Ein
etwas schmieriger Theaterdirektor führt den genialen Komponisten
Henri ein. Bisher habe er vor allem Vorträge gehalten, aber nun
solle er auch mal sein kompositorisches Können zeigen. Eine Oper
will er von ihm komponiert bekommen. Aufwand, Geld, Zeit – kein
Limit. Aber es müsse eine „Faust“-Oper sein. Der Komponist geht nach
einigem Zögern darauf ein, hält aber zuerst einen weiteren Vortrag
über serielle Musik. Deren Parameter Tonhöhe, Dauern, Artikulation,
Dynamik schreibt er an eine Tafel. Und lispelt dann, überlagert von
Stimmen aus den Lautsprechern, weitere musikalische Schulweisheiten
in den Raum, zugleich ausgerechnet G-Dur-Akkorde aufmalend.
Ein bisschen wie eine Schulveranstaltung beginnt dieser Abend – und
geht dann leider auch so weiter. Im späteren Verlauf soll das
Publikum per Abstimmung mit einem Holz-Ei „entscheiden“, wie es
weiter geht in der Oper, ob sie ein glückliches Ende nehmen soll
oder ein höllisches. Musik-Akzent In den 1960-iger Jahren
entwickelten der Komponist Henri Pousseur und der Autor Michel Butor
dieses „variable Spiel in Art einer Oper“. Es war die Zeit, in der
sogar die Musikszene sich immer mehr abkapselte in ihre
Glasperlenspiele. Mit „Votre Faust“ – Ihr Faust – sollte das
Publikum herausgelockt werden aus seiner passiven Konsumenten-Rolle
als Zuschauer, sollte einbezogen werden. Es sollte mitbestimmen,
welchen Verlauf eine Geschichte nimmt. Demokratisch – oder doch nur
pseudo-demokratisch? Mit lärmenden Glöckchen, die in der zweiten
Hälfte verteilt werden, konnte es „abstimmen“, ob eine Szene
weitergespielt oder abgebrochen werden sollte und stattdessen in
eine andere Richtung gespielt werden würde – wobei das „Lärmo-Meter“
auch nur manipulativ von einem Spielmacher per Hand bedient wurde.
Bei der von mir besuchten dritten und letzten Vorstellung im
Berliner Radialsystem intervenierte das Publikum ziemlich schnell
und heftig, erzwang eine Wendung zum für Henri freundlichen Ende. Er
braucht keine Oper zu schreiben, kann mit seiner geliebten Maggy ein
Häuschen mit Garten beziehen und den schmierigen Theaterdirektor
Mefisto sein lassen. Der zeitliche Ablauf war da allerdings nach
fast vier Stunden schon völlig aus dem Ruder gelaufen. Das Publikum
hatte schon vielfach mit den Füßen „abgestimmt“ und war – wie Henri
– entfleucht. Die große Pause, bei der es auf die Spielfläche
durfte, Suppe in Plastikbechern oder zu Trinken aus einem Brunnen
verabreicht bekam, oder kleine Einsätze für ein Wettspiel wagen
konnte, nützte da nichts. Auch nicht der von Mozart entlehnte, zur
Hölle fahrende Don Giovanni. Und die zur Animation eingesetzten
Tiere – Hühner und Zicklein, vollbiologisch natürlich – konnten
einem eher leidtun.
Die ästhetische Öffnung, die Pousseur vorschwebte, hat sich heute
auf ganz andere Weise ihren Weg gebahnt. Das „anything goes“ hat
keinen Ort kritischer Intervention mehr. Und mit
Laienveranstaltungen auf dem Theater ist man ja mittlerweile nun
auch reich gesegnet. Zu einer solchen entglitt die von dem Basler
Intendanten Georges Delnon und Aliéanor Dauchez gestaltete mit
fahrbaren Wägen konzipierte Bühne zunehmend. Daran konnten auch der
Dirigent Gerhardt Müller-Goldboom und seine bestens vorbereiteten
Musiker von „work in progress“ sowie die Vokalisten von
„Vocalconsort Berlin“ nichts ändern. Das historische Umfeld dieses
„Work in Progress“ bleibt fern. Es lässt sich nicht rekonstruieren.
Oder man muss ein ganz neues erfinden, was hier nicht gelang,
vielleicht nicht mal angestrebt war.
So kennt man das Bachsche Weihnachtsoratorium wirklich nicht. Eine Kinder-Gruppe auf dem „Deck“, der hoch oben gelegenen Freiterrasse des Berliner Radialsystems, sucht rhythmisch fugiert nach dem neugeborenen König der Juden: „Wo, wo, wo ist der neugeborene König?“ Erspähen kann man auf der anderen Seite der Spree eine rot leuchtende Hütte und ein Auto mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Über Lautsprecher hört man Murmeln aus der Johannespassion.
Der nächste Raum bei dieser Kalvarienberg-Suche nach dem Jesuskind führt in ein düsteres Beduinenzelt, wo zwei Kinder, denen wir noch öfters unliebsam begegnen werden, den Evangelien-Text der Rezitative radebrechen und Schachteln umschichten. Dann ein Raum, vielleicht der witzigste, gebaut wie das Triangel-Logo einer bekannten Bank mit Damen und Herren Sängern und Instrumentalisten hinter den breiten Tresen, die Gott preisen für ihre dicken Schecks, wobei die Musik immer löchriger wird.
Schließlich steigen wir wieder hinab. In einem großen Dunkelraum wird die berühmte Echo-Arie gegeben. Allerdings gemixt mit dem Redeschwall einer schauspielernden jungen Frau, die als wandernder Geist mit Stirnleuchte apokalyptische Texte rezitiert – gnädig überdeckt dann von eindringenden chorisch-instrumentalen himmlischen Heerscharen, die die Suada von Peinlichkeiten schlucken („…wir suchten Gott, aber übersahen das Röcheln…“).
Wir haben die ersten zwei Stunden dieser un-weihnachtlichen Session mit szenisch ummantelten Fragmenten aus dem Bachschen Oratorium, den nachweihnachtlichen Kantaten, überstanden. Es gibt Suppe, Schmalzstullen und Getränke. Einige Leute machen sich - berechtigterweise - auf den Heimweg. Dann wird man in den großen Saal gebeten. Chor, Kinderchor, Solisten und Orchester erwarten schon bunt geschmückt die Besucher. Und es geht dann auch in etwa so los, wie man das Weihnachtsoratorium kennt.
Freilich haben wir die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Bei der Alt-Arie „Bereite dich Zion“, mit pathetischem Vibrato gesungen und geschauspielert, betätigt sich einer der zuvor schachspielenden Jungs als taumelnder Radschläger, desgleichen bei der Bass-Arie „Großer Herr“ der andere Knabe. Die zarte Hirtenmusik der zweiten Kantate wird überschrien von der Schauspielerin mit Traktaten über Architektur, die man nicht mal akustisch versteht. Das Ensemble löst sich fast auf, verschiebt sich zur Seite. Der Kinderchor begrüßt den Abmarsch der Hirten nach Bethlehem mit zerplatzenden Luftballons.
Das musikalische wie szenische Unvermögen steigert sich, wenn Kulissenteile zu einer Art Gletscher-Schräge montiert werden und die Schauspielerin sich daran abmühen muss. Tja-ja, fast vergessen, die Umwelt. Schließlich – nach mehr als vier Stunden quälendem Hangeln durch Brocken des Weihnachtsoratoriums sind die vier Bauer-Brüder mit Jazz dran. Es gibt Freibier für alle, wobei das Haus spart: der Saal hat sich stark gelichtet.
Lebenshilfe, eine Suche nach „Momenten, in denen Glaube, Liebe Hoffnung möglich wird“ ward versprochen von der Gruppe NOVOFLOT und ihrem Regisseur Sven Holm. Es scheint, die Gruppe braucht selber Hilfe – dringend, und zwar an künstlerischer Sensibilität. Und die dies finanzierende Kultur-Stiftung des Bundes sollte vielleicht etwas wählerischer sein. Immerhin gibt sich Vicente Larrañaga am Pult mit manchmal allerdings zu flotten Tempi Mühe um ein wenigstens mittelmäßiges musikalisches Niveau. Die Sänger helfen ihm dabei leider fast nicht.
Die Idee klingt ja schick, wenn auch nicht umwerfend neu: Die alten
Mythen immer wieder zu befragen auf ihren realen Kern. Etwa die
Geschichte der Lucretia, die von einem römischen Wüstling vergewaltigt
wurde. Und nun ringt sie mit dem Gedanken an Selbstmord.
Oder die Geschichte der Clori. Ihr hat der Tod einfach den Geliebten
geraubt. Nun überlegt sie, ob sie ihren Tirsi im Hades suchen und mit
ihm in den Elysischen Gefilden das nachholen soll, was ihr im Leben
versagt geblieben ist.
Schließlich Armida. Sie hat lange ihren Geliebten vor Verfolgern
versteckt. Nun ist der auf und davon, hat sie verlassen. Was soll sie
tun? Sich an ihm rächen?
„Waiting Room“, neuhochdeutsch für Wartezimmer, nennt sich die
Produktion, die die hoch renommierte Berliner „Akademie für Alte Musik“
aus drei Kantaten Georg Friedrich Händels für eine Koproduktion mit dem
Grand Théâtre de la ville de Luxembourg zum Europakulturstadtjahr
initiiert hat.
Rezitative und Arien der drei Händel-Kantaten werden ineinander
geschnitten. Die drei Sängerinnen der mythischen Figuren treffen sich
gleichsam im Vorzimmer einer Psychodoktorin, um sich über ihren Schmerz
auszutauschen und vielleicht darüber hinweg zu finden.
Eine Polstersitzgruppe in der einen Ecke, ein Tisch in der anderen, ein
Schrankbett und ein Kühlschrank mit auch Hochprozentigem sind das karge
Mobiliar. Dazu ein weißer Wollteppich mit einer geheimnisvollen Höhlung
darunter, am Ende von Blumen bekränzt.
Die Psychodoktorin kommt herein durch die Tür in Gestalt einer Tänzerin,
um zu dazwischen geschobenen Soundcollagen die Frauen von ihren inneren
Qualen zu befreien. Und das ist mit von Szu-Wei Wu noch fast das Beste
des Abends.
Am Ende wird Lucretia sich das schon gezückte Messer von den beiden
anderen Frauen entwinden und zu Bett bringen lassen. Armida wird ihr
dunkles, strenges Kostüm abstreifen und ein helles Shirt sich
überziehen, und Clori wird ihrem Tirsi folgen nach draußen.
Oder so ähnlich. Genaueres erkennt man in dieser szenisch nur sehr
ungefähren Aufführung nicht.
Vorgeführt wird das im noch von frischer Farbe duftenden großen, aber
auch etwas halligen Saal des erst im September eröffneten
„Radialsystem“, jenem alternativen Kulturzentrum am Berliner Spreeufer,
schräg gegenüber dem Ostbahnhof, wo Akademie für Alte Musik und Sascha
Waltz-Truppe sich ein eigenes Domizil geschaffen haben.
Ein Aushängeschild für diesen Ort ist diese Produktion allerdings nicht.
Musiktheater-Regie, wie in den Vorankündigungen versprochen, findet hier
nicht statt.
Außer Abläufen hat der dafür im mehr als kärglichen und dazu ungenauen
Programmzettel genannte Derek Gimpel wohl nichts arrangiert. Er lässt
die drei Sängerinnen einfach um sich selber kreisen oder gelegentlich
mal gedankenvoll zur seltsam kunterbunt illuminierten Decke blicken.
Nicht einmal die Sängerinnen zeigen das versprochene hohe Niveau.
Allenfalls Ruth Sandhoff als Armida kann darstellerisch und sängerisch
einigermaßen überzeugen. Ohne Tadel lediglich die Akademie für Alte
Musik unter der Leitung von Christopher Moulds am Cembalo.
Was die Kulturstiftung des Bundes dazu treibt, ein solches Projekt zu
unterstützen, ist kaum nachzuvollziehen. Da scheinen die Richtlinien
doch stark überprüfenswert. Dass das Publikum am Ende applaudierte, ist
wohl vor allem dem Orchester zu verdanken.
Als neuartig „ungewöhnlicher Musiktheaterabend“, wie angekündigt, ist
dieser „Waiting Room“-Kieztheater-Hybrid von mehr als zweifelhaftem Wert.
Der Name ist so historisch wie das Gebäude. Mit „Radialsystem“ bezeichnete man einst ein Umwälzverfahren in der Klärtechnik. Nun soll in dem Gebäudekomplex in der Nähe des Berliner Ostbahnhofs der Kunstbetrieb umgewälzt werden. Am 9.September beginnt's mit einer Bespielung im ganzen Haus.
So der Architekt Gerhard Spangenberg, der den Komplex entdeckt und
entwickelt hat.
Vor über hundert Jahren entstand das Pumpwerk an der Spree, im Krieg
wurde es teilweise zerstört, dann still gelegt. Seit knapp zwei Jahren
nun planen Jochen Sandig, Dramaturg von Sasha Waltz, und Folkert Uhde,
Manager der Akademie für Alte Musik, an der neuen Kulturfabrik.
Zusammengeführt hat sie die gemeinsame Arbeit an der
Opern-Tanztheater-Produktion von Henry Purcells „Dido
und Æneas“, die
sie im Januar vor einem Jahr an der Berliner Staatsoper und an mehreren
anderen Theatern zeigten; aber auch ihre Erfahrungen in einem öffentlich
subventionierten Betrieb.
Den historischen Gebäudekern hat Architekt Spangenberg ergänzt um einen
funktionalen Bügelbau. Das variable Raumkonzept bietet Platz für zwei
Hallen in der ehemaligen Maschinenhalle mit 600 qm und im ehemaligen
Kesselhaus mit 400 qm.
Dazu kommen drei Studios, eine überdachte Terrasse hin zur Spree mit
späterem Bootssteg, zahlreiche Funktionsräume und eine variable
Gastronomie. Insgesamt 3.000 qm, die freilich nicht nur genutzt, sondern
auch finanziert sein wollen.
Zwar schwebt den Betreibern eine Art „Akademie“ vor, in der die
unterschiedlichen Künste – Musik, Tanz, Bildende Kunst und Neue Medien –
in einen Dialog treten.
Aber auch Symposien, eine Tanz- und eine Theaterakademie für Kinder –
zum Teil in Zusammenarbeit mit der Ruhrtriennale – sind geplant,
Sonntag-Nachmittage für die ganze Familie und internationale
Koproduktionen wie eine Opern-Tanztheater-Produktion mit der Kulturhauptstadt
Luxemburg 2007, Cherubinis Medea.
Sasha Waltz und Company proben hier schon und werden
auch mit der Fortführung der „Dialoge“ die erste Uraufführung
bestreiten. Die Akademie für Alte Musik will auch etwa nächtliche
Konzerte veranstalten, bei denen das Publikum die Musik liegend genießen
darf.
Oder man will das Haus für Off-Gruppen wie die „Zentrale Intelligenz
Agentur“ öffnen. Aber auch der Wirtschaft will man das in der Nähe von
Universal Musik und MTV im sogenannten „Media Spree Center“ gelegene
Gebäude zur Miete anbieten. Die Nachfrage ist wohl schon rege.
Finanziert hat das zunächst eine Bochumer Vermögensverwaltung mit 10 Mio
Euro. Die Betreiber zahlen eine monatliche Miete von ca. 30.000 Euro, dazu
kommen die laufenden Kosten. Öffentliches Geld gibt es (bislang) nicht,
und wird auch nicht erwartet.
Immerhin die Bühnentechnik wurde mit 1,2 Mio aus Lotto-Mitteln
gestiftet. Ob es den beiden Gesellschaftern dennoch nicht manchmal
mulmig wird?