem Podestà, einem Ortsgewaltigen. Eines Tags wird sie von Belfiore dort entdeckt – und sie liebt ihn noch immer. Drum herum gibt es vielerlei Liebeleien und Intrigen.

Natürlich ist der Podestà scharf auf Sandrina, und seine (aus Russland! angereiste) Nichte Arminda hat’s abgesehen auf den schmucken Belfiore. Neuenfels hat für diese Oper des knapp 18-jährigen Mozart, die musikalisch eigentlich nur in den beiden Finali trägt, ein neues Libretto gedichtet. Es tupft Themen an, die in späteren Mozart-Opern („Figaro“, „Giovanni“, „Così“, „Zauberflöte“) weiter vertieft werden, inklusive „Idomeneo“-Religionskritik. Neuenfels‘ Grundfrage ist, was ist Liebe? Warum liebt eine Frau noch immer einen Mann, der sie ermorden wollte?

Erweitert hat Neuenfels die Personage mit Blick auf eigene Erfahrungen (?) um ein älteres Paar, das die Liebe gleichsam hinter sich hat und sich vor allem Gemeinheiten an den Kopf wirft – bis der Mann, ein Conte, vom Schlag getroffen, zu Phoenix ins Weltall abschwirrt. Eine ähnliche Flugrichtung sieht Neuenfels auch für sein junges Paar vor. Als sie einander ihre wahre Identität bekennen, gehen beide noch einmal mit Messern aufeinander los, landen in gläsernen Särgen. Sie wandern in ein Leben nach dem Tod und entschwinden durch eine Röhre. Sehr viel glaubwürdiger ist das zwar auch nicht.

Aber Neuenfels will keine Geschichte erzählen. Er will Zustände der Liebes-Irrungen und -Wirrungen zeigen. „Die Pforten der Liebe“ nennt er seine Fassung im Untertitel. Die Darsteller treten gelegentlich Brechtisch neben ihre Rollen. Die Sprache der Dialoge – es gibt keine gesungenen Rezitative – ist knallig deutsch, spart nicht mit Zoten und ulkigen Reimen. Die Dienerin des Podestà, Serpetta (ja eigentlich: kleine Schlange), redet muttersprachlich Schweizerisch. Die Arien erklingen auf Italienisch.

Eine krude Mischung ist das – leider mehr interessantes als wirklich spannendes Experiment, vom Publikum am Ende mit überwiegend Buhrufen quittiert. Reinhard von der Thannen hat die Bühne wie eine Versuchsanordnung gestaltet mit säulenartigem Portal und einer Art Schiefertafel in der Mitte. Alles in Anthrazitgrau und ziemlich einfallslos ausgeleuchtet. Nur die Kostüme und die reichlich sexsymbolhaltigen Accessoires bringen etwas Farbe in die Szene.

Auch musikalisch ist das nicht der reine Genuss. Mit Annette Dasch agiert zwar als Sandrina alias Marchesa Violante Onesti ein Star auf der Bühne. Aber an den Endproben war sie krankheitshalber verhindert. Ihr Sopran klingt etwas matt, ohne die bei ihr sonst so geschätzte Leichtigkeit. Folge vielleicht auch ihres partiellen Rollenwechsels als Elsa in Neuenfels‘ Bayreuther „Lohengrin“? Einen fuchsigen Podestà gibt Stephan Rügamer, Alex Penda die rachsüchtige Arminda. Gute Figur machen auch Regula Mühlemann als rosarote Serpetta und Stephanie Atanasov als transen-jokerhafter Ramiro.

Elisabeth Trissenar und Markus Boysen (mit Lagerfeld-Zopf) mimen das zänkische Seniorenpaar. Im hochgefahrenen Graben dirigiert Christopher Moulos mit Verve Mitglieder der Staatskapelle.


Impulsiv

Daniel Barenboim feiert heute seinen 70.Geburtstag mit einem Konzert in der Philharmonie

15.Nov. 2012

Überlebensgroß: Daniel BarenboimPersönlich traf ich Daniel Barenboim erstmals im Frühjahr 1990. Für die Schallplatte produzierte er mit den Berliner Philharmonikern und dem Chor der Ostberliner Staatsoper einen „Parsifal“. Abends war Gelegenheit zum Gespräch. Höchst einprägsam, was er sagte über deutliches Artikulieren in der so konsonantenreichen deutschen Sprache; wie er analytisch Partituren lerne; wie er durchs gleichsam innere Vor-Hören die Interpretation steuere. Meine Bewunderung kühlte ab, als Barenboim zum GMD und zunächst auch Künstlerischen Leiter der Staatsoper berufen wurde. Einige Umstände der „Abwicklung“ des alten Ensembles waren recht unschön. Auch bekam er als Orchesterleiter lange Zeit die akustische Balance im Haus zwischen Bühne und Graben nicht in den Griff. Sein impulsiver Dirigierstil wirkte unbeherrscht. Unbestritten sein Verdienst, die traditionsreiche Staatskapelle wieder zu einem bedeutenden Orchester der Welt geformt zu haben.

Siebzig Jahre ist Daniel Barenboim jetzt alt. Immens das Pensum, das er bestreitet als Pianist, als Dirigent. Und nicht nur in Berlin. An der Mailänder Scala wirkt er seit 2007 zusätzlich als „Maestro Scaligero“ und jetzt auch Musikdirektor. Verzettelt er sich? Die Zusammenarbeit beider Opernhäuser hat bislang kaum Früchte getragen. Der gemeinsam mit Mailand produzierte und im kommenden März zu vollendende „Ring“ ist schon jetzt ein Flop. Geradezu dilettantisch die szenische Aufbereitung. Bei der jüngsten „Siegfried“-Premiere stimmte nicht einmal mehr die Sängercrew, was auch abfärbte aufs Orchester. Es klang müde, ohne Biss. Einmal mehr zeigt sich, wie Musik und Szene im Theater einander bedingen. Zumindest seit Bayreuth weiß Barenboim das. Szenische Inspiration beflügelt Spontaneität, und Wagner ist Theatermusik par excellence.

Märchenhaft klingen die Daten seiner frühen Karriere: Klavierunterricht zuhause, erstes öffentliches Auftreten als Pianist mit sieben Jahren in seiner Geburtsstadt Buenos Aires. Mit elf Jahren Teilnahme an der Dirigierklasse von Igor Markevitch in Salzburg. 1954 das legendäre Vorspiel dort bei Wilhelm Furtwängler, erste Plattenaufnahmen, Kompositionsstudien bei Nadia Boulanger in Paris, ab 1967 die dirigentische Karriere weltweit. Aus seiner Pariser Zeit bewahrt hat er sich eine gewisse Nähe zur zeitgenössischen Musik. An der Berliner Staatsoper hat er, neben anderen Werken, die einzige Oper des vor wenigen Tagen im Alter  von 103 Jahren verstorbenen Elliott Carter „What next?“ uraufgeführt. Mit Pierre Boulez verbindet ihn eine langjährige Freundschaft, viele seiner Orchesterwerke hat er dirigiert. Mit Boulez gemeinsam als Dirigent erarbeitete er einen zehnteiligen Mahler-Zyklus. Auf die Oper indes, die er bei dem Freund schon in den ersten Berliner Jahren bestellte, wartet er noch heute.

Zyklen liebt Barenboim besonders: Mozart, Beethoven, Schumann, Wagner, Bach, Berg. Dass bei dem Wagner-Gesamtzyklus mit Harry Kupfer als Regisseur, den er anfangs an der Staatsoper herausbrachte, nicht alles rund lief, liegt in der Sache selbst. Man kann sich in einem Thema auch erschöpfen. Barenboims Engagement für die palästinensisch-israelische Aussöhnung als Ausweichen zu betrachten wäre indes falsch. Barenboim denkt politisch. Am Sonntag nach der Maueröffnung 1989 gab er in Berlin mit den Philharmonikern spontan ein Sonderkonzert für DDR-Bürger. Die Gründung des East-Western-Divan-Orchesters 1999 mit dem Palästinenser Edward Said war ihm ein Bedürfnis, das erste Konzert mit diesem Ensemble in Ramalla 2005 historisch. Und nicht müde wird er zu werben für Wagner-Aufführungen in Israel.

Barenboim ist heute eine zentrale Institution im internationalen Musikkosmos, endlos die Liste der Ehrungen. Darunter sind höchste Staatspreise aus England, Frankreich, Deutschland, Japan und von den Vereinten Nationen, der Ehrendoktorhut in Oxford, der Siemens- und der Karajan-Musikpreis. Barenboim ist Ehrendirigent des Chicago Symphony Orchestra, Dirigent auf Lebenszeit „seiner“ Staatskapelle, mit der auch bei einem Konzert in der Philharmonie mit ihm am Klavier und Zubin Mehta am Pult seinen Geburtstag feiert. Aus Israel, wo er einige Zeit lebte und arbeitete, sind allerdings kaum Ehrungen bekannt. Auf die wartet er auch nicht. Im Gegenteil sagte er in einem Interview anlässlich seines Geburtstags: Es sei „alles andere als Luxus, wenn man sich weigert, die dumme Politik von Herrn Netanjahu zu unterstützen, so, wie Deutschland es macht, immer noch aus einem historischen Schuldgefühl heraus. Besser wäre es, den Juden zu helfen bei den Problemen, die sie heute mit den Arabern haben.“ Und wenn sein Freund Stéphane Lissner, der Scala-Intendant, demnächst zur Pariser Bastille-Oper wechselt – wird Barenboim, der einst selbst dort Chef werden sollte, ihn dorthin begleiten?


Desolate Bühnenshow

„Siegfried“ zum Fürchten-lernen von Cassiers mit Barenboim

03.Okt. 2012

Die Flimmsche Staatsoper fällt immer weiter zurück. War schon der Auftakt zur neuen Saison in der Werkstatt kein künstlerisches Ruhmesblatt – die Fortsetzung des Wagnerschen „Ring“ mit „Siegfried“ ist ein Debakel. Dass man die Inszenierung von Guy Cassiers abschreiben kann, sah man schon im „Rheingold“: Video-Geflimmer auf der Rückwand und ein bisschen Steh- und Sitztheater davor. Musikalisch gab es aber immerhin unter Daniel Barenboims kundiger Leitung immer wieder Entdeckungen.

Beim „Siegfried“ verheißt nicht einmal das mehr ästhetischen Gewinn. Ich weiß nicht, wer die Sänger einkauft in dem Haus, aber außer Tomaten auf den Augen hat man jetzt offenbar auch Tomaten auf den Ohren. Lance Ryan ist ein zwar jugendlich forscher aber gänzlich ohne Stimmkultur draufängerisch singender Siegfried. Peter Bronder als huckliger Zwerg Mime, quäkst aber mehr als er singt. Und Juha Uusitalo als Wanderer verjammert jeden Ton, trifft kaum einen sauber. Danach hat’s mir gereicht und den Rest dieses „Siegfried zum Fürchten-lernen“ habe ich mir geschenkt.

Zumal auch Barenboim merkwürdig uninspiriert im Graben agierte – aber vielleicht ist das ja kein Wunder bei einer so desolaten Bühnenshow. Dazu Kostüme (Tim van Steenbergen) wie aus der Makart-Rumpelkammer. Schade um die vielen in den Sand gesetzten Euro-Millionen. Aber warum muss jedes Theater auch fürs „Wagner-Jahr“ sich einen neuen „Ring“ basteln? So viele geeignete Sänger gibt’s doch gar nicht, und so viele neue Ideen auch nicht – zumal wenn man partout in der falschen Regie-Schublade kramt.


Heiß?

Mit Friedrich Goldmanns „R.Hot oder Die Hitze“ eröffnet die Staatsoper in der Werkstatt

22.Sept. 2012

Spielzeitstart an der Staatsoper – man beginnt fast schüchtern in der Schiller-Werkstatt. Immerhin hatte man sich besonnen auf ein Werk aus den Jahren 1973/74, das, 1977 im Februar uraufgeführt im Apollosaal der Staatsoper, damals für einigen Wirbel sorgte.

Es war die erste Oper eines der führenden jungen Komponisten der DDR, Friedrich Goldmann (1941-2009). Und es war die erste größere Inszenierung von Peter Konwitschny. Eigentlich sollte Ruth Berghaus das in Szene setzen. Wegen ihrer Probleme damals als Intendantin des Berliner Ensembles überließ sie die Produktion ihrem damaligen Assistenten.

Auch inhaltlich war diese „Opernfantasie“ nach einem Text von Jacob Michael Reinhold Lenz im Libretto von Thomas Körner ein Balanceakt. Es geht um Gehorsams-, Wehrdienstverweigerung: Ein junger Mann, ein adeliger Engländer, desertiert aus Liebe zu einer Prinzessin von der Armee. Sein Vater will ihn zum Gehorsam zwingen mit der Lüge, die als unnahbar geltende Prinzessin heirate einen anderen. Es kommt zum Eclat – und zum Kitsch-Happyend.

Angestiftet von den Autoren versuchte der damalige Staatsopern-Intendant Pischner mit einigen Tricks die Zensur und das wahrscheinliche Verbot des Werks durch die staatlichen Stellen zu umschiffen. Kurzerhand verlegte man die Premiere um zwei Wochen vor. Mit einigem Zittern ging die Premiere auch über die Bühne. Selten genug wurde das in über hundert Posen gegliederte Stück später nachgespielt. Bei der Westpremiere machte Librettist Körner den Abflug.

Seine politische Brisanz hat das Stück längst eingebüßt. Die Regisseurin jetzt, Isabel Ostermann, musste einen anderen Weg versuchen. Viel Glück hat sie nicht. Statt Affront gegen die Staatsmacht lässt sie zu Beginn einen reichlich verstaubten Text über das Politische bei der Kindererziehung von Ulrike Meinhof rezitieren. Zwischen den (eigentlich unnötigen) Umbaupausen werden weitere Texte, unter anderem von Jacob Michael Reinhold Lenz, eingesprochen.

Als Höhepunkt am Schluss wird dem Robert Hot von den „Vätern“ eine junge Frau zugeführt, deren Jungfräulichkeit zuvor handgreiflich überprüft, die wie eine Hure grell geschminkt und dann in Hots Verlies hinab gelassen wird. Dass sie dort mit dem zugeteilten Liebhaber fremdelt, kein Wunder. Der macht sich zu dem berühmten Kinderkitsch-Schlussgesang „Behaltet euren Himmel für Euch“ allein auf ins Weite.

Torsten Süring gibt den auf seine 1-qm-Zelle einge-eng-ten Eng-Länder mit etwas überdrehten Gesten, Paradieren im Quadrat und dann auch mal Video-Spielchen. Narine Yeghiyan konnte, verursacht durch einen Fahrradunfall, die Prinzessin nur von der Seite singen und leider etwas verwaschen in der Diktion, die Regieassistentin mimte das Szenische. Aber viel zu spielen hatte die nicht. Statisch-dürr, nach Art von Windows-Kacheldesign mit hinter Gazeschleiern sich öffnenden Kabinen ging‘s da auf und zu.

So blieb das Ganze bloß eine ganz und gar nicht „heiße“ Pflichtübung, mehr zerdehnt als zugespitzt – trotz des unter Max Renne engagierten Spiels von Mitgliedern der Staatskapelle. Gemessen an dem Aufwand, den die beiden anderen Opernhäusern der Stadt vorlegten, ein ziemlich dröges Unterfangen.

Fotos: auf der Webseite der Staatsoper

Barenboim YouTube Boulez-Saal