Er
ist gleichsam die thematische Klammer dieses Musikfests:
Wolfgang Rihm. Im kommenden März wird er 60. Unter dem
Schlagwort „postmodern“ sorgt er seit über dreißig Jahren für Neues auch
in den tradierten Konzertprogrammen. Mal großformatig als Aufriss eines
Straussschen Heldenlebens, wie hier in „Verwandlung 3“, mit dem das
Philadelphia Orchestra unter Charles Dutois grandios den offiziellen
Auftakt zu diesem Musikfest gab, mal verhalten verinnerlicht mit nur
wenigen gezielten Ausbrüchen, wie in seiner Requiem-Version „Et lux“.
Das Huelgas Ensemble, begleitet vom Minguet Quartett, blendete damit am
Vorabend des Musikfests in der Gethsemane-Kirche zurück auf den Ursprung
der Musik, die menschliche Stimme, und die Wiege der Mehrstimmigkeit in
den Mess-Kompositionen des 15.Jahrhunderts.
Die Koordinaten dieses 5.Musikfests Berlin bestimmen zwar kalendarische Daten, diese werden aber auch inhaltlich gedeutet. Im Oktober begeht man den 200.Geburtstag von Franz Liszt, dessen Musik durch den Missbrauch der Nazis lange verpönt war. Inzwischen erkennt man deutlicher auch die zukunftsweisenden Momente dieses mit seinem Schwiegersohn Richard Wagner als „Zukunftsmusiker“ gepriesenen oder angefeindeten Komponisten und Pianisten. Winrich Hopp, der findige Programmtüftler des Musikfests, will Liszt denn auch vor allem reklamieren als den Komponisten im 19.Jahrhundert, der das Klavier als gleichsam universelles Schlagwerk-Instrument entdeckte und ihm bis dahin ungekannte Seiten abgewinnen konnte – im Gegensatz zu Wagner, der seine Ästhetik aus dem Atem der Stimme, des Gesangs entwickelte.
In solchen Kontrasten und Überschneidungen ist das Programm aufgebaut. Und für das andere Ende des Bogens soll auch Luigi Nono stehen, der die Instrumental-Musik mit seinem ins Mikrotonale vorstoßenden „Prometeo“ gleichsam zur vox humana, zur menschlichen Stimme, auffächerte. Eine Hommage wird ihm am Schluss des Musikfests gewidmet sein. Wolfgang Rihm hat viel mit Nono zusammengearbeitet und dabei einiges gelernt für die Verfeinerung seines instrumentalen Komponierens – wie in einer Matinee mit dem Klarinettisten und Komponisten Jörg Widmann deutlich wurde. Widmann spielte da von Rihm „Stücke für Klarinette in A“, die ganz aus dem Atem des Instrumentalisten erklingen sollen; und Widmann kontrastierte sie mit dem eigenen 3.Streichquartett, das umgekehrt der als gepflegte Unterhaltung geltenden Gattung rauere Töne einschreibt. Und ähnlich kontrastierend, um das Gegensatzpaar instrumental-vokal kreisend, auch das Klavierrecital von Pierre-Laurent Aimard.
Bei Aimard lernte man den späten Liszt kennen, über dessen Sich-vor-Tasten in neue Regionen des Ausdrucks Richard Wagner eher abschätzig als Geklimpere zu sprechen pflegte. „La lugubre gondola“, die schaurige Gondel, nannte Liszt ein Stück, das 1885, zwei Jahre nach Wagners und kurz vor dem eigenen Tod entstand, und das vorausweist auf Debussy. Erweitert um andere Lisztsche Gelegenheits-Kompositionen und gemischt mit Sonaten von Alban Berg und Alexander Skrjabin, wird an der Harmonik oder Tektonik der Blick Liszts in die Moderne klarer. Aber zumal auch im Kontrast zu einem Albumblatt Richard Wagners, das der seiner nicht nur heimlichen Geliebten Mathilde Wesendonck widmete. Obwohl diese Züricher „Tristan“-Zeit Wagners radikalste war, ist diese Musik noch ganz dem schwelgerischen „Lohengrin“-Ton verhaftet.
Unhörbar leise beginnt das. Vier Cellisten sitzen hinter röhrenartigen Gazevorhängen, spielen Flageoletts am Steg. Auf die Gaze werden dann, immer mehr sich verdichtend, Punkte und Streifen projiziert. Die Geräusche werden fast ohrenbetäubend laut. Auf der Projektion erkennt man kristallartige Gebilde. Dann schwindet alles wieder ins Nichts. Eine Installation von Justè Jamulytè: „Sanduhren“.
Eröffnet
worden war das Festival mit einer Raummusik. Rebecca
Saunders hatte in „Chroma XV“ kleine Gruppen von Musikern und
Solisten in den Räumen des Café Moskau verteilt. Nähe und Entfernung von
Klängen sollen ergehbar werden. Vor hundert Jahren hatte das Eric Satie
schon ausprobiert in seiner „Musique de ameublement“. Die Provokation
von einst wird hier zum Raumdesign. Einen „Instrumentenpark“ hat
Enno Poppe entwickelt mit seiner Bühnenmusik für 200
Instrumente, bei der Klangerzeuger der verschiedensten Art zum Einsatz
kommen vom leeren Benzinkanister bis zum Kontrabass. Unterstützt auch
von Synthesizern älterer Bauart und mit Beleuchtungs-Akzenten szenisch
aufgepeppt, geriet das in den Proportionen etwas unausgegoren. Und auch
der wohl witzig gemeinte Titel „Tiere sitzen nicht“ entstammte eher dem
Nonsens-Bereich.
„Klang-Bild-Bewegung“ ist das Motto der 10.MaerzMusik. Man will die neue Musik gern aus ihrer vermuteten Erstarrung befreien. Manches gerät dabei zur Mogel-Packung, wenn etwa in einem als „szenisch“ angekündigten Konzert des Ensembles „ascolta“ die Musiker unmotiviert sich gegenseitig vom Instrument schubsen, zum Opernglas greifen, oder durch Lichtwechsel Pseudodramatik erzeugt wird. Auch das finnische „Plus Ensemble“ mit Perttu Haapanens Monodram „Nothing to declare“ hatte kaum Relevantes zu bieten: Ein grimassierend-chargierender Sänger, der sich mit absurdem Theater von vorgestern abmüht, dazu drei Musiker in gelben Anzügen mit Notenaufdruck, die sich hin und wieder von ihren Sitzen erheben und Kartons über die Köpfe stülpen.
Bei Bernhard Lang weiß man, was man erwarten darf: musikalische Kleinstformeln, ins Unendliche repetiert und leicht variiert, gemischt mit elektronischem Sound, der, anfangs fast hypnotisierend wirkend, dann aber doch zur sanften Brise sich ausfächelt. Da ist „Licht-Zeiten“ von Michael Wertmüller und Lillevan, eine Live-Musik-Show mit Video, von härterem Zuschnitt. Der Ort, ein ausgedientes Kraftwerk an der Spree, der „Trafo“ – er wirkt wie eine Kathedrale. Wertmüllers Musik ist vom Jazz und der Sinfonik Kurt Weills beeinflusst. Die mit viel Vorschusslorbeeren bedachte Video-Einzelbelichtung der jeweils agierenden 12 Musiker indes ist eher ein Witz. Design ersetzt hier die Frage nach dem Sein, wie so oft bei dieser MaerzMusik.
Nein, der stärkste Jahrgang war diese Jubiläums-Zehnte nicht. Und unklar ist, wie es mit dem Festival weitergeht; die Festspiele bekommen im Herbst einen neuen Intendanten. Was jedenfalls heuer als großes Plus angepriesen wurde, die Vernetzung gleichgerichteter Veranstalter im „Réseau Varèse“, erwies sich als allenfalls Kosten-Bremse. Neue Konzepte förderte sie nicht.Schon das Festival-Motto „Klang-Bild-Bewegung“ deutete eher auf Ratlosigkeit. Multimediales gehört zur Musik seit mindestens dem vergangenen Jahrhundert.
Immerhin, es gab neue Musik-Untermalungen zu alten bis sehr alten Filmen. Aber die MaerzMusik will ein Festival „aktueller Musik“ sein. Und mit ihrem Namen bezieht sie sich ja immerhin auch auf Kurt Schwitters. Da wäre die Wiederaufführung eines Werks von Mauricio Kagel von anno 1975, „Mare nostrum“, über die Entdeckung, Befriedung und Konversion des Mittelmeerraums durch einen fremden Stamm, vermutlich zeithaltiger gewesen als all die hier präsentierte video-logisierte Kleinmeisterei.
Es ist wie ein Eintauchen in die jüngere Vergangenheit, Spurensuche in Sachen neue Musik. Und Pierre Boulez, inzwischen 85 Jahre alt, ist einer ihrer letzten lebenden Repräsentanten. Nicht nur als Komponist war er präsent bei diesem Musikfest Berlin, sondern auch mit dem von ihm vor 33 Jahren gegründeten IRCAM, dem Institut für musikalische Recherchen und Akustik, und persönlich als Dirigent. Wie etwa mit „….explosante-fixe…“, einer Musik zwischen ekstatischer Erregung und einer an Wagners „Tristan“ erinnernden Klanglichkeit.
„….explosante-fixe…“ ist eine Art Huldigung an Igor Strawinsky,
dessen Musik für Boulez ebenso prägend war wie die der Schönberg-Schule.
Und wie meist bei Boulez, der ursprünglich nach dem Willen des Vaters
Mathematiker hätte werden sollen, liegt dem Stück ein literarischer Text
als Bezugspunkt zu Grunde. Allerdings handelt es sich um keine direkte
Textkomposition wie etwa bei „Le Soleil des eaux“ nach René Char.
Ursprünglich war das eine Hörspielmusik zu einem ökologischen Lehrstück
über die Verunreinigung von Wasser durch eine geplante Gipsfabrik. Die
Erst-Fassung datiert von 1948, hier in der „üppigeren“ Fassung von 1965.
Was überhaupt auffällt an dieser Musik der 1950-iger und -60iger Jahre sind die großen Apparate, für die sie entstand. Kaum ein Komponist heute würde noch wagen, für derart große Live-Ensembles zu schreiben; den Part muss nun meist die Elektronik übernehmen. Ein Luciano Berio, der zweite große Name dieses Musikfests – im gleichen Jahr 1925 wie Boulez geboren, 2003 in Rom gestorben –, Berio bewegte in einigen seiner Werke Musikermassen von Mahlerschem Umfang, etwa in seiner Mahler direkt auch zitierenden „Sinfonia“. Oder er mischte in „Coro“ geschickt menschliche Stimmen und Instrumente, wobei jedem von 40 Vokalsolisten je ein Instrumentalist zugeordnet ist.
Das aus den 1970-iger Jahren stammende Werk zeigt aber auch schon den Einfluss der damals aufkommenden Pattern Music, ständig wiederholte rhythmische Muster, die durch ihre Repetition einen inneren Sog ausüben. Im Unterschied zu dem eher hermetischen Boulez war der Italiener Berio sehr viel offener gegen äußere Einflüsse. Anders als Boulez, der in seinen frühen Jahren als musikalischer Leiter der Schauspieltruppe von Jean-Louis Barrault ausgedehnte Reisen außerhalb Europas unternommen und die jeweilige indigene Musik studiert aber in seinem Werk weitgehend verleugnet hatte, war Berio auch hier sehr viel zupackender. Nicht nur hat er in „Coro“ Texte aus sehr entfernten Kulturen zwischen Polynesien und Europa verarbeitet. In seinen „Folk Songs“ von 1964 adaptierte er ganz direkt Lieder aus seiner und seiner Frau, der Sängerin Cathy Berberian, näheren und ferneren Heimat: Von Sizilien bis Aserbaidschan.
Einmal mehr glänzte das Musikfest durch seinen Facettenreichtum in Programmierung und Interpretation. Mit fast drei Wochen scheint es allerdings etwas auszuufern. Und auch massentauglich ist ein solches Programm nicht, trotz eingestreuter Abende mit Musik von Bach oder aus dem späten Mittelalter. Und als verbindendes Glied gab’s da noch Strawinsky, der von manchem Apologeten der Nachkriegs-Avantgarde gern als deren Antipode stilisiert wurde. Für Pierre Boulez war er das nie, sondern eine der Wurzeln der Moderne.
19.-28.03.2010
„Utopie [verloren]“ stand über der neunten Berliner „MaerzMusik“.
Themen für Festivals sind praktisch. Sie signalisieren ein
konzeptionelles Dach für die vielen unterschiedlichen Konzerte und
Performances. Und über Utopie nachzudenken lohnt sich, auch wenn es
wenig opportun scheint heute und es Völker gibt, für die Zukunft ein
Fremdwort ist – und die dabei vollkommen glücklich sind.
Ganz direkt instrumentiert wird das Festivalthema in Thomas Kesslers letztes Jahr in Weimar uraufgeführtem Orchesterstück „Utopia“, das jedem Musiker die Modulierung seiner Stimme an einem Laptop erlaubt. Mittelbarer ist das bei Klaus Huber angedacht in seinem religiös motivierten „Erinnere dich an Golgatha…“, einem an zarten Flageolett-Tönen reichen Kontrabass-Stück, gespielt vom Zürcher Collegium Novum. Um ihr Thema griffig zu bebildern, setzte die „MaerzMusik“ aber vor allem auf Musiktheatralisches. Aus Basel zeigte man mit viel Beifall Beat Furrers soeben uraufgeführtes „Wüstenbuch“ in Marthalers serialisierter Inszenierung. Daneben (aus Salzburg 2008) Salvatore Sciarrinos „Luci miei traditrici“ („Meine trügerischen Augen“) über des Renaissance-Fürsten und Komponisten Carlo Gesualdo da Venosa Eifersuchts-Mord unter Furrer am Pult und in dem szenisch nur bemühten Arrangement von Rebecca Horn.
Politisch korrekt buchstabierten die Komponistin Lucia Ronchetti und der Szeniker Michael von zur Mühlen das Thema. „Der Sonne entgegen“ heißt ihr ästhetisch eher zwiespältig stimmendes Opus. Man sieht eine mit viel Video-Material unterlegte tour d’horizon aktueller Themen von der Migranten- bis zur Klima-Problematik. Zwischendurch gibt es gut gemeinte Vorträge, eine Pseudo-Talkshow, mündend in einen appellartigen Aufschrei, der den Zuhörwilligen freilich endgültig abschalten lässt, zumal im ersten Drittel aber mit klanglich bemerkenswerten Akzenten. Um die Stalinsche Kulturpolitik kreisen die „Telegramme“, die William Kentridge als Studien für seine New Yorker Inszenierung von Schostakowitschs Oper „Die Nase“ in einem Zeichentrickfilm kompiliert hat. Ein Sprecher rezitiert dazu live ZK-Dokumente. François Sarhan, selbst der Rezitator mit Flüstertüte, hat eine „elektrisch“ klingende aparte Musik unterlegt, die das Iktus-Ensemble auf „strohig“ trockenen Streich- und Zupfinstrumenten mit Blechblas-Trichtern und einem Synthesizer spielt.
Mit arabischen Trauerritualen befasst sich die in Berlin lebende Schweizerin Mela Meierhans in „Rithaa“, dem zweiten Teil ihrer „Jenseitstrilogie“. Zusammengetan hat sie sich dafür mit der palästinensischen Sängerin, Komponistin und Ud-Spielerin Kamilya Jubran. Zwei Alphörner und eine hackbrettartige Santur gehören zum exquisiten Instrumentalensemble. Entstanden ist eine multimediale, manchmal jazzig swingende Mischung aus westlicher und nahöstlicher Moderne. Wie schwebend improvisiert klingt das, wenn Kamilya Jubran singt zu ihrer Ud. Beeindruckend auch die eingeblendeten Filmaufnahmen mit einem professionellen ägyptischen Klageweib, wie sie im steinigen Sand die Hände kreisen und den Staub auf ihr Kopftuch rieseln lässt. Und doch schien der erste Teil von Meierhans‘ Trilogie über innerschweizer Totenrituale packender.
Für mich der Höhepunkt des Festivals waren die Lieder, die der nun 80-jährige Dieter Schnebel zu nachgelassenen Gedichten von Ingeborg Bachmann komponierte. Schnebel gehörte ja zur ersten Generation der jungen „Darmstädter“ Komponisten, der sich dann allerdings vor allem von John Cage beeinflussen ließ. Die Texte stammen aus Bachmanns Zeit nach der Trennung von Max Frisch, als die Dichterin sich in psychiatrischer Behandlung in Berlin befand und neues Leben suchte bei einem Schwarzen in Afrika. Zeilen aus Märchen („Schneewittchen“) und Wagners „Tristan“ durchwehen die Gedichte. Schnebel nutzt die Wagnerschen Harmonien als glitzernde Edelsteine einer imaginären Jenseitswelt. Er bindet sie ein in einen mal balladesken mal Litanei-artigen Sprechgesang mit auch Lauten asthmatischen Röchelns einer an den Rand des Lebens gedrängten Frau – nicht nur „mild und leise“, wie der Titel sagt, interpretiert von der Sopranistin Susanne Otto.
So die Erwartungen zu düpieren – das wagte sonst keiner. Klassizistisch-heiter wie einen Frühlingsausflug lässt Dmitri Schostakowitsch seine Neunte Symphonie zum Ende des Zweiten Weltkriegs beginnen. Kein Pomp, kein Bombast, kein Stalin-Sieger-Kult. Stattdessen gleichsam Figuren wie Marionetten an den Fäden des Generalissimus im Großen Vaterländischen Krieg, die zu ihm aufblicken sollen in einer gigantischen Inszenierung. Und dahinter immer die Grimasse der Unterwerfung.
Die Rache Stalins folgte. Auf dem Gründungskongress des sowjetischen Komponisten-Verbands 1948 musste Schostakowitsch, der in seiner Siebenten Symphonie nicht nur die Leiden der von den Nazis ausgehungerten Stadt Leningrad betrauerte, Selbstkritik üben. Er verstummte. Und erst nach dem Tode des Diktators konnte Schostakowitsch in seiner Zehnten Symphonie triumphieren. Die zeigt Stalin als den brutalen, selbstherrlichen Verbrecher, ist gleichsam ein Tanz auf seinem Grab und mit der Hoffnung auf mehr Freiheit.
Das symphonische Werk von Dmitri Schostakowitsch als komponierte Biografie steht im Mittelpunkt des Musikfests Berlin. Spitzenorchester aus Deutschland, England – von dort allein fünf –, aus Holland und Amerika sind eingeladen, keines allerdings aus Russland. Anlass sind die runden Gedenktage: 20 Jahre Mauerfall, 60 Jahre Bundesrepublik, 70 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Daneben gibt es eine kleine Abteilung mit Haydn, dem Jubilar dieses Jahres, „Erfinder“ des Deutschlandlieds und der großen Symphonik. Und erinnert wird an Iannis Xenakis. Als Kind kam er aus Rumänien nach Griechenland, ging dort zur Schule, lernte die Antike lieben, war aktiv im antifaschistischen Widerstand. Der Verhaftung entkam er nur durch die Flucht nach Frankreich. Massenphänomene wurden für ihn von zentraler Bedeutung auch für seine kompositorische Arbeit. Als (im ersten Beruf) Architekt und zeitweiliger Mitarbeiter von Le Corbusier faszinierte ihn zudem die Erforschung des Raums. Eines der Schlüsselwerke, „Nomos Gamma“, das Gesetz der Drei, gemeint der Drei-Dimensionalität, erklang zum Auftakt des Festivals mit im ganzen Raum verteilten Musikern.
Glänzend disponiert zeigte sich das BBC-Symphonieorchester unter David Robertson. Aber auch das Concertgebouworkest Amsterdam unter Mariss Jansons und das London Philharmonic unter Kurt Masur ernteten mit der Schostakowitsch-Zehnten bzw. -Siebenten wahre Beifallsstürme. Als arg in die Jahre gekommen erwiesen sich Karlheinz Stockhausens „Hymnen“ am Festival-Vorabend mit den durchaus hintersinnigen elektronischen Aufspaltungen des Deutschlandlieds und anderer Nationalgesänge, trotz der luxuriösen Vorführung in der fast leer geräumten Philharmonie.
Erstaunlich, wie gut das Publikum mitspielte. „Leicht“ zu rezipieren ist ein so mutig nach rein inhaltlichen Kriterien programmiertes Festival nicht, auch wenn die von dem Historiker Habsbawm fürs Programm entlehnte Leitlinie etwas zu kurz greift. Das 20.Jahrhundert ist zwar eines der Extreme mit seinen mörderischen, ideologisch motivierten, industriell organisierten Vernichtungs-Kriegen. Die aber sind keine Erfindung erst des 20.Jahrhunderts. Bereits im Amerika der Civil Wars wurden sie erprobt und dann in Europa eifrig kopiert und „perfektioniert“.
Sie sind leise, so leise, dass man sie kaum hört: Understatement, Verweigerung, Protest? Schwer haben sie im Glas-Innenhof des festungsgesicherten Jüdischen Museums anzukämpfen gegen das Surren der Air Conditioning. Meist gewinnt die Luft-Aufbereitungs-Anlage. Die Streicher – ein Geiger und ein Cellist – streichen vorzugsweise am Korpus ihres Instruments. Vom Akkordeon hört man kaum mehr als einen Hauch. Beim Klavier wird nur an den Saiten gezupft. Lediglich die Klarinette ist – instrumentenbedingt – gelegentlich mit „klingenden“ Tönen zu vernehmen. Und dann wird’s bei dieser Matinee des „Moscow Contemprorary Music Ensemble“ doch noch etwas polterig mit auf den Boden stampfenden Füßen und minimalistischen Figuren.
Etwas deutlicher sind die Signale bei der folgenden Diskussion: Ja, es geht aufwärts mit der Neuen Musik in Russland. Es gibt zwar eigentlich kein Geld, aber es findet sich doch immer mal welches. Das Moskauer Kulturministerium spendiert auch hin und wieder Bares, aber das bleibt meist hängen in der quirligen Hauptstadt. Eine Gruppe von jungen Komponisten um Dmitri Kourliandski hat sich, als die neue Musik 2000 am Boden lag, zur „Structural Resistance Group“ STRES zusammen gefunden, eine Art Selbsthilfe. Seit vier Jahren organisieren sie Konzerte, Festivals. Auch in der Provinz. In Petersburg veranstaltet eine andere Gruppe ein Festival, das auf den lateinischen Namen „pro arte“ hört. Die Stücke werden gefiltert über Ausschreibungen im Internet. So können auch Komponisten aus der Provinz sich Gehör verschaffen. Am Ende gibt’s Anerkennungspreise.
„MaerzMusik“, das Festival für „aktuelle Musik“ der Berliner Festspiele – in diesem Jahr hat es sich mit einem Schwerpunkt der Szene Russlands und einiger angrenzender ehemaliger Sowjet-Republiken gewidmet. Die Komponistinnen und Komponisten, von denen da Werke aufgeführt wurden, haben sich über Studien und Stipendien im Westen bekannt gemacht, bringen gleichwohl ihre eigenen Erfahrungen mit: Petros Ovsepyan etwa aus Baku, der in seinem Stück „Crossed“ auch einen Granitsteinblock behämmern und mit dem Meißel streichen lässt, als staubende Erinnerung an die vielen Denkmale zuhause; Jamilia Jazylbekova aus Kasachstan, die mit ihrer „Nuit de Mars“ dem Frühlingsbeginn symbolisch huldigt; Artjom Kim aus Uzbekistan, der mit seiner „Prozession II“ und den Musikern des „Nieuw Ensemble“ ein religiöses Einkreisungs-Ritual inszeniert gegen wohl staatliche Bevormundung, einen elektronisch verstärkten brummelnden Kontrabass.
In der zweiten Hälfte dieses Festivals unter dem Motto „Reduktion-Struktur-Dekonstruktion“ wird noch erinnert an die Musikszene der Antipoden, das Amerika von John Cage bis Steve Reich und George Crumb. Zu Beginn gab es mit den exzellenten Solistinnen Salome Kammer und Carolin Widmann György Kurtágs „Kafka-Fragmente“, wunderbar ausgesparte Miniaturen, in einer freilich eher kunstgewerblichen szenischen Einrichtung. Fürs Musiktheater haben die „MaerzMusik“-Macher noch immer kein Gespür. Den Auftakt gestalteten „Les Percussions de Strasbourg“ mit einem 70-minütigen Stück von Hugues Dufourt für sechs Schlagzeuger und 150 Instrumente, „Erewhon“, ein in seiner Virtuosität dann doch leicht leer laufendes Stück – und ein bisschen wirklich wie Radio Jerewan.
Das Vogelkonzert
aus Olivier Messiaens „Éclairs sur l’Au-Delà…“, den
„Gedanken über das Jenseits“ erklang mit dem Deutschen Symphonie
Orchester unter Ingo Metzmacher. 1992 zum 150.Geburtstag
der New Yorker Philharmoniker entstand es und wurde uraufgeführt erst einige
Monate nach dem Tod des französischen Komponisten. Im Dezember vor
hundert Jahren wurde Messiaen in Avignon geboren. Die Spiritualität des
Ortes hat auf ihn zeit seines Lebens gewirkt. Die „Éclairs“ schrieb er
einige Jahre nach seinem bekenntnishaften Opernwerk über den heiligen
Franziskus. Messiaen war einer der wesentlichen Ideengeber der jüngeren
Komponisten-Generation nach dem zweiten Weltkrieg. Sein Werk stand im
Mittelpunkt des diesjährigen Musikfests Berlin. Vor allem auch seinen
frühen und frühesten Stücken konnte man hier begegnen. Sie zeigen – wie
das „Tombeau“ auf den Tod seiner Mutter – dass vieles von seinem Stil
wie die metallenen Mixtur-Klänge, die zu breitem Mahlstrom sich
ausweitenden Hymnen schon bei dem Messiaen der 30iger Jahre vorgeprägt
ist.
Flankiert wurde Messiaen von zwei anderen spirituell orientierten
Komponisten, Anton Bruckner zum einen und Karlheinz Stockhausen,
der heuer 80 Jahre alt geworden wäre, zum anderen. Mit „Stimmung“, einer
Komposition aus den politisch zerrissenen 1970iger Jahren, als
Stockhausen sich von seiner technizistischen 60iger-Jahre-Phase mit den
immer neuen Versuchen elektronisch-serieller Kompositionen abwandte,
wurde erinnert an einen wesentlichen Zug in Stockhausens Denken.
„Stimmung“ ist der Versuch von sechs Sängern, auf einander und gleichsam
improvisatorisch auf ihr Inneres zu hören. Der meditative Charakter mit
auch entsprechend garniertem Äußeren wirkt heute freilich trotz der
erotischen Eindeutigkeiten doch schon etwas angestaubt.
Ergänzt wurde die Stockhausen-Abteilung unter anderem mit einer der
Inkunabeln der neueren Musik, den „Gruppen“ von 1957, einem für den
frühen Stockhausen ungewöhnlich klangsinnlichen Werk, in dem Stockhausen
versuchte, die tradierte Hierarchie zwischen den Klanggruppen der
Orchester und auch die zwischen Orchester und Dirigent aufzuweichen. Für
die optimale Aufstellung der drei räumlich getrennt agierenden Orchester
waren Berlins Philharmoniker und Sir Simon Rattle sowie die zwei
„Unter“-Dirigenten Daniel Harding und Michael Boder in einen Hangar des
Flughafens Tempelhof ausgewichen.
Die „Gruppen“ mit ins Programm zu nehmen, hatte Musikfest-Leiter Winrich
Hopp bei seinen Gesprächen mit Stockhausen vor dessen Tod letzten
Dezember freilich Mühe, den Meister zu überzeugen.
Immerhin ein ganz neues, das letzte aus seiner Produktion, wurde ad hoc in einem Konzert der MusikFabrik NRW ins Programm integriert, das Streichtrio „Hoffnung“ mit zweimaligem von allen drei Musikern unisono zu sprechenden „Dank“ an Gott für „das Werk“ à la Bachs „Soli Deo Gloria“, einem b-a-c-h-Zitat und erstaunlich redundant kreisenden Verzierungen in allen Stimmen.
Erstmals in diesem Jahr hat das aus den Berliner Festwochen hervorgegangene „Musikfest“ ein eigenes Gesicht gefunden. Ob es dazu unbedingt einer Parade europäischer Spitzenorchester bedarf steht dahin. Das Wichtigste ist sicher eine klug vernetzte Programmplanung, wobei man sich auch kompaktere Laufzeiten durchaus denken und wünschen kann.
Der
Mann hatte eine ungewöhnliche Stimme bei schrillem Aussehen:
Zierlich, androgyn, mit gegelter Krönchen-Frisur und in futuristischen
Kostümen wirkte er wie ein Außerirdischer. Ein Kult-Star der
New-Wave-Bewegung, aber eigentlich Konditor aus dem Bayerischen Allgäu.
Über Essen und Berlin kam er nach New York, posierte mit Filmschlagern,
Marlene-Dietrich-Songs, Rock ’n Roll und zurück zu Purcell. In dem „Song
Play“ von Olga Neuwirth und Thomas Jonigk
ist die Figur gespalten in den Countertenor Andrew Watts
und den Schauspieler Marc-Michael Bischoff. 1983
verstarb er, Klaus Nomi alias Sperber,
kaum 40jährig an Aids.
So Ulrike Ottinger, die das als eine hoch stilisierte Vanity-Schau mit vielen Fotos mittelalterlicher und barocker Gevatter-Tod-Darstellungen unterlegt hat. Auch das kleine Orchester, auf der Drehscheibe platziert, spielt in Kostümen, halb Todesgerippe, halb Zirkus-Clown mit buschigen Federn. Der Sänger prunkt in einem roten Kostüm der Shakespeare-Zeit, der Schauspieler kommt im spacig weiß-schwarzen Outfit daher, zwischen Oskar Schlemmer und Raumschiff Enterprise. Auch die Musik changiert zwischen schräg aufbereiteten Nomi-Songs und barocken Zwischenmusiken als gleichsam Karussell des Todes.
„Wanderungen“ ist das Thema der diesjährigen „MaerzMusik“, des
Festivals der Berliner Festspiele für „aktuelle“ Musik, wie es bewusst
unscharf heißt und eindrucksvoll mit dieser Jenseits-Wanderung begann.
Gewandert wird ansonsten auf der iberischen Halbinsel, aber auch nach
Mexiko oder ins Australische Outback, wo der Geiger John Rose
über 50.000 km Viehzäune erkundet hat und als Live-Video-Installation
zum Klingen bringt – auch wenn es heute gewiss anstößigere
Grenzbefestigungen gibt als diese.
In einer Sprechpartitur für Solosopran und flüsternde Stimmen lässt Lucia Ronchetti Marcel Prousts „Albertine“ erstehen. Wie eine verlassene Ariadne erscheint Albertine in einer Muschel aus Blechteilen mit ihren Erinnerungen, Sehnsüchten, Obsessionen. Die inneren Stimmen als gleichsam Echo sitzen im Auditorium um sie herum. Oder Altmeister Mauricio Kagel versammelt in „Motetten“ für acht Celli höchst ironisch alle möglichen musikalischen Sprechformeln.
Klangsinnlich die „LinguoFarinCampanología“ des Madrilenen Llorenç Barber. Er arbeitet mit Becken und einem transportablen Glockenturm. Durch Manipulation mit Mund, Zunge, Mundhöhle bekommen die Becken und Glocken einen schwebend-sphärischen Klang – ähnlich wie bei einer Maultrommel. Es ist Musik mit allereinfachsten Mitteln, ohne technischen Aufwand, dafür mit einem Höchstmaß an persönlichem Ausdruck: Das, was es heute neu zu entdecken gilt.
Er gilt als neuer Shooting Star, der Finne Kalle Kalima. In Helsinki
und Berlin hat er an den Musikhochschulen studiert. An vier Abenden darf
er dem JazzFest Berlin mit seinem „Omnibus“-Projekt den Stempel des
immer noch ein bisschen „Avantgardischen“ aufdrücken. Zurückgezogen hat
man sich dafür in einen Club seitlich des Ku‘Damm, ins „A-Trane“. Vier
Musiker sitzen da am ersten Abend auf der Bühne. Ein Saxofonist, ein
Akkordeon-Spieler, einer am Kontrabass und eben Kalle Kalima an der
E-Gitarre. Sie begeben sich auf eine Odyssee zu Stanley Kubrick.
Alle vier mühen sie sich, ihren Instrumenten unvertraute Klänge zu
entlocken. Kalima tastet seine E-Gitarre schon mal mit merkwürden
Fühlern ab, und die Saiten beginnen plötzlich ganz anders als gewohnt zu
vibrieren. Oder er klemmt eine Wäscheklammer auf den Steg, und der Klang
trocknet gleichsam aus.
Das Akkordeon fiept in den höchsten Lagen oder brummelt in den Tiefen,
der Kontrabasskörper dient auch schon mal als Resonanzboden für
Trommelschläge, das Saxofon – und manchmal werden gleich zwei bespielt –
gerät mit gestoßenen Attacken wie in Atemnot.
Das JazzFest Berlin macht sich klein, und will doch groß sein, indem es
in die Hinterhöfe und Nischen leuchtet. Zum Teil aus finanziellen
Gründen, zum Teil aber auch aus Prinzip. Das Neue, sagt JazzFest-Leiter
Peter Schulze, mischt sich abseits des Rampenlichts.
So gibt es große Namen nur selten. Im Haus der Festspiele, dem
Stammquartier, aber etwa den Posaunisten Ray Anderson. Er tritt auf in
einem Trio „BassDrumBone“ – wie der Name schon sagt mit Kontrabass und
Drums als Partnern.
Etwas ganz Besonderes hatte Schulze sich ausgedacht für den Auftakt des
letzten von ihm programmierten Festivals mit „Chaabi“-Musik. Chaabi ist
eine Mischung aus jüdischen und arabischen Elementen, entstanden in der
algerischen Kasbah. Eine Art Volksmusik. Sie spiegelt Migration,
Integration und Exil. Die Juden brachten im 19. Jahrhundert ihre Musik
aus Andalusien nach Nordafrika. Dort mischte sie sich mit der Arabiens
und hatte ab den 1930er Jahren ihre große Zeit. Sie verschwand, als nach
der Unabhängigkeit Algeriens 1962 immer mehr Juden auswanderten, sich
zerstreuten meist nach Frankreich.
Jetzt haben die alten Männer sich wieder neu gefunden, einige junge sind
dazu gekommen: Ein Orchester von 37 Männern, keine Frau. Doch eine Frau,
eine Dokumentarfilmerin, brachte sie zusammen aufgrund einer Recherche
zu dieser verschütteten musikalischen Tradition. Eine wilde Mischung aus
Gitarren, Mandolinen, Banjos, Kniegeigen, Hackbrett, Klavieren,
Schlagwerk und einem Rundgesang, bei dem fast jeder mal Solist mal
Chorist sein darf, sieht und hört man da nun auf der Bühne.
„El Gusto“ nennt sich die Gruppe. Ihr Wieder-Zusammenkommen hat etwas
von Nostalgie aber auch von Hoffnung. Abdelmadjid Meskoud, ihr führender
Kopf, sagt in einer Diskussion am Rande, man wolle mit dieser
Neuformierung der Truppe auch protestieren gegen die Politik – eine
falsche Politik, die einen Keil treibt zwischen Juden und Arabern. Dass
sich mit dem gemeinsamen Musizieren die Verhältnisse umkehren lassen,
glaubt niemand. Und die jüdischen Musiker wagen sich auch noch nicht
wieder zurück nach Algerien. Man trifft sich in England, in Frankreich.
Aber es ist ein Zeichen – wie etwa auch Daniel Barenboims
West-Ost-Diwan-Orchester.
Gegen Ende
treten die wie zu einer Fels-Steilwand übereinander
getürmten Klaviere dann doch noch richtig in Aktion. Ferngesteuert
spielen sie, was Heiner Goebbels am besten kann und woher er auch kommt,
Jazziges. Die Brücken, auf denen die Klaviere montiert sind und die wie
Schlitten über drei mit Wasser gefüllte Becken gleiten, sind dann nach
vorn gefahren, nah ans Publikum. Später gleiten sie wieder zurück. Aus
den Wasserbecken steigen Bläschen auf und Nebel wie matt blubbernde
heiße Quellen. Der technische Aufwand dieser 70-Minuten-Show ist
gewaltig. Computer-gesteuert werden hier Klaviersaiten gestrichen und
geschlagen, Blasrohrklappen betätigt, Steine bewegt, Leinwände
ausgefahren. Man darf staunen über soviel Technikgeist. Und der
künstlerische Ertrag?
„Stifters Dinge“ nennt
Goebbels sein jüngstes Opus: ein
Klavierstück ohne Pianisten, ein Theaterstück ohne Schauspieler, eine
Performance ohne Performer, wie es schnittig im Werbetext heißt. Stifter
wird auch zitiert, sogar in einer längeren Passage. Man muss sich Zeit
nehmen für diesen Dichter des Biedermeier, der minutiös das
Kristallisieren von Eis zu beschreiben wusste und bei dem die „Dinge“ –
das Unbekannte, das Fremde, die Natur – ein besonderes Interesse
hervorlockten. Dann wieder ertönt eine Stimme eines Papua aus Neuguinea,
aufgenommen vor hundert Jahren von einem Forscher. Oder Claude
Levi-Strauss erzählt, warum es keine Paradiese mehr gibt. Oder es tropft
Wasser aus dem Bühnenhimmel in die Becken drunter und dazu ertönt –
natürlich – Bach.
Es gibt auch Momente, in denen man das Gefühl hat, vom Stifterschen
Geist etwas vermittelt zu bekommen: wenn etwa die drei Leinwände so
immer wieder anders voreinander verschoben werden, dass sie das von
hinten einstrahlende Licht in unterschiedlicher Dichte durchlassen – wie
wandernde Wolken. Oder man sieht eine kleine weiße Tafel –
Bildschirm-groß – im Raum gleiten. Und es werden Ausschnitte darauf
sichtbar aus einem Jagdgemälde aus dem 15.Jahrhundert, das ins Dunkel
projiziert wird. Reiter, Hunde, Pferde werden durch die Reflektion
beleuchtet: Wie unter einem Mikroskop, einer Lupe. Heiner Goebbels hat
dafür auch eine Theorie, und die erläutert er so:
Mit „Stifters Dinge“ eröffnen die Berliner Festspiele ihre herbstliche Theater-Schau „spielzeit europa“. Diesmal will sie, ausgehend vom Living Theatre der 1968-iger ff Flower-Power-Jahre, nach den einstigen und neuen Paradiesen forschen. Das im Fall von „Stifters Dinge“ ist ein sehr künstliches und kann die Grenzen zum Kunstgewerblichen nie ganz vermeiden. Da waren das Maschinentheater der Futuristen und die musiktheatralischen Material-Erforschungen eines Mauricio Kagel in den 1960-iger / 70-iger Jahren sehr viel ehrlicher, bescheidener, glaubwürdiger - und interessanter. Goebbels und sein Bühnenausstatter Klaus Grünberg haben viel Zeit investieren, viele Apparate und Maschinen bauen, die Software entwickeln lassen können für ein richtiges Tournee-Wunder-Theater. So viel Luxus ist selten geworden heute. Vielleicht ist das ja das Paradies, nach dem hier eigentlich geforscht wird.
Das Beste
hob man sich auf für den Schluss. Jenes Stück der Schweizer
Komponistin Mela Meierhans mit dem seltsamen Titel Tante Hänsi – Ein
Jenseitsreigen, in dem sie grübelt über Leben und Tod. Erzählt wird
in auf Übertiteln übersetztem innerschweizer Dialekt, wie man umging
früher mit den Toten: Wie man versuchte, langsam von ihnen Abschied zu
nehmen im häuslichen Kreis; welche Vorkehrungen man traf, dass sie nicht
als „Untote“ wiederkehren; wie man ihrer zu gedenken hatte. Auch was die
Frauen tun konnten, wenn sie Kinder nicht wollten; oder wie man
Totgeborene in den Sarg von „regulären“ Toten mit hinein gab, um ihnen
als Ungetauften eine Bestattung zu ermöglichen; wie man im Winter Tote
auch schon mal bis zur Schneeschmelze kühlte, und was passieren konnte,
wenn man vergaß, wo sie gelagert waren.
Geschnitzte Totemfiguren verstärkten in diesem Klangtheater optisch den
Eindruck. Kontrastiert werden von Meierhans die Erzählungen mit den
barschen Anordnungen, wie der Tod heute klinisch clean zu verwalten ist.
Und sie untermalt dies mit einer modernen Tonsprache von Alphorn,
Akkordeon, Klarinette und Stimmen. Eingebettet darin sind originale
Intonationen des Jodlerklubs Wiesenberg aus der Innerschweiz, dessen
Bergbauern, Förster, Handwerker mit Händen in den Hosentaschen – damit
durch die erhöhte Körperspannung auch die hohen Kopflagen besser kommen
– auftraten, den Leichenumtrunk mimten und vom Publikum am Ende mit
Beifallsstürmen für ihr enormes Können belohnt wurden.
Festival für „aktuelle“ Musik nennt sich die Berliner „MaerzMusik“ im
Untertitel. Nicht speziell auf zeitgenössische „neue“ Musik ist sie
abonniert. Auch aktuelle Strömungen in den musikalischen
Zwischenbereichen will sie aufgreifen. In diesem Jahr war das der
Alpenraum unter dem Motto „Alpenmusik-Stadtmusik-Turmmusik“. Im Zentrum
standen Komponisten aus der Schweiz, aber auch aus Österreich, Italien,
Slowenien und Deutschland. Untersuchen wollte man das Wechselspiel
zwischen Ländlichem und Städtischem, Bergwelt und Urbanität,
Naturklängen und Geräuschkulisse.
Im Festspielhaus konnten die Besucher das Alpenpanorama erklingen
lassen. Georg Nussbaumer hatte im Foyer aus Radar-Stimmgabeln, wie man
sie mal zum Blitzen von Verkehrssündern nutzte, ein Gipfel-Relief im
Maßstab 1:33.000 gehängt. Im Bühnenturm hatten Klaus Lang und Claudia
Doderer zur Eröffnung ein Environment installiert, fichten, bei
dem man im Liegen die Klänge eines fast unsichtbaren Orchesters von
Brucknerschen Weiten auf sich einwirken lassen konnte. Vermitteln wollte
das etwas von dem, was die Alpen wohl früher mal bedeuteten und wie es
Georg Simmel in einem Essay vor hundert Jahren beschrieb: „das Chaos“,
die „ungefüge Masse des Gestaltlosen“, aber auch das zum Himmel
aufragende „Transzendente“. In eine ähnliche Richtung zielte auch der
durch sein „Orgien Mysterien Theater“ bekannte Hermann Nitsch. In einer
Orgel-Soiree baute er einen Klangraum aus sich dehnenden ungefügen
Clustern.
Walking in the limits nennt der Komponist und Textautor Heinz Reber ein Stück, das in der Volksbühne uraufgeführt wurde. Es ist eine
authentische Geschichte, die Beziehung eines Schweizers mit einer
Ostberlinerin in Mauerzeiten. Minimalistisch in Szene gesetzt, ziehen
Fetzen von Erinnerung an einem vorüber. Gezeigt wird der Blick aus einem
Hotelturm am Alexanderplatz. Draußen endlose Bänder von Autokarawanen.
Bilder huschen vorbei, Gedanken, Sätze. Zwei Figuren stehen zwischen
Schleiern, auf die in wechselnder Intensität die Stadtlandschaft
projiziert wird. Die Schleier bewegen sich unmerklich auf verschlungenen
Bahnen, geben Blicke frei, verhüllen. Eine dritte Figur tritt hinzu und
zwei Geigerinnen. Die spielen mit einem Kontrabassisten eine
schemenhafte Musik wie Chiffren. Allmählich entleert sich die Bühne, die
Erinnerungen verflachen, verebben. Ende einer Freizeit-Liebe im
Hotelzimmer.
In die Historie zurück blendete auch Georg Klein. Er hatte auf einem
Grenzturm der früheren Berliner Sektorengrenze eine Video-Installation
eingerichtet, wo er die Turm-Symbolik als Machtfaktor demonstrierte.
Einen besonderen Gag hatte sich Moritz Gagern ausgedacht. Um das
Festivalmotto ins hauptstädtische Ambiente zu übersetzen, lud er die
Besucher auf 207 Meter Höhe ein ins rotierende Restaurant des Berliner
Fernsehturms. Oben angekommen, konnte man da beim Blick nach draußen die
nächtliche Stadt unter sich kreisen sehen, beim Blick nach innen glitten
die Musiker an einem vorbei. Die waren ringsum platziert mit dem Rücken
zum festen Kern des Turmrestaurants. So wechselten ständig die
räumlichen Perspektiven. Babylonische Schleife nannte Gagern
seine Charles Ives variierende Anordnung von Musik im Stadt-Raum.
Dazu gab es eine Filmreihe, ein Schulprojekt, Abstürze – und auch ganz
„konventionelle“ Konzerte. Die jetzt in Wien lebende, in ihrer Bedeutung
aber doch wohl überschätzte Israelin Chaya Czernowin stellte erstmals
den Gesamtzyklus ihres Triptychons Maim für großes Orchester vor,
eine vor allem durch erratisch „blökende“ Bläserchöre wirkende Musik aus
der Zeit nach dem September 2001. Erstmals in Berlin zu hören war das
Genfer Ensemble Contrechamps mit der vorzüglichen jungen Sängerin Mélody
Louledjian und den witzig-leichtfüßigen Tracasseries von
Claire-Mélanie Sinnhuber im Programm. Das Zürcher Collegium Novum legte
mit Mischa Käsers City 1 ein feinsinniges Stadtgeräuschband aus.
Und es gab Konzerte von Ensembles, die auf neue Weise umgehen mit der
Schweizer Folklore, wie etwa das Basler Duo „Stimmhorn“. Es nähert sich
dieser Tradition leicht ironisierend, mischt Alphorn, Akkordeon und
Jodler mit Fernöstlichem, entdeckt so in der heimischen Folklore
Klangqualitäten auch für ein weltläufiges Publikum von heute.
Watte stopft Lara Stanic in ihre Flöte immer wieder. Die ist per
Kabel mit ihrem Computer verbunden. So moduliert die Künstlerin die
Abspielgeschwindigkeit der gespeicherten Klänge. Reaktion von Körper und
Maschine sind Thema der jungen Performerin in „FluteSpeaking“. Ihre
Aufführung eröffnete das vor ästhetischen Abstürzen freilich nicht ganz
gefeite Begleit-Programm zu der sechswöchigen Klangkunst-Ausstellung „Sonambiente“
in Berlin.
Zum zweiten Mal nach zehn Jahren wollen die Ausstellungsmacher
gleichsam immateriell den Wandel der Stadt erkunden. Sehr informativ ist
der von Helga de la Motte kuratierte begleitende Katalog. Die Besucherwege führen zwischen Ostbahnhof und
Festspielhaus auch in quasi exterritoriale Zonen wie die zu DDR-Zeiten
erbaute, auf ihre Erneuerung harrende Polnische Botschaft Unter den
Linden. Aber nicht nur die Stadt hat sich mittlerweile stark gewandelt,
auch die Klangkunst selbst. Die Grenzen zur Videokunst haben sich
verflüssigt mit den neuen digitalen Medien.
Von der Klangkunst im
strengen Sinn, bei der mit den Materialien selbst Klänge erzeugt werden,
gibt’s in dieser Ausstellung nur wenig. Etwa wenn Katja Kölle das
Mezzanin der neuen Akademie der Künste mit losen Holzplatten auslegt und
man beim Darüberlaufen das Klappern auf dem Betonfußboden hört. Am
gleichen Ort im Foyer hat Kris Vleeschouwer eine imposante Installation
„Glass Work“ aufgebaut: meterhohe lange Regale, voll gestopft mit leeren
weißen Flaschen. Immer wenn in einen kilometerentfernten Recycling
Container Leergut eingeworfen wird, kracht auch vom Regal eine Flasche
splitternd hernieder. Ein Heimtheater aus alten Phonographen,
Lautsprechern und Megaphonen haben Janet Cardiff & George Bures Miller
montiert. Computergesteuert werden alte Platten abspielt vermischt oft
mit 5-kanaligem Surroundklang. Inspiriert ist diese „Oper für einen
kleinen Raum“ [„Opera for a Small Room“] von John Cages mit den
gleichsam Ready Mades der alten Oper spielenden „Europeras“.
Ganz auf Mittel der Videokunst setzt im alten Gebäude der Akademie
Candice Breitz. Sie hat eine Wand aus sechsmal fünf Monitoren aufgebaut
mit dreißig Sängerinnen und Sängern, die das Playback für einen Soul
Song einsingen und je auf eigene Art das Gesungene in Gebärdensprache
umsetzen. Auf der Seite gegenüber hat Robert Jacobsen eine neue Variante
seines „Skulpturellen Theaters“ installiert mit einem Sänger per
Mini-Screen auf einer beweglichen Halterung, von dem man nur den Mund
sieht und aus zwei kleinen Lautsprechern hört. Weiter hinten im Raum
sind Schaufelarme, die in Wasserschüsseln tauchen. Oder mobileartige
Skulpturen, die sich um die eigene Achse drehen. Die Frage, was das Ganz
bedeuten könnte, beantwortet Jacobsen mit einer Gegenfrage:
JACOBSEN: Empfinden Sie ein bisschen Freude und Überraschung an Klängen, die sich organisieren? An kinetischen Skulpturen, die in verschiedenen Zyklen spielen? Es ist natürlich eine sehr schwierige Frage, was sagt uns das Ganze…
Klang am eigenen Körper spüren kann der Besucher bei Lynn Pook und
Julien Clauss. Im tesla, dem Medien-Labor an der Parochialkirche, haben
sie Liegen aufgebaut, auf die man sich schnallen lassen kann. Brust,
Kniekehlen, Arme und Finger werden mit Kissen verbunden, in die kleine
Lautsprecher eingenäht sind. Über die Adern und Knochen im eigenen
Körper wird der Schall transportiert als Impuls. Im Obergeschoss hat
Carsten Nicolai einen rauchgeschwängerten Dunkelraum gebaut. Aus einem
Video Beamer lässt er Strahlen in kaleidoskopischen Mustern auf eine
gegenüberliegende Wand projizieren.
Eine Station weiter ins Foyer des Allianz-Gebäudes am Ost-Bahnhof hat
Ulrich Eller einen „Resonanzbehälter“ gestellt, einen 15-türigen
Blech-Schrank, aus dem die ins Leere laufenden Drähte sich verknotend
heraushängen. Nur wenige der gezeigten Objekte reagieren auf den Ort, an
dem sie gezeigt werden, so genau. Das Gebäude, obwohl nagelneu, steht
ungenutzt leer.
Bei
den Berliner Festspielen widmet man sich schon immer gern dem
interkulturellen Dialog. Zum fünften Mal wird hier die „MaerzMusik“
veranstaltet, diesmal mit einem besonderen Akzent auf Japan und China.
So durfte der chinesische Komponist Cong Su eine Computeroper
komponieren, Welt im Quecksilberlicht, die sich dem China von Mao
bis heute widmet. Basis sind Gedichte des in der Kulturrevolution
geschmähten, dann nach Neuseeland emigrierten Lyrikers Gu Cheng.
Der endete im Exil tragisch, brachte erst seine Frau, dann sich selbst
um. Dreiteilig hat Librettist Michael Schindhelm die Texte
geordnet. Regisseur Chen Shi-Zheng, bekannt geworden durch seine
Inszenierung des Paeonien-Pavillon, gelingen am besten die
Reminiszenen an die letzten Tage der „Viererbande“ mit den
Massen-Aufmärschen, den Siegesparaden und Erniedrigungen gedemütigter
Intellektueller. Mao leuchtet da von einer rot gefärbten Breitwand,
angehimmelt vom später als Verräter abgestempelten Lin Biao. Und der
Mao-Gattin Jiang Qing Ballett vom Roten Frauen-Bataillon schwebt Gewehr
bei Fuß über den Bildschirm. Später tanzt es grau verblasst auch kopf.
Maos neue Welt zeigt der Regisseur mit einer aus dem Ei schlüpfenden
Rotgardistin, Dengs Nach-Mao-„bereichert-euch“-Periode kündet er an mit
einer umgestürzten Büste, aus deren Kopf die bunten Wunderdinge des
Kapitalismus purzeln. Den Selbstmord des Dichters symbolisiert er mit
einem riesigen Beil. Ganz überzeugen kann dies schon bis nach Brisbane
verkaufte Multi-Media-Spektakel aber nicht. Zu flüchtig bleibt vieles,
zu sehr an der Oberfläche.
Eher enttäuschend auch eine, wenn auch musikalisch ungleich dichtere,
szenische Aufbereitung von Fragmenten aus dem Tagebuch einer Japanischen
Hofdame vor tausend Jahren. Peter Eötvös’ Stück As I Crossed a
Bridge of Dreams für Rezitator, Blechbläser und Stimmen taucht die
Aufzeichnungen der Lady Sarachina in eine Musik, die wie ein innerer
Hallraum ist für Gedanken zwischen Tag und Traum. Die szenische
Einrichtung von Cornelia Heger mit drei beweglichen Bilderrahmen als
Bühnenelementen, japanisierenden Kostümen und einer standardisierten
Gestensprache wirkt dagegen steril und kraftlos. Noch immer nicht hat
man in der Leitung der Berliner Festspiele ein sicheres Qualitätsgefühl
entwickelt fürs Musiktheater. Dabei wird es immer mehr zum zentralen
Punkt der Anstrengungen um die neue Musik. Und mit M.M. der in Berlin
lebenden Japanerin Makiko Nishikaze, die sich österlich mit der
biblischen Figur der Maria Magdalena befasst, ist noch eine weitere
musiktheatralische Performance geplant.
Anschieben will man mit diesem Festival auch weiter den direkten Dialog.
Junge Komponisten aus Bejing, Shanghai, Accra, Kairo, New York und
Berlin waren eingeladen, sich zunächst über Internet und dann auch vor
Ort leibhaftig auszutauschen. Da staunten die ägyptischen Komponisten
etwa, dass neue Musik nicht bei Strawinsky oder Bartok endet. Die
Ghanaischen bedauerten, dass mit ihren Instrumenten mikrotonale
Stimmungen nicht möglich seien, ernteten zugleich Bewunderung für die
phänomenale Gestaltung rhythmischer Muster. Eine Komponistin mit
jüdischem Hintergrund stellte verwundert fest, wie sehr arabische den
eigenen Tonsystemen ähneln. Und der aus Anatolien stammende Taner Akyol,
der vor zehn Jahren nach Berlin kam um zu lernen, für sein
Saiten-Instrument, die Baglama, zu komponieren, sprach von den
Minderwertigkeits-Komplexen, mit denen er der westlichen Musik einst
begegnete – und wie er umlernte: dass man „erst mal seine eigene Kultur
sehr gut lernen“ solle und dann mit den Füßen auf der eigenen Erde
stehend „rausgehen kann und sein Feld verbreiten“.
Was man bei dem
Workshop in Vorbereitung des Weltmusikfests in Stuttgart im Sommer
insgesamt gelernt habe, bilanzierte Workshop-Leiter Oliver Schneller:
dass es kein absolut „Neues“ gibt: und das als Europäer zu respektieren
sei sehr wichtig. Andererseits: Die eigene Identität findet man am
ehesten in der Fremde. „Dort wird man ständig gezwungen, seine
Positionen zu definieren, herauszufinden, stimme ich überein mit dem,
was ich sehe, oder wo situiere ich mich selbst in diesem Kunst-Diskurs.“
Nicht nur „Luxus-Klassik“ wolle man präsentieren, meinte bei der
Vorstellung des neu formierten Festwochen-Programms deren Künstlerischer
Leiter im Frühjahr. Es war kaum mehrt als ein Feigenblatt. Einige
Spielzeiten lang hatte man versucht, ein eigenes auf Avanciertes hin
konzipiertes, auch Szenisches mit einbeziehendes Programm zu machen. Die
frühere Kooperation mit den Berliner Philharmonikern war durch den
damals neu etablierten Intendanten Franz Xaver Ohnesorg gekappt worden.
Der wollte ein eigenes Orchesterfestival gestalten. Dazu kam es nicht.
Und das von den Festwochen angebotene, über zwei Monate im Herbst
vertröpfelte Programm goutierte das Publikum nicht. Jetzt fanden beide
Veranstalter wieder zusammen. Die Philharmonie ist wieder Zentrum der
Aufführungen. Die Philharmoniker steuern zum nicht sonderlich
originellen Schwerpunktthema „Janácek“ eine konzertante Jenufa unter
ihrem Chef Sir Simon Rattle bei. Und auch das Publikum meldet sich
zurück an der Kasse. Gleichwohl ein rechtes Gesicht hat dieses neu
formatierte „Musikfest Berlin 05“ bislang nicht. Zwar ist für kommendes
Jahr eine interessant klingende Eigenkreation auf der Basis von Debussys
Martyre de Saint Sébastian avisiert. Der Reigen der Ur- und
Erstaufführungen im heurigen Programm wirkte noch eher zufällig.
„Große“ Namen bei den Gastspielen und den Komponisten wollte man vor
allem präsentieren. Das forderte auch der Geldgeber Bund. So lud man
sich fürs Eröffnungskonzert das London Philharmonic Orchestra unter Kurt
Masur. Und der Beethovenschen „Neunten“ schaltete man die Deutsche
Erstaufführung eines etwa halbstündigen Stücks von Sofia Gubaidulina
vor. The Light of the End ist eine durchaus effektvoll gemachte
Partitur, in der die Komponistin sehr viel mehr, als man es von ihr
kennt, aus sich heraus geht. Wirbelnde Glissandi kontrastieren da mit
scharfen rhythmischen Attacken und münden in einen fragend offenen
Schluss. Auf herbere Kontraste zielte ein Abend mit dem englischen
Geiger Andrew Manze, Chef von „The English Concert“. Mit wunderbar
luzidem Ton interpretierte er Violinsonaten von Heinrich Ignaz Franz
Biber. Und die japanische Geigerin Hiromi Kikuchi brachte von György Kurtág acht Miniaturen unter dem Titel
Hipartita zur Uraufführung.
Erneut erweist sich Kurtág hier als Meister der kleinen Form. In wenigen
Strichen gleichsam weiß er charaktervolle Portraits zu zeichnen:
zwischen heiter-clownesk und brav vor sich hin trottend, den Interpreten
zugleich in höchstem Maße fordernd.
Ein Selbstläufer der Abend mit dem Chamber Orchestra of Europe,
dirigiert von dem als englischer Superstar gehandelten und insbesondere
von Sir Simon Rattle geförderten Thomas Adès. Beethoven, Strawinsky und
ein eigenes neues Werk hatte er auf dem Programm. Dabei wirkt sein
Dirigierstil alles andere als elegant. Aber man erkannte gut, was ihn an
der Klassik und klassischen Moderne reizt. So klingt Beethoven bei ihm
überraschend rhythmisch akzentuiert, wenn auch etwas pauschal. Auch in
Strawinskys Pulcinella betont er vor allem die harschen Schnitte und
Kontraste. Sein eigenes Stück, ein Violinkonzert mit dem Titel Concentric Paths,
wie das Kurtág-Stück ein Festwochen-Auftrag, geht
ähnliche Wege. Ganz unterschiedlich sind die drei Sätze angelegt. Mit
schwirrenden fast impressionistischen Klängen prunkt der erste, von
diffus gestreuten dumpfen Akkord-Schlägen geht der zweite aus, eher
formelhaft-spielerisch wirkt der letzte Satz. Der Solist (Anthony
Marwood) hat keine ausgeprägte Rolle, er verschwindet fast im
orchestralen Kleid. Lediglich im zweiten Satz, einem sich streckenden
Lamento, kann er sich etwas emanzipieren.
Beim Publikum kam das Stück gut an. Und mit diesem Abend konnten das
Musikfest und der seinen Dienst schon wieder quittierende glücklose
Leiter André Hebbelinck immerhin doch einen eigenen Akzent setzen.
Ansonsten erlaubt der schmale Etat ja wenig mehr als ein Mitmarschieren
im internationalen Gastspielbetrieb. Und das ist und bleibt das
wesentliche Handicap: ein eigenes Profil entwickeln können die
Festwochen so nicht.
Gedacht war das so schön. Eine exotische „location“, Anreise privat, per Bus oder per Schiff. Ein exotisches Stück: 48 Musiker, bewaffnet mit susaphonartig um den Körper gehängten Schläuchen, die um das Publikum herum als eine Art Resonanzkörper ihre seltsamen Instrumente zum Schwingen bringen. Doch die Wirkung ging unter im organisatorischen Chaos. In der fein herausgeputzten Halle des einstigen aber in Teilen noch arbeitenden VEB-Kabelwerks Oberspree wartete der eine Teil des Publikums frierend auf den anderen auf dem Eiswasser anschwimmenden. Benedict Masons Musik im Raum, geplant als einer der Hauptevents des „MaerzMusik“-Festivals, brachte ganz andere Emotionen zum Schwingen.
Dabei hatte die „MaerzMusik“, das Festival für „aktuelle“ Musik der
Berliner Festspiele, ohnehin sich in der Hauptsache südlicheren Zonen
gewidmet, der zeitgenössischen Musik Brasiliens. Zu bewundern war da etwa
Tato Tabordas Ein-Mann-Orchester Geralda. Allerlei Streich-, Schlag- und
elektroakustische Instrumente stehen dem Musiker zu Gebote. In einem
Gerüst, wie in einem Cockpit sitzend, bedient er insgesamt 70
Klangquellen. "Tato arbeitet auch sehr viel mit brasilianischen Gesten und
Rhythmus, dieser Musik von Straßenmusikanten. Es ist eine sehr bildhafte,
eine sehr schöne Musik." So Silvia Ocougne, Mitkuratorin des
Festivals im Festival, Musica Brasileira Descomposta. Gemeint ist ein
Spielen mit den Mitteln populärer brasilianischer Musik, die gleichsam „de-komponiert“
werden. "Das ist ein Versuch, nicht einfach kritisch, ein bisschen mit
Abstand auf die brasilianische Musik zu gucken und zu versuchen dann
eigene Wege zu finden."
Wie etwa Walter Smeták. In den 30-iger Jahren musste der in der
Schweiz geborene tschechische Cellist emigrieren nach Brasilien. Er begann
dort die lokale Musik zu studieren und auf selbst gebauten, teils wie
Skulpturen wirkenden Instrumenten zu improvisieren. Es ist eine ganz
einzigartig nord- und südamerikanische sowie europäische Strömungen
integrierende Musik. Vierteltönig mikrotonal beginnend auf Gitarren,
greifen die Musiker dann aber auch zu ganz anderen Instrumenten. Teilweise
elektronisch verstärkt, bekommt das fast den Charakter einer Jam-Session.
Als Re-Mix versteht sich Musik generell in Brasilien. Sie ist wie das
Land: eine Mischung europäischer, afrikanischer und indianischer Kulturen.
"Dieser Mix ist in der Kultur drin. Man bestrebt immer, eine bestimmte
Kultur zu kopieren. Man schafft es nicht. Deshalb schafft man vielleicht
neue oder andere Wege." Am bekanntesten hierzulande noch Heitor
Villa-Lobos, anfangs ein sehr innovativer Komponist, der nach einem
Aufruf 1922 zu mehr National-Bewusstsein sich zu interessieren begann für
„Choro“. "Choro bedeutet: Heulen", erläutert Silvia Ocougne. "Es ist Musik
zum Heulen. Choro waren am Anfang Mazurken, Polkas, die von
einerbestimmten Besetzung gespielt wurden."
Hans Joachim Koellreutter, ein ebenfalls vor den Nazis geflohener deutscher Komponist, machte in den 30-iger Jahren bekannt mit Schönberg und Webern. Es ist der strenge akademische Stil zum Teil noch heute. Jüngere Komponisten indes experimentieren mit einer Art Post-Techno. Chico Mello etwa hat mit Destino das Oito („Schicksal um Acht“) eine Parodie auf die in Brasilien besonders beliebten Fernseh-„Telenovelas“ geschrieben. Die Bestandteile einer solchen Kurz-Seifenoper versucht Mello in immer neuen Wiederholungen herauszupräparieren. Das Geschehen auf der Bühne – eine Familie wartet auf die verschwundene Tochter – wird per Live-Video verdoppelt. Das hat durchaus komische Momente zumal im kreischenden Singsang der Tante. 90 Minuten allerdings können lang werden. Beim Musiktheater vertun sich die Berliner Festspiele noch immer. Zu Ende ging die „MaerzMusik“ am Sonntag Abend mit der Aufführung von Dieter Schnebels Sinfonie X in einer neuen, auf über drei Stunden Dauer erweiterten Fassung. Es ist eine Art „opus summum“, anknüpfend an Mahlers „Lied von der Erde“. Schnebel wird am Montag (14.03.05) 75 Jahre. Das Ende der Aufführung um Mitternacht leitete über in eine Gratulationscour.
Merkwürdig gezierte vogelartige Stimmen hört man. Dazu gezeigt werden
Bilder einer Stadtlandschaft: Wolkenkratzer-Schluchten, Fassaden von
Fenstern wie Bienenwaben, leere Parkhausauffahrten, Menschen in langen
Kaftanen am nächtlichen Strand oder der Arm, die Hand eines Tänzers wie
schwebend im Raum. Das alles erst in ruckartig zusammen geschnittenen,
dann in wie zu Farbklecksen verschwimmenden Bildern. Projiziert werden die
mal parallel, mal abwechselnd auf ein kaleidoskopisches Oktogon von
Leinwänden über den Köpfen der Musiker. Interzone heißt das etwa
80minütige Werk von Enno Poppe nach einem Libretto von Marcel Beyer und
mit den Videos von Anne Quirynen. Was den jungen Komponisten
besonders interessiert hat bei dieser Konstellation?
Literarische Vorlage für Interzone waren Texte von William S. Burroughs, entstanden in den 50iger Jahren auf der Überfahrt nach Tanger. Notizen, aus denen dann sein Roman Naked Lunch entstanden ist. Die Beschreibung eines Mannes bei der Bienensuche auf dem Weg in die Berge. Die Bilder entstanden überwiegend in Chicago, der Heimatstadt von Burroughs. Sie zeigen Übergangszonen divergierender Kulturen. Streng vermieden sind alle weiteren anekdotischen Anspielungen. Die Autoren versuchen von dem zentralen Begriff bei Borroughs auszugehen.
In einer Art Zwischenzone des Übergangs, der Selbstfindung navigieren auch die Berliner Festwochen, die mit diesem Auftragswerk eröffnet wurden auf der Hinterbühne des Hauses der Berliner Festspiele. Vor allem mit Zeitgenössischem, produziert oft mit großem technologischem Aufwand, versuchten sie sich nach der vom damaligen Philharmoniker-Intendanten Franz Xaver Ohnesorg herbeigeführten Trennung der Programmplanungen zuletzt neu zu profilieren. Festspiele-Intendant Joachim Sartorius:
Zwar sind auch eher traditionelle Konzerte heuer eingeplant mit einer Gegenüberstellung etwa von Werken der überwiegend in Paris lebenden finnischen Komponistin Kaija Saariaho mit solchen von Claude Debussy. Und über drei Abende verteilt erklingen sämtliche Klavierstücke, Nummer 1 bis 17, von Karlheinz Stockhausen. Im kommenden Jahr allerdings will man dann einen wieder anderen Kurs steuern. Ran an Sir Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker. Mehr Glanz hatte ja Kulturstaatsministerin Christina Weiss für die vom Bund in der Hauptstadt finanzierten Festwochen eingefordert.
Halbhoch hängen vor wassergrünen Blindfenstern in einem schwarz
ausgeschlagenen runden Raum fünf Liegen. Darauf Spieler, die akustisch
untereinander vernetzt sind. Ein Computer registriert ihre Hirnströme.
Gesteuert wird das System durch die Wahrnehmungen der Spieler und die
Geräusche der Besucher im Raum. Brain study heißt diese
Performance-Installation von Julian Klein. Sie war das sozusagen „Hirn“
des Festivals und tickte unter der Hauptbühne des Hauses der Berliner
Festspiele. Eine andere auch als Performance vorgeführte Installation war
zu besichtigen im Hamburger Bahnhof. Code Switching von Ana Maria
Rodriguez, Melita Dahl und Ute Wassermann ist eine psycholinguistische
Studie, die kleinste stimmliche wie optische Regungen eines
Gesichtsausdrucks als Material verarbeitet.
Festival für „aktuelle Musik“ nennt sich die von den Berliner Festspielen
nun schon zum dritten Mal veranstaltete MaerzMusik im Untertitel. Seit
Anbeginn war man bestrebt, Publikumschichten auch aus benachbarten
Bereichen der zeitgenössischen Kunst für die neue Musik zu interessieren.
In diesem Jahr lud man Schüler verschiedener Schultypen und Altersklassen
ein, ihre Improvisationen oder Gemeinschaftswerke vorzuführen, bei denen
sie etwa mit professionellen Künstlern als Mentoren nach Modellen von
Cage und Stockhausen mit sichtbarem und hörbarem Eifer und Spaß Klänge,
Geräusche, Videos verknüpften. Geplant waren auch Performances mit Hunden
und Vögeln als Hauptdarstellern, aber so ganz parierten die divenhaften
Tierchen nicht.
Säulenheiliger des Festivals war der amerikanische Komponist
Charles Ives,
der vor 50 Jahren starb. Für viele Jüngere, zumal in Amerika, war und
blieb er eine Leitfigur. Etwa für John Cage, aber auch für die europäische
Avantgarde der späten 60iger Jahre. Techniken wie Mikrotonalität, also
Quantelung der Tonskala in kleinstmögliche Schritte, Musik im Raum,
Collage, Montage heterogenster Elemente – vieles hat Ives vorweg
probiert. Der strenge Neu-England-Puritaner, von Haus aus Mathematiker
und Mitbesitzer einer Versicherung, praktizierte in seiner Ästhetik
Offenheit und zugleich politisch-moralische Verantwortung, äußersten
Individualismus und zugleich Verpflichtung auf ein Gemeinwohl.
So manchem lebenden Komponisten wie Frederic Rzewski, früher einer der
vehementesten Vertreter einer politisch engagierten Musik, macht ihn das
auch verdächtig. Rzewski hält Musik für eine „autoerotische Tätigkeit“,
die mit Moral und Politik wenig zu tun habe. Zwiespältig war denn auch
das bei den Diskussionen gezeichnete Ives-Bild. Ives, so Wolfgang Rathert,
Leiter des Symposions, sei ein Komponist „zwischen den Stühlen“.
Einerseits befangen in einem dem 19.Jahrhundert verhafteten Romantizismus
mit seinen utopischen Vorstellungen von Politik und Demokratie,
andererseits ist seine Musik ein „Modell für eine andere Welt“, eine
„nicht-hierarchische, freie, selbst bestimmte Kunst“.
Eine ganz Reihe von Komponisten waren aufgefordert, musikalisch Ives’ Werk
zu kommentieren. Eines seiner Hauptwerke, die sehr aufwändige und darum
selten gespielte IV.Sinfonie, erklang in einem Konzert des
SWR-Sinfonieorchesters Freiburg/Baden-Baden unter Sylvain Cambreling.
Entstanden in den Jahren 1910/16, spiegelt sie zumal im zweiten Satz mit
ihren kaleidoskopisch ineinander verschränkten Ebenen in sich
divergierende amerikanische Wirklichkeit auch von heute: fröhliche
Marschmusik neben frömmelnd Choralhaftem. Und ähnlich das Formprinzip der
von Ives Verehrern immer wieder zitierten Concord-Sonate, exzellent
gespielt am Klavier von Heather O’Donnell, und das zweite Streichquartett.
Immer wieder entdeckt man hier diese sphärenhaften Einbrüche einer
anderen Welt.
Aber auch die Vorbehalte, wie sie Pierre Boulez einst am
prägnantesten formulierte, einer zu wenig durchgeformten Musik werden
nachvollziehbar. Und was das Festival in seiner dritten Ausgabe insgesamt
anlangt - so ganz ist nicht von der Hand zu weisen, was in Bezug auf Ives
und dessen Haltung zur Politik gesagt wurde. Man muss wohl eben viel Autoerotik
entwickeln, wenn man bequem zwischen den Stühlen sitzen will.
Regenzeit im März. Wer immer zu einer der MaerzMusik-Veranstaltungen im
Haus der Berliner Festspiele strebte, durfte des
Installations-Künstlers Paul DeMarinis Liebes-Erklärung ans Wasser
genießen. Mit einem Schirm stellte man sich unter eine der sechs vor
dem Haus installierten Duschen, um die mit Gene Kellys
Musicalhit Singing in the Rain (aus Ein Amerikaner in Paris)
modulierten Regentropfen auf die Regenschirmhaut tropfen hören zu
können. Massiver ging’s zu bei der Eröffnung im Hause. Da lud der
inBerlin lebende Walisische Komponist Richard Barrett ein zu
einer Reise in die schwarzen Löcher des Weltalls. Auf
stahlrohr-geschweißten Hockern und Bänken saß man bei Dark Matter
in dem tentakeligen Environment des Norwegers Per Inge Bjørlo und
hörte die aus einer Art Raumfahrtkanzel dirigierten, teils hinter
Stahlkäfigen geschützten Musiker des australischen
Elision-Ensembles. Dem derzeit in
Berlin lebenden Komponisten geht es, wie er sagte, um eine „vertiefte
Wechselwirkung von Musik und Raum“. Der Zuhörer/Zuschauer freilich
wähnte sich überwiegend verloren in Barretts schwarzen Löchern.
Zum zweiten Mal seit der Übernahme der Berliner Festspiele durch den
Bund gab es nun MaerzMusik, das von Matthias Osterwold
programmierte Zehntagefestival für „aktuelle Musik“. Ein ganzes
„Geflecht von Themen“ habe man aufzubauen versucht mit vielen
„Brückenschlägen, Verbindungen, Bezügen“. So präsentierte man als
weiteren Versuch eines Brückenschlags zwischen Musik und Szene im
Hebbeltheater Roland Pfrengles Bühnen-Raum-Installation An
sich – Bilder / Stille. Auch hier geht es – theoretisch – um die
Wechselwirkung von Gehörtem und Erlebtem. Auf der Bühne agieren dazu
eine Kontrabassflötistin, eine Sängerin und eine Tänzerin, im mit
einer Art Segel quer überspannten Parkett eine Pianistin und zwei
weitere Perkussionisten. Die Sängerin, sonst nur der traditionellen
indischen Musik verbunden, musste sich hier in einem
„Neue-Musik-Rahmen“ bewähren. Einige interessante Klangwirkungen
förderte das durchaus zu Tage. Ansonsten erdrückte auch hier der
theoretische Überbau die schmale musikalische Basis.
Einer der Festival-Schwerpunkte im Konzertbereich galt, von
übergeordneten politischen Erwägungen zunächst diktiert, der Musik der
Baltischen Staaten. Stücke von erstaunlicher Vitalität bekam man da zu
hören. Etwa wenn die Musiker des Gaida Ensembles Vilnius mit Jaura
von Jurgis Juozapaitis oder einem Compas genannten
furiosen Stück von Remigijus Merkelys brillierten, oder wenn
Bläser des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters Berlin im Schauspielhaus die
Sinfonia des Litauischen Komponisten Vykintas Baltakas
intonierten. Eher müde dagegen mit „Apartment House London“ eine
Erinnerung an die Fluxus-Bewegung. Das Vernageln von Klaviertasten in
George Macunias’ #13 (for Nam June Paik) war noch
der originellste Programmteil. Von eruptiver Kraft dagegen im
Kammerkonzert des Elision-Ensembles in der Kleinen Philharmonie die
Interrupted Cycles des Norwegers Jon Øvind Ness mit ihren
rhythmisch durchdringenden repetitiven Mustern. Und wunderbar elegisch
die Passage von Lars Petter Hagen, ebenfalls gebürtig in
Norwegen. Inspirieren hat er sich lassen von Daniel Libeskinds
Gedächtnis-Architektur.
Eine eigene Abteilung des Festivals widmete sich den Zwischenbereichen
von Avantgarde, Klangkunst und Klubkultur. „Sonic Arts Lounge“ nannte
sich das Spätprogramm. Minimalistisch, fast im Bereich des Unhörbaren
sind die Mittel, mit denen etwa die in Los Angeles lebende „DJane“
Marina Rosenfeld arbeitet an ihren Vinyl-Plattenspielern. Der
Soundpegel im Publikum lag da meist höher, als das was aus den
Lautsprechern tönte. Massiver mit wummernden Bässen geht’s zu bei
Frieder Butzmann. Der hatte einen Gruß ans „Generalbasszeitalter“
sich ausgedacht. Für eine „barocke Party“ hat er Samples aus schon
etwas betagterer Musik zusammengestellt, die er zerhackt, spreizt,
mischt. Dass man Musik in jenen Zeiten „auch nicht so wie im
19.Jahrhundert im Konzertsaal genossen hat“ sondern in Räumen, „wo man
auch getrunken und gegessen hat“, ist für Butzmann allerdings auch nur
eine periphere Begründung.
Mit der „Sonic Arts Lounge“ wollte man erinnern auch an Versuche mit
Live-Elektronik in den 60-iger Jahren. Durch die Re-Mix-Bewegung im
Pop hat das Feld neue Aufmerksamkeit gefunden. In einem Symposion
beugte man sich über die Erscheinungen. Musik über Musik – so neu ist
das nämlich nicht. Johann Sebastian Bach etwa hat durch
Umarbeitungen sich die Musik seines Zeitgenossen Antonio Vivaldi
angeeignet. Strawinsky filterte aus der Adaptation des
spätbarocken Kollegen Pergolesi seine Pulcinella-Suite.
Karlheinz Stockhausen etablierte mit seiner Telemusik eine neue
Art von Weltmusik. Kompliziert wird es, wenn urheberrechtlich
geschützte Werke „remixt“ werden sollen. Die Bearbeitungsrechte ab der
Kleinsten geschützten Einheit, der Melodie, liegen beim Autor.
Christian von Borries,
der sich mit seinen ironisch-provokant „Musikmissbrauch“ genannten
Auftritten schon manch blutige Nase geholt hat, spricht lieber von „Replay“
mit „Aliassen“, einem Begriff aus der Computerbranche. Wo immer er im
Kopf eines Komponisten den elektronischen Sampler am Werk wähnt,
greift er ein in die Zeitstruktur, will das verstärken mit
eingeschobenen Loops.
Eingeladen zum Festival war indes auch der Altmeister dieser Technik,
Robert Ashley.
Celestial Excursions heißt ein Werk, das er zur Uraufführung
mitgebrachte aus New York. Auf der Bühne im Hebbeltheater sitzen dazu
fünf Darstellerinnen und Darsteller an kleinen Tischchen in der
Diagonale. Vornweg der Autor, hinten erhöht ein Pianist auf einem
Podium. Daneben eine Tänzerin/Darstellerin, die sich von einer großen
Kleiderstange bedient mit immer neuen Kostümen. Ihre Aktionen werden
per Live-Kamera vervielfältigt perspektivisch auf eine Leinwand
dahinter. Mit seinen „himmlischen Exkursionen“ will Ashley eine
Imitations-Technik des „Jagens“, wie er es nennt, exemplifizieren. Die
Texte, die da quasi-rezitativisch in einer Art geläutertem Rap-Gesang
gesungen werden, bettet er ein in live modulierte Tonband-Loops.
Inhaltlich handelt es sich um Lebensbeichten von Außenseitern und
Obdachlosen. Was da entsteht, ist ein freilich fast schon wieder
magisch zu nennender Andachts-Raum.
Insgesamt freilich kam Andacht bei diesem zweiten Anlauf mit dem
Nachfolge-Festival für die einstige „Musikbiennale“ kaum auf. Zumal im
besonders attraktiven musik-szenischen Bereich konstatiert man bei den
Machern eine gewisse Blauäugigkeit. Aufwand und Ertrag klaffen seltsam
auseinander. Schöne Konzepte sind halt noch keine gelungene
Aufführung. Offiziell freilich war man’s zufrieden, auch wenn in den
eher traditionell strukturierten Konzerten viele leere Reihen gähnten.
Bilder, Bilder, Bilder - aus verschiedenen Zeiten und Ebenen. Lebende Bilder mit Musikern, die auch Tänzer, Darsteller sind (Mitglieder des "Ensemble Modern"). Die Bilder waren zuerst in der Fantasie, sagt der Komponist Heiner Goebbels. Zum Beispiel aus dem Mittelalter: Figuren in Halskrausen wandeln palavernd durch gotische Spitzbögen. Ein Schauspieler (David Bennent) erklimmt einen Tisch als Giordano Bruno und räsoniert über Hierarchien, über Minima und Maxima, die Balance der Gegensätze.
"Oper" nennt Heiner Goebbels seine Landschaft mit entfernten Verwandten, uraufgeführt im Oktober 2002 in Genf, jetzt als Deutsche Erstaufführung im Haus der Berliner Festspiele. Oper – das ist für den 50-Jährigen: Zusammenspiel von Sprache, Musik, Gesang, Licht, die komplexeste Form des Theaters. Und zugleich auch das, was er nicht möchte: ein Tummelplatz von Inszenierungs-Clichés. Aus denen will er heraus. Und doch spürt man die Mühe, wie er als sein - à la Stockhausen - eigener Regisseur Spannung in die Bühnen-Vorgänge zu bringen versucht und das produziert, was er vermeiden will: als eigentlich Nur-Komponist mit letztlich szenischen Laien.
Texte verschiedenster Herkunft sind hier ineinander montiert. Sie kreisen um die Themen Krieg, Kampf der Kulturen, Balance von Schönheit und Schrecken.
Warum braucht Goebbels überhaupt Texte, wo es ihm eigentlich um Bilder geht und man manchmal den Eindruck hat, die Texte sollen eine mögliche Leere der Bilder füllen?
Überraschend Goebbels’ Antwort darauf, was denn das besondere Neue sei an dieser seiner "Oper" im Unterschied zu seinen bisherigen Musik und Szene verbindenden Arbeiten.
Helikopter hat er fliegen, Kriege führen, Parlamentsschlachten
schlagen lassen für seine sieben Tage aus LICHT. Nun lässt
Karlheinz Stockhausen Engel prozessieren, und das meint er auch
so. Sieben Gruppen sind aufgeboten, sechs zu sechs Frauen und/oder
Männern, dazu ein Gesangs-Quartett. Jede Gruppe repräsentiert einen
der Tage. Jede Gruppe singt in einer anderen Sprache. Jede Gruppe ist
eigens gewandet. Die Montagssänger singen in Hindi und tragen
lindgrüne Gewänder; ihr Tag ist der des Wassers. Die des erdigen
Dienstag singen chinesisch und tragen hellrot. Die Mittwoch-Sänger,
die Sänger des Lebens, tragen zitronengelb und singen spanisch.
Hellblau ist der Donnerstag, geweiht der Musik, und man singt
englisch. Arabisch klingt’s am Lichttag,
dem Freitag, mit der Farbe orange. Für Samstag, den Tag des Himmels,
ist die Sprache Kiswahili und die Farbe dunkelblau reserviert. Die
Quartettgruppe der gleichsam Erzengel wandelt in Gold, und singt zum
Tag der Freude auf Deutsch: ‚Freut euch, Gott liebt uns, jubelt! Gott
lenkt uns, Gott hört uns, singet, danket, Gott hilft uns’, so die an
den frühen Gesang der Jünglinge anschließenden Schlussworte.
Wirklich gesungen wird hier allerdings fast nicht. Vokal Geräusche
produzieren, mit der Zunge schnalzen, Kichern, gelegentlich sogar auch
Psalmodieren sind die Aktionen, die den Sängern abverlangt werden. In
ihren knallbunten kuttenartigen Gewändern mit einer antennenartigen
lila Blume am rechten Schulterblatt, die sie am Ende am Altar
ablegen, wallen sie wiegenden Schritts wie mittelalterliche Mönche
durch die Gänge und über die Emporenstege der Berliner
Heilig-Kreuz-Konzert-Kirche in Kreuzberg. Dabei müssen sie auch
seltsame, von Heiligenbildern und Heiligenskulpturen abgeguckte Posen
mit ihren Händen vollführen, wie: die Handflächen öffnen, die
Zeigefinger strecken, Daumen und Zeigefinger zum O rollen, oder die
Handkanten wie für einen bevorstehenden Schwertstreich in
Habachtstellung bringen.
Die Gestensprache ist wie immer bei Stockhausen in seinen
musiktheatralischen Ergießungen die schwächste weil unprofessionelle
Schicht in seinen Werken. Aber das ist ja mit Regieanweisungen von
vielen Komponisten so. Umso frischer die musikalische Sprache. Dabei
lenken die Gruppen weitgehend sich selber durch einen Vorsänger, der
allerdings optisch verbunden ist mit einem zentralen Dirigenten, der
die Gruppen synchronisiert. Den Grundklang liefern dabei in Reihen zu
je acht Sängern um das Publikum herum im Carre gruppierte Choristen.
Über elektronische Tongeber empfangen sie per Minikopfhörer die
Frequenzen. Die prozessierenden Engel nehmen die Töne ab von einer
Stimmgabel, die sie wie Kettenschmuck um den Hals hängen haben.
ENGEL-PROZESSIONEN ist die zweite Szene des SONNTAG,
dem Schlussstück von Stockhausens 7-teiligem, monumentalem LICHT-Zyklus.
Uraufgesungen wurde das 35-Minuten-Teilopus wenige Tagen zuvor im
Concertgebouw Amsterdam mit dem perfekten Niederländischen
Rundfunkchor. Die zweite Aufführung jetzt bildete den Abschluss einer
Stockhausen-Reihe der Festwochen - kleine
Wiedergutmachung für Stockhausens politischen Ausrutscher und die
Folgen im Vorjahr?
Zugleich war dies der Abschluss der Festwochen überhaupt, ein kleiner
Höhepunkt wenigstens nach 2 ½ eher müde dahin plätschernden Monaten,
für die man den Begriff Festwochen gar nicht mehr in den Mund
nehmen mag.
Konzentration war einst versprochen von Joachim Sartorius und
seinem Team bei Amtsantritt. Ein Kurzsprint. Es wurde ein Marathon,
und die Durststrecken bis zum nächsten "Event" dehnten sich immer
länger. Über elf Wochen verteilten sich die Programm-"Inseln", ins
kaum noch Wahrnehmbare diffundiert,
atomisiert. Was darf man erwarten von Festwochen?
Zum Beispiel die theatralische Realisierung von Werken der
Größenordnung wie Stockhausens LICHT-Zyklus.
Liegt’s am mangelnden Geld; liegt’s am Festspielhaus, das man
bespielen muss und mit dem wenigsten, was eingeladen wurde, doch
bespielen kann, dass man das nicht tut? Als bloßes Begleitprogramm zum
laufenden, finanziert aus nur anderen Schatullen, macht die
Institution in der Stadt jedenfalls wenig Sinn. Der Diskussionsbedarf
nach diesem "verpufften" Jahrgang ist dringend. Und wenn’s der Sache
nützt, auch mit Engelszungen.