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Mavra

Privatisierter Staatsterror

Don Carlo an der Berliner Staatsoper

13.06.04

Die hohen Herrschaften dinieren. Militärisch korrekt das Auftragen der Speisen durch die Küchenbrigade. Drum herum sitzen wie in der Kirche Volk und Klerus. Vor dem Tisch kauern am Boden von Foltermalen gezeichnete Ketzer-Fleischbündel, die Füße an von der Decke herabhängenden Seilen gebunden. Später nach der letzten Ölung mit Benzin aus dem Kanister werden sie baumeln an den Seilen wie Serrano-Schinken. Und schnittig gekleidete Herren in dunklen Anzügen zücken vor der versammelten Gemeinde die Feuerzeuge zum Autodafé, derweil der König die Fleischportionen zum Hauptgang abteilt.

Die jüngsten Bilder vom privatisierten Staatsterror sind eingearbeitet in Philipp Himmelmanns Inszenierung von Verdis Don Carlo an der Berliner Staatsoper. Dabei geht es sehr privat, fast intim zu in dieser Version des Verdischen Nachdenkens über große Politik als private Machtkämpfe. Man spielt die dafür am besten geeignete so genannte Mailänder Fassung. Ein einziges Requisit genügt Bühnenbildner Johannes Leiacker, um die Szene zu charakterisieren: ein weiß gedeckter Tisch auf einem von unten grell erleuchteten Podest. Er ist Frühstückstisch, Büro, Bett, Versteck, Katafalk und Altar. Die wie eine Camera obscura hinten sich öffnende und wieder sich schließende Szene ist Schlafgemach und Kirche, Wohn- und Speiseraum in einem.

Mit einer Frühstücksszene wird die Oper eröffnet. Philipp und Elisabeth sitzen da an der Längsseite, der Infant und Eboli einander gegenüber an der Schmalseite. Später versucht die Eboli auf diesem Tisch den Infanten zu verführen. Der König steigt dort von der Eboli herunter, bevor er seine Erkenntnisse über die Beziehung zur Königin zum Besten gibt „Sie hat mich nie geliebt“. Rodrigo alias Posa wird auf dem Tisch erschossen und fällt dann etwas melodramatisch theaterblutend zu Boden. Die Königin zieht hier die Summe ihres vereinsamten Lebens als eigentlich dem Sohn Carlos versprochene, dann vom Vater Philipp aus machtpolitischen Gründen angeheiratete dritte Ehefrau, die den Verlust der Heimat Frankreich zu beklagen hat. Der spukende Geist von Karl V setzt sich mit zu ihr an den Tisch.

Und schließlich drängt sich auch der Großinquisitor an die königliche Tafel. Er nimmt den Platz des zuvor abgeführten Carlos ein, der sich seiner Aufmüpfigkeit erinnerte. Der Platz der Eboli gegenüber bleibt am Ende leer. Die Edelintrigantin und Chefin der Sicherheitstruppe, mal im engen Kostüm mit gehalfterter Pistole unterm Arm, mal im verführerischen langen Abendkleid, musste den Hof verlassen. Bei ihrer Ballade von der verschleierten Frau, um die ein Mauren-König wirbt, vernascht sie gerade den Pagen, während die ganze Frauen-Sicherheits-Truppe lüstern zuguckt.

Fabio Luisi findet nach anfänglichen Unsicherheiten bei der Staatskapelle zu einem runden, weichen, aber in den Kirchenszenen auch machtvollen Klang. Von den Sängern kann vor allem René Pape als im Widerspruch zwischen Amt und privaten Wünschen jung gealterter König Philipp beeindrucken. Dalibor Jenis ist der gewiefte Rodrigo. Mit etwas zu starkem Vibrato trumpfen die beiden Frauenfiguren auf, Norma Fantini als mütterliche Elisabeth und Nadja Michael als kalt kalkulierende Eboli. Etwas unfair ausgebuht wurde Jorge Antonio Pita als Carlo; kurzfristig war er (für Ramón Vargas) eingesprungen in die fertige Inszenierung. Auch das Inszenierungsteam sah sich immer wieder kräftigen Buhs ausgesetzt. Dabei ist dieser Don Carlo Himmelmanns vielleicht bisher beste Inszenierung. In der nicht gerade von Großtaten glänzenden Saison der Lindenoper ein doch erfreulicher Leuchtpunkt.


Abgehoben

Henzes Elegie für junge Liebende

22.Mai 2004

Das Werk war mal eines der meist inszenierten von Hans Werner Henze. Der Komponist selbst hat sich wiederholt daran versucht als Dirigent wie als Regisseur. Die Elegie für junge Liebende war für ihn ein Stück Aufarbeitung der eigenen Biografie, seiner Erfahrungen mit dem Faschismus aber auch dessen Verdrängung in den 50-iger Jahren und dessen ästhetischer Wegbereiter. Im Mittelpunkt steht der Dichter Gregor Mittenhofer. Nicht zufällig haben die Librettisten Wystan Hugh Auden und Chester Kallman, die Textdichter auch von Strawinskys The Rake’s Progress, diese Figur Stefan George nachgebildet. Und Henzes kraftvolle Musik bedient durchaus die ironisierenden Züge bei der Zeichnung dieses Jugendstildichters, zumal wenn er seine Sottisen ablässt über Konkurrenten oder Kritiker.

Wieder mal hat Mittenhofer sich zurückgezogen in seine Bergidylle. Dort versammelt er um sich eine Art Hofstaat mit Menschen, die in einer Art Wahnzustand leben. Da ist die Trinkerin Frau Mack. Vor vierzig Jahren hat sie ihren Mann verloren im ewigen Gletschereis. Endlich gibt ihn der Gletscher frei. Da ist die Gräfin von Kirchstetten, seine Mäzenin, die seine Sekretärin mimt. Da ist der Arzt, der sich um seine Gesundheit kümmert. Da ist die junge Geliebte Elisabeth, die ihm ganz ergeben ist. Mittenhofer braucht diese Menschen als Quelle seiner lahmenden Inspiration. Er benutzt sie, er saugt sie aus. Gestört wird diese Zauberberg-Idylle durch den Arztsohn Toni. Er ist angewidert von der blinden Verehrung, die dem „Meister“ hier entgegen schwappt. Aber dass er ihm die Geliebte wegschnappt, irritiert Mittenhofer nur kurz. Schnell wird dem Meisterdichter auch diese Episode Material für ein neues Poem. Er schickt das junge Paar trotz nahenden Schneesturms auf den Berg und in den sicheren Tod. Zurück in der Stadt trägt er sein neuestes Gedicht vor zur Feier seines 60.Geburtstag.

Das Verheizen junger Menschen für den eigenen Erfolg – die Bilder, die man heute dafür finden könnte, wären gewiss sehr viel andere, als die Autoren dieser 1961 in Schwetzingen uraufgeführten Oper sie gefunden haben. Christian Pade als Regisseur und Alexander Lintl als Ausstatter wählen für ihre Inszenierung an der Berliner Staatsoper eine Stilisierung, die den Kern der Geschichte herauspräparieren will; es ist nach Brittens The Turn of the Screw in Frankfurt ihre zweite Opernarbeit. Das Berghotel ist verknappt zum Dachfirst aus Neonröhren. Das im Stück zum „Hammerhorn“ verballhornte Matterhorn wird in Strichlinien skizziert. Beim Tod im Schneesturm dreht sich die Bühne. Man sieht das junge Paar versinken in einer angedeuteten Schneewehe. Eine schöne Metapher durchzieht die Aufführung von Anfang an. Da beugt sich die Alte über das Modell eines Gletschers und spinnt ihren Ariadnefaden. Immer wieder dient Mittenhofer dies rote Knäuel als gleichsam Quelle für seine dichterische Inspiration. Insgesamt sind die Figuren freilich, im Widerspruch zur in Künstlichkeit erstickenden Atmosphäre, eher realistisch geführt. Übersetzungen szenischer Vorgänge gibt es kaum, was die Fantasie beim Zuschauen nicht gerade beflügelt.

Umso gelungener scheint die musikalische Seite der Produktion. Philippe Jordan am Pult der Staatskapelle ist ein höchst präziser und feinfühliger Sachwalter der Henzeschen Partitur. Andreas Schmidt gibt überzeugend den zynisch-berechnenden Meisterdichter, dem es beim Fest-Vortrag seines neuen Gedichts am Ende allerdings die Stimme verschlägt, sodass er nur noch in Vokalisen lallt. Mit luftig-leichter Stimme singt Katherina Müller die Elisabeth. Eine Charakterfigur ist Caroline Stein als Hilda Mack, die nach dem Auffinden ihres toten Mannes am Fuß des Gletschers in halsbrecherische Koloraturen verfällt. Es gab viel Beifall. Am Ende zeigte sich auch Henze selbst auf der Bühne, etwas gebrechlich, sehr langsam gehend. Demnächst wird er 78. Er war sichtlich gerührt. Man spielt in Berlin eine auf knapp drei Stunden eingestrichene Fassung. Zu bewundern an ihr die meisterhafte Instrumentierung dieses Kammerorchesters. Freilich als Stück wirkt die Elegie heute doch etwas sehr abgehoben in dünner Bergluft und seltsam fern. Mehr wie eine Erinnerung.


Sparsam

Schönbergs Moses und Aron mit Mussbach und Barenboim

04.April 2004

Was taugen religiöse Mythen als Bindemittel junger Staaten? Sind sie mehr als ein Stochern im Dunkeln einer nebulösen Vergangenheit? Die Götter jedenfalls waren auch schon mal edleren Metalls als dieser, den Aron da seiner Unisex-Männergesellschaft empfiehlt. Und der des Moses ist und bleibt unsichtbar. Mit Leuchtstäben suchen die Menschen nach einer neuen Leitfigur. Der Ort: ein hohler Baukörper eines Ausreisepavillons mit schräg ansteigendem Boden und umlaufender Galerie. Ihr „goldenes Kalb“, das sie liebkosen, ist eine kopflose Statue, an der sie sich wie Maden weiden – nicht unähnlich der des gestürzten Saddam im April des Vorjahrs. Die Gesichtszüge dieser Figur erinnern indes auch von fern an Arnold Schönberg, den Schöpfer des Werks, auch mal so eine Führer-Figur.

In einem Einheitsbühnenbild nach eigenem Entwurf lässt der Intendant der Berliner Staatsoper, Peter Mussbach, Schönbergs unvollendete Oper Moses und Aron spielen. Auch für die Kostüme (Andrea Schmidt-Futterer) genügt ein einziges uniformes Modell: Männer wie Frauen, Moses wie Aron stecken in dunklen Anzügen mit weißem Hemd, schwarzer Krawatte und Sonnenbrille. Aus einer dunklen Masse Mensch löst sich anfangs zögernd die Stimme des Moses, die dem Volk „Befreiung“ suggeriert. Langsam beginnt die Starre der Harrenden sich zu lösen. Die Kämpfe hin und her, ob sie nun gehen oder bleiben, ob sie „befreit“ werden wollen oder nicht, dauern bis zuletzt. Die Menschen hinterlassen dem Mann, der sie in seine Wahn-Freiheit führen wollte, am Ende flimmernde TV-Geräte als Ersatz. Bildlos. Moses bleibt sitzen auf der gestürzten Statue, die die Menschen aus der Versenkung holten, einsam, mühsam nach Worten ringend. Kein Bedarf hier an Spirituellem. Kalbfleisch mundet nun mal eher als tönerne Tafeln im Worthülsensalat.

Das Schönbergsche Bilderverbot hat der Regisseur hier wörtlich genommen. Die Aufführung macht das nicht eben prickelnder. Eher das Oratorische in dieser Schönberg-Oper will Mussbach wohl vorführen. Die Texte bekommt man zum Mitlesen auf neuzeitlichen Schrifttafeln oben drüber serviert. Eine gute Idee, wenn auch nicht eine den Abend tragende. Daniel Barenboim am Pult der Staatskapelle bietet einen überraschend durchsichtigen Klang. Die expressiven Ausbrüche der Partitur gestaltet er gleichwohl mit feuriger Wucht. Willard White ist als Moses der perfekte Darsteller einer „Führerfigur“ – er versucht’s halt mal, Pech wenn die Leute nicht wollen. Aron als sein Lautsprecher und Zeremonienmeister hat bei Thomas Moser Rang und Stimme.

Sehr diszipliniert agiert der Chor, der am Ende vom Publikum auch einen Extrabeifall bekommt. Obwohl - etwas differenziertere choreografische Aufgaben hätte die Regie ihm schon zubilligen können. Etwas zu sehr nach dumpfer Masse und Schwarz-Weiß-Schema ist das hier angelegt. Elias Canetti im Programmheft ersetzt nicht die Arbeit auf der Bühne. Man kann natürlich fragen – und sollte es auch zumal nach dieser Aufführung –, wie weit Schönbergs Überlegungen zum Wahren und Bösen, projiziert auf die beiden Führerfiguren und deren Gottesbegriff, heute noch tragen. Der religiöse Staat, wie er sich nach dem Krieg mit Israel etablierte, war für Schönberg jedenfalls kein lohnendes Einwanderungsziel.

Für seine im Kern zwischen 1930 und 1932 entstandene Oper hat Schönberg diverse Schlüsse entworfen und keinen realisiert. Auch nicht 1950, als der Dirigent Hermann Scherchen ihn noch einmal dazu drängte. Hier belässt man es denn auch bei der zweiaktigen Fassung mit Moses’ Schlusswort auf dem unisonen Geigenton „…O Wort, du Wort, das mir fehlt.“ Als Frage an die Relevanz monotheistischer Religionen zumal mit ihrem Auserwähltheitsanspruch wie hier wird das von Mussbach allerdings auch kaum konkretisiert. Er bleibt eher im Allgemeinen. Es ist kein Abend, der unbedingt zum Weiterdenken verführt. Eher lässt man in Gedanken andere Moses und Aron-Produktionen Revue passieren. Etwa die von George Tabori in Leipzig mit ihrem ironisierenden Akzent einst in Leipzig. Oder von Jossi Wieler, der in Stuttgart den Stoff in den parlamentarischen Raum verlegte.

Ruth Berghaus hatte 1987 am Linden-Haus die Oper projiziert auf die Ausweglosigkeit der DDR-Gesellschaft. Die Produktion wurde von den Wendehälsen schleunigst entsorgt, obwohl die Menschen zuletzt Schlange standen nach Karten. Mussbach und Barenboim eröffneten mit ihrer Neueinstudierung die Osterfesttage der Staatsoper. Der Beifall am Ende war nicht gerade überschwänglich, wenn auch doch mehr als höflich. Sparsam eben wie der ganze Abend.


Hoffnung rückwärts

Monteverdis Orfeo mit René Jacobs am Pult

17.Jan. 2004

Der Tod nimmt allen das Werkzeug aus der Hand. Das überheblich-lustige Treiben auf der Bühne verstummt. Orfeos’ Freunde verdrücken sich einzeln. Mit einem Lämpchen in der Hand sucht Orfeo den Weg durch die Dunkelheit. Begleitet von Speranza, der Hoffnung. Die läuft rückwärts und verweist den Sänger unmissverständlich auf die Gesetze der anderen Welt: alle Hoffnung fahren zu lassen. Es gibt kein Zurück. Claudio Monteverdis Orfeo gilt als eine der Inkunablen der Opernliteratur. Vom Thema, von der Musik, von der Zeit und dem Ort der Entstehung her. Orfeo in der Version Monteverdis und seines Librettisten Alessandro Striggio – für den Dirigenten René Jacobs ist es die Parabel menschlicher, künstlerischer Hybris.

JACOBS: Orpheus ist der musische Künstler par excellence. Er ist nicht nur Sänger, er ist auch Komponist und Dichter. Er erfindet alles zu gleicher Zeit, die Worte, die Musik, und er singt sie auch. Er ist so überzeugt von seinem Können, dass er denkt, er könne an den Gesetzen der Natur vorbei.

Orpheus hält die menschliche Leidenschaft der Liebe für stärker als den Tod. Er vergisst in dieser neoplatonisch gewendeten Version des Stoffes, dass die Kunst Himmelsgeschenk ist. Von Apollo wird er am Ende heimgeholt und an den Sternenhimmel versetzt.

JACOBS: Für uns geht das Stück nicht wie man oft sagt um die Macht der Musik, sondern über die Ohnmacht der menschlichen Musik gegenüber der Macht der göttlichen Musik.

Jacobs verdeutlicht diese Idee durch eine der Uraufführungssituation 1607 in einem viel zu kleinen Saal des Mantovaner Palazzo Ducale nachempfundene Aufstellung des Orchesters, wo es verteilt war wohl über mehrere angrenzende Räume. Hier werden die vierzig Musiker dieses überaus reich besetzten Orchesters gesplittet in vier Gruppen im Bühnenraum. Links und rechts des Portals sitzen die das Geschehen begleitenden Musiker, im Graben die Bläser für die Unter-Welt, auf der Hinterbühne leicht erhöht die Streicher für das himmlische Orchester. Dramaturgisch fein abgestimmt werden diese vier Orchestergruppen mit auch überraschenden Echowirkungen, wie sie die Zeit so liebte.

Regisseur Barrie Kosky muss seine auf leicht zu agogischen Übertreibungen neigende Art der Personenführung auf den ersten Akt beschränken. Orpheus kommt da als ein ziemlich arroganter junger Mann auf die Bühne durchs Parkett und versucht gleich von Anfang an mit heftigem Gestikulieren das Geschehen an sich zu reißen. Ständig schreibt er neue Texte, neue Melodien, die die Choristen ihm aus der Hand reißen und nach dem Singen in die Luft verstreuen. Die Überfahrt mit Charon auf der Suche nach Eurydike wird verdeutlicht durch Vögel, Babies, Telefone, Straßenbahnen, die auf Stangen auf die andere Seite gleiten. Wenn Apollo, eine Larve ganz in Weiß, Orfeo am Ende mit einem Lämpchen in den Himmel lotst, muss der Sänger erleben, wie sein Leib zerrissen wird von den Frauen, die er nach dem Verlust Eurydikes nicht mehr zu lieben gelobt hat. Wie ein Narziss sitzt er dann und streichelt die zersprengten Körperteile.

Grandios ist die Art, wie René Jacobs und seine Ensembles, Akademie für Alte Musik, Vocalconsort und Concerto Vocale Berlin, diese Musik frisch zum Klingen bringen. Ein Muster an körperlicher und stimmlicher Beweglichkeit der junge französische Bariton Stéphane Degout als Orfeo. Die Barocktage „Cadenza“ im Januar, zu deren Auftakt diese Koproduktion mit den Innsbrucker Festwochen erklang, sind mittlerweile zum Highlight im Spielplan der Berliner Staatsoper geworden. Zumal durch die überaus sorgfältige musikalische Vorbereitung. Das Publikum dankte mit einhelligem Applaus.


Stiller Brüter

Pique Dame („pikowaja dama“) mit Placido Domingo als spielsüchtigem Hermann

05.Dez. 2003

Die Aufführung hat etwas Kaltes und will doch zugleich etwas von laterna magica. Schwarz und Rot, die Farben des Spiels, sind die Grundfarben. Verdeutlicht in geisterhaften Figuren, die gleich zu Beginn am Spieltisch sitzen und die Karten mischen: Füchse, in der Ikonografie des polnischen Regieteams tückische Satansbraten.
Peter Tschaikowskys Pique Dame, die Geschichte von der alten Gräfin, die einst als „Moskoviter Venus“ in den Pariser Spielhöllen ihr Unglück suchte, und von Hermann, dem Deutschen, der skrupellos hinter ihr Geheimnis der drei Karten zu kommen sucht, hat man an der Berliner Staatsoper neu inszeniert als Koproduktion mit dem Warschauer Teatr Wielki. Regisseur Mariusz Trelinski und sein Team mit Bühnen-, Kostümbildnern und Choreograf versuchen eine Aufführung aus einem Guss. Indes wirkt sie merkwürdig steif und leblos, was nicht weiter verwundert bei der Produktionsweise. Der vom Film kommende Regisseur hat sie vorgeprobt mit Statisten zuhause und dann umkopieren lassen für die Sänger der Lindenoper. Ein Unding. Insbesondere die chorischen Aufmärsche wirken arg gestellt.

Anders als der frühe Eugen Onegin ist Pique Dame kein Werk, das Tschaikowsky schrieb als inneres Bekenntnis, sondern eine späte Auftragsarbeit der Petersburger Hofoper. Manches erscheint hier wie ein Aufguss aus zweiter Hand. Nicht nur wurde die Puschkinsche Handlung mit ihrer kühlen Ironie ins Schicksalhafte verschoben. Der Hofopern-Pomp, den Tschaikowsky eigentlich nicht ausstehen konnte, wird hier geradezu zelebriert, herein gezwungen durch Verlegung der Handlung in die Regierungszeit Katharinas der Großen. Die erscheint denn hier auch als madonnenartige Riesenpuppe, der man artig huldigt. Gleichwohl versucht Regisseur Trelinski die Handlung wieder stärker an die Puschkinsche Vorlage anzunähern. Was dabei herauskommt, hat freilich zumal mit den Eingebungen seines Choreografen Emil Wesolowski oft kunstgewerbliche Züge. Geradezu abgeschmackt, was dem Damenchor an Frauen diskriminierenden Bewegungsmustern bei der Gutenachtmusik für die Gräfin abverlangt wird.

Umso emotionsgeladener dirigiert Daniel Barenboim die Partitur mit seiner klangschön aufspielenden Staatskapelle im Graben. Freilich die Stimmen werden oft überdeckt, die kammermusikalischen Möglichkeiten zuwenig ausgekostet. Für den Star des Abends, Placido Domingo in der Rolle des Spielsüchtigen Hermann, ist das zwar kein Problem. Mit gewohnt bewundernswerter Intensität gibt er diesem stillen Brüter Kontur. Warum in Puschkin-Maske mit den berühmten afrikanischen Löckchen, ist allerdings nicht so recht nachvollziehbar. Einige Probleme mit den Höhen hat Angela Denoke. Angestrengt klingt ihre Stimme. Sie spielt die Gräfin-Enkelin Lisa, an die Hermann sich heran pirscht, um der Alten auf einer Art Zahnarztstuhl (Bühne: Boris Kudlicka) sozusagen das Karten-Geheimnis zu ziehen. Ute Trekel-Burckhardt gibt die bei dieser Operation ihr Leben aushauchende und als Marienfigur die Geheimnisse dann doch ausplaudernde attraktive Gräfin mit fast jugendlicher Frische. Roman Trekel singt den an Gremin gemahnenden Gegenspieler Hermanns, Fürst Jeletzki.

Das Publikum konnte sich mit Applaus vor allem für die Sänger und Musiker erwärmen. Höflich mit einbezogen wurde das polnische Inszenierungsteam. Ob der politisch korrekte Vorstoß ins Nachbarland sich künstlerisch auszahlen würde, darüber war man schon vorher skeptisch. Aber der Leitung der Staatsoper war diese um den Star Domingo herum gebaute Produktion gewiss ein inneres Anliegen, da sie bei der angestrebten Reorganisation der Berliner Opernlandschaft partout nicht mit „stiften“ gehen will und mit allen Mitteln versuchte, doch noch als „Bundes(leit)oper“ zu reüssieren. Mit derlei Produktionen?


Sphinx in der Wohnküche

Doris Dörrie rückt dem Turandot-Mythos zu Leibe

27.Sept 2003

Eine Mischung aus Hexe und Lara Croft scheint diese Prinzessin. Katzenhaft abwehrbereit nähert sie sich in ihrem schwarzen Troddel-Knautschlack-Lederkleid den männlichen Bewerbern. Das Samurei-Schwert ist immer griffbereit. Ihr Bild pflegt sie zu kommunizieren über das Fotodisplay eines Riesenhandys. Die Todesurteile signalisiert sie wie die Kaiser in Rom: Daumen nach unten. Der Eispanzer, in den sie sich gürtet, sind ihre Fantasien sexueller Bedrohung. Ein riesiges Plüschbärchen, das sie als Maskottchen auch am Gürtel trägt, ist ihr sphinxenhafter Mutterkuchen. Aufs Dach ihres Häuschens flüchtet sie sich, als der seltsame Fremde unerwarteterweise ihre drei Rätsel löst.

Calaf ist dieser Wundertäter im königsblauen Trainingsdress. Im Stück figuriert er als Sohn des mythisierten Tartarenfürsten Timur. Der ist hier ein bandagierter Schwerstbeschädigter, der mehr kriecht als dass er selbst noch an Krücken schleicht. Calaf nimmt die Eigenheiten der jungen Dame, die schon ganze Batterien von Männern in den ungemütlichen Zustand von Skeletten verwandelt hat, von der sportiven Seite. Keck wählt er ihre Handynummer, dreimal die vier, und luchst sie sie zum Duell der klugen Köpfe. Das Erwachen des Paars am Ende in der standardisierten Wohnküche eines Hochhausblocks von Peking ist mehr als ernüchternd. Auch „sie“ hat sich nun den für sie bereit hängenden Partnerlook-Sportdress übergezogen. Der Papa im kackbraunen Plastiklederanzug samt Hut (wie Mielke selig) trinkt mit dem siegreichen Bewerber das Morgenbier und verdünnisiert sich alsdann dezent. „Er“ schaut „ihr“ in die Augen, sitzend; „sie“ schaut „ihm“ in die Augen, stehend. Das Märchen ist ausgeträumt. Ob sie glücklich werden in ihrer neonerleuchteten Fickzelle?

In der Comicsprache japanischer Mangas versucht die Regisseurin Doris Dörrie mit ihrem Ausstatter Bernd Lepel die Psyche der Puccinischen Prinzessin Turandot fantasiereich zu ergründen. Fallschirmspringer schweben im Dreierpack als mögliche Glücksbringer über der Szene. Skelette wie Röntgenbilder werden sehr eindrucksvoll als Feindbilder gleich zu Beginn an die Wand projiziert. Eine Skelett-Gruppe führt auch schon mal ein einladendes Todes-Tänzchen auf. Unschuldige Kinder in weißen Plastikkutten mit ausladenden Armen und ödipal geblendeten Augen trippeln wallend durch den Raum und entsorgen die Toten. Im Programmheft liest man Kluges über weibliche Hysterie, Genderforschung, die gewaltbetonte Formensprache und Ästhetik der modernen Jugendkultur. Plastisch wird es nicht recht auf der Bühne.

Mit Così fan tutte hatte die Filmemacherin Doris Dörrie an der Berliner Staatsoper als Einspringerin im szenisch fast schon vergeigten Mozart-daPonte-Zyklus vor zwei Jahren debütiert als Opernregisseurin; die Arbeit ist jetzt auf DVD erhältlich. Hatte sie dort ein turbulentes Kammerspiel entfesseln können, muss sie hier eine Batterie von Chören im Raum bewegen. In eine maschinell standardisierte Formensprache flüchtet sich Dörrie dabei. Auch das Minister-Dreigestirn Ping-Pang-Pong ist so geführt. Auf die Dauer wird das freilich etwas schal. Turandot ist festgelegt auf das katzenhafte Bewegungsrepertoire von Kampfsportarten. Lediglich Calaf darf sich einigermaßen „natürlich“ bewegen. Zwischendurch schlüpfen auch die drei Tischtennisball-Minister aus ihren futuristischen Masken. Dann mimen sie „normale“ Jugendliche, die mit ihren Mädchen auf pinkfarbenen Rollern zur Liebeskür beim Picknick ins Grüne fahren, bis die Trompeten wieder zur Pflicht in den Palast rufen.

Kent Nagano dirigiert die von Luciano Berio vervollständigte Fassung der von Puccini unvollendet hinterlassenen Oper. Klanglich bleibt das trotz einiger Zuspitzungen doch etwas stumpf. Sinnvoll nutzt die Regisseurin das instrumentale Nachspiel als Ankunft des jungen Paares im Heute. Sängerisch kann vor allem Dario Volonté als Calaf überzeugen mit einem sehr geschmeidigen Tenor. Etwas unausgeglichen in den Lagen wirkt die Turandot der Sylvie Valayre. Eine anrührende Liù, die Calaf heimlich liebende und seine Identität schützende Sklavin, ist Elena Kelessidi. Alles in allem ist das ein ambitionierter Ansatz, das von Giacomo Puccini selbst ungelöst gebliebene Turandot-Rätsel zu lösen. Dass die Unternehmung nur momentweise fesselt, hat sicher mit dem Scheitern Dörries an der Monumentalität der Chöre zu tun. Zu sehr hat Dörrie sich da wohl auch auf die Wirkung der Ausstattung verlassen. Auch ist das Changieren zwischen den Erzählzeiten nicht überzeugend gelöst. Im Publikum gab es denn auch am Ende hartnäckige Buhs, auch für Nagano, trotz der ansonsten überwältigenden Zustimmung. In München wollen beide sich denn auch wieder sehen. Demnächst.


In der Wanne: Punkfleck mit Strubbelhaar

Reinhild Hoffmann inszeniert "Ariadne auf Naxos"

05.Juni 2003

Der Superman, der hier die triste Ariadne von ihrer nackten Insel retten soll, kommt im getigerten Goldlamee-Jacket mit Elvis-Tolle angerollt auf dem Skateboard. Eine Mischung aus Trockenwelle, Steilstrand und Skaterwanne zeigt das Bühnenbild von Hartmut Meyer mit Strandkabinen und Landungssteg oben auf dem Rim. Am Seil muss der Göttergatte sich herunterhangeln zu der am Strand brutzelnden Ariadne. Nur so recht wissen will die von ihm nichts.

Durch Vermischung der Gattungen U und E wollten die Autoren Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss die Gattung Oper mit Ariadne auf Naxos einst erneuern. Die Tänzerin, Choreografin, Regisseurin Reinhild Hoffmann macht das kenntlich vor allem an den Frauenfiguren. Ein sternbildartiges Standbild ihrer selbst im schwarzen Kleid (Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer) ist bei ihr die Ariadne, kopfüber hängend auf dem berühmten Möbel ihres Tanzklassikers Solo mit Sofa. Der Arm gefriert Ariadne wie zur Statue auf dem Treppchen, als Gott Bacchus sich ihr nahen will. Das Gegenbild: Zerbinetta, die leichtlebige, leichtfüßige Anführerin der Akrobatentruppe. Ein heller Punkfleck mit Strubbelhaar ist sie, immer auf der Suche nach der Imitation ihrer selbst. Die Männer nimmt sie, wie sie kommen, sei’s der seltsame Opernkomponist, der seine Werk den Bedürfnissen des begüterten Auftraggebers in Nullkommanix anpassen soll – und es auch, beflügelt gerade durch sie kann -, sei’s ein Bedürftiger aus ihrer Komödiantentruppe. Kurzfristig erobert sie sogar Ariadnes Wartecouch.

Laura Aikin singt diese Zerbinetta mit gelenkig-lockerem Koloratursopran, etwas angestrengt freilich klingen ihre Höhen. Die Ariadne der Lisa Gasteen kann überzeugen vor allem in den sanften, verhaltenen Tönen, ihre Forti kommen denn doch etwas schrill. Auch der Bacchus von Sergej Larin hat stimmlich zu kämpfen. Ausgeglichen und spielfreudig das Commedia-Quartett wie die comedian harmonists auf Tour, im flockigen Tüll die auch schon mal die Männer dackelnden Najaden. Fabio Luisi am Pult leitet die Mini-Staatskapelle weich und schmiegsam, glättet vielleicht zu sehr die aufgerauten Strukturen. Am Ende gab’s Bravos für die Sänger, fürs Regieteam aber auch viele Buhs. Infolge zu knapper Probenzeiten wirkte manches doch zu sehr noch nur angelegt. Aber auch die Entscheidung, das Vorspiel auf engstem Raum vor dem Vorhang zu spielen mit einer fahrbaren Showtreppe als Umkleide, ist wie ein Pfropf. Nur ganz am Anfang wird das Proszenium noch mit einbezogen. Die Sänger beobachten sich gleichsam selbst von dort, geschützt durch Masken – eine schöne Idee, aber nicht weiter vertieft. Und dann den Riesenraum der Bühne mit dem doch sehr dominanten wannenartigen Half-Pipe-Bühnenbild zu füllen, fällt schwer.

Pünktlich allerdings nach zwei pausenlosen Stunden endet die Oper, fast genau um neun Uhr, wie es der die chose bezahlende Herr zu befehlen beliebt hatte. „Von wannen bist Du“, möchte man den Unsichtbaren fragen. Und wie von seinem eisgekühlten Haushofmeister im eisengrauen Plastiklederdress verkündet – wunderbar Thomas Thieme in dieser Sprechrolle -, beginnt dann das Feuerwerk. Zumindest akustisch ist es hier böllerkrachend mitinszeniert.


Die Paparazzi sitzen im Parkett

Verdis "la traviata" mit Mussbach-Barenboim

12.April 2003

Geheimnisvoll, von luzider Fragilität ist das erste stumme Bild, in das dann Verdis Musik der körperlos hohen Streicher gleichsam hinein tröpfelt. Ein violett-silbrig schimmerndes Kleid sieht man zunächst nur auf der ansonsten dunklen Bühne. Der Frauenkörper in diesem transparenten Brautkleid, Violetta, zeichnet sich erst allmählich ab in Umrissen. Dann beginnen auch gelbe Leuchtspuren aufzuschimmern auf dem Bühnenboden wie auf einer Fahrbahn. Und die vor den Orchestergraben gespannte Gazewand, auf der Regentropfen perln, wird kenntlich als eine Art Autofrontglasscheibe. Das Publikum sitzt gleichsam im Inneren des Wagens oder Busses. Die schöne Blonde draußen stöckelt, tänzelt gleichsam durch die Straßen der Nacht. Ein riesenhafter Scheibenwischer markiert jeweils die Szenenwechsel.

Autofahrten über nächtliche Boulevards, Landstraßen oder durch Tunnels simulieren die Video-Beamer immer wieder in dieser Neuproduktion von Verdis la traviata an der Berliner Staatsoper zur Eröffnung der österlichen Festtage. Ansonsten Erich Wonders Bühne leer (Video: Stefan Runge, Anna Henckel-Donnersmarck, Licht: Franz Peter David). Stühle sind später das einzige Requisit. Violetta ist in der Inszenierung des Arztes, Regisseurs und Intendanten Peter Mussbach nicht eigentlich eine Kranke. Wie eine Mischung aus Marilyn Monroe und Lady Diana Spencer bewegt sie sich auf der Bühne, schwankend wie eine Blume gleichsam in Wind- und Regenböen, eine von der voyeuristischen Menge Gejagte. Die Paparazzi sind das Publikum im Parkett und auf den Rängen – allerdings aber nur auf den unteren. Die Sicht für den oberen Rang war wegen des vorgezogenen Proszeniums stark eingeschränkt, und so hagelte es wütende Proteste schon zur Pause. Die vom rechten Weg „Abgedriftete“ ist eine, die den geltenden Normen sich nicht unterwirft. Am Ende schreitet sie erhobenen Haupts in die andere Welt.

 Christine Schäfer als die „traviata“ verkörpert in ihrem duftig weißen Kleid vor allem das Engelhafte dieser "Kameliendame", auch musikalisch mit zerbrechlich leichten Spitzentönen und einer wunderbar eindringlichen Piano- und Pianissimo-Kultur ihrer Stimme. Lediglich in den tieferen Lagen fehlt ihr etwas das Volumen. „Krank“ scheint hier eher die wie Nachtfalter und Zecken sie umschwirrende und beißende Gesellschaft. Ganz in schwarz ist die kostümiert. Die Männer mit Netzen über den Gesichtern, die Frauen mit skurrilen Hütchen (Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer). Wenn sie zum Verdammungsurteil über Violetta sich empören, steigen sie auf die Stühle. Auch Alfredo ist mehr oder minder Teil dieser Gesellschaft, trotzdem er zeitweise rebelliert gegen den Vater, Violetta als seine bezahlte Geliebte denunziert und mit Geld um sich wirft. Rolando Villazon kleidet diesen Alfredo in samten weiche Töne. Erst gegen Schluss wirkt seine Stimme etwas müde, forciert und auch maniriert. Ein so nobler wie auch selbstsüchtiger Vater Germont ist Thomas Hampson. Um Violetta dem Sohn abzuwerben, nimmt er sie auch schon mal selber auf den Schoß und schmeichelt um ihre Liebe.

Das Erstaunlichste dieser Neuproduktion an der Staatsoper ist das Dirigat von Daniel Barenboim. Eigentlich ist er wohl der bessere Verdi- als Wagner-Dirigent. Überwältigend, wie er die Sänger mit der Staatskapelle zu begleiten versteht, das Orchester immer so sorgsam abschattiert, dass die Sänger nie dominiert werden. Die Begeisterung des Publikums am Ende für die Sänger, für die Musiker, für den Dirigenten war einhellig. Geballte Buhs richteten sich auf das Regieteam. Zwar gehört solche Rollenverteilung bei der Publikums-Applausordnung mittlerweile fast zum Ritual, zum Großteil dürfte sie aber auch den eingeschränkten Sichtmöglichkeiten auf die Bühne geschuldet sein. Allerdings hat Mussbachs bestechende Interpretation auch Schwächen. Die Spannung kann er bei der Minimalisierung der Mittel nicht immer durchhalten. Zumal mit dem Chor ist zuwenig individuell gearbeitet. Und auch Christine Schäfers Posen erschöpfen sich dann doch auch bald in Wiederholungen.

Die Arbeit an Verdis la traviata war die erste Zusammenarbeit des neuen Lindenoper-Leitungsteams. Verabredet wurde sie, noch bevor Mussbach zum Intendanten gekürt wurde. Ein Schmankerl sollte sie sein nach den vielen Wagner-Kupfer-Jahrgängen bei den Festtagen mit einem neuen Akzent. Nun dürfte es der Höhepunkt sein an diesem Haus in dieser Saison. Wenn dort auch in Zukunft so harmonisch zusammen gearbeitet wird wie offenbar bei dieser Produktion, darf man sich noch Einiges erhoffen.


Strand-Ausflüge

Händels Rinaldo mit René Jacobs und Nigel Lowery

17.Jan.2003

Die Geschichte um den braven Kreuzzügler, dem der Feldherr Gottfried von Bouillon seine Tochter Almirena als Brauttrophäe verspricht, falls er Jerusalem von den "Ungläubigen" zurückerobert, überziehen Nigel Lowery und sein Choreograf Amir Hosseinpour mit einem Netz von Gags, dass man über den tieferen Sinn der Geschichte nicht weiter nachdenken muss, auch wenn auf aktuelle Anspielungen nicht verzichtet wird. Da wachsen der die Liebesspiele von Rinaldo und Almirena durchkreuzende Zauberin Armida Riesenhände, im Schnabel eines dottergelben Vogels wird Almirena durch die Lüfte entführt, um den armen Rinaldo in tiefe Trübsal zu stürzen, und ihre Verwandlungskünste zeigt die um Rinaldo ebenfalls buhlende Zauberin, indem sie in einen vor einer Strandkulisse geparkten Wagen zur einen Seite als Armida einsteigt und zur anderen als Almirena wieder aussteigt und umgekehrt.

Musikalisch freilich ist das unter der Leitung von René Jacobs ein Fest von hohen Graden. So blitzsauber poliert hat Jacobs diese Partitur von 1711, mit der der junge Händel die damalige Weltstadt der Musik London eroberte, dass man gleichsam mitschwebt auf einer dieser barocken Theatermaschinen. Miah Persson ist eine vogelleichte Almirena, der Counter Lawrence Zazzo ein in den Koloraturen perlender Goffredo. Den Rinaldo singt, etwas zu sehr gepresst, Silvia Tro Santafé. Noëmi Nadelmann gibt reichlich grimassierend die Armida. Mit der Premiere wurden, wenn auch mit eher widersprüchlichen Publikumsreaktionen, die neu etablierten "Barocktage Cadenza" der Staatsoper eröffnet. Sie ersetzen die schon beerdigt geglaubten "Tage der Alten Musik". Weiterhin will man kooperieren mit den Innsbrucker Festwochen, wo diese Produktion in anderer Besetzung erarbeitet wurde. Demnächst mit einem neuen Monteverdi-Zyklus.

Interview

René Jacobs, um Händel haben Sie ja sonst eigentlich immer ein bisschen einen Bogen gemacht. Warum jetzt dies Werk jetzt zu den neuen "Cadenza"-Tagen?

JACOBS: Ich bin nicht jemand, der nur Händel macht. Ich habe viel um Händel herum gemacht, d.h. großartige Komponisten, die jetzt vergessen sind, die Händel beeinflusst haben. Wir haben hier Krösus gemacht von Kaiser, von Scarlatti Griselda haben wir gemacht. Scarlatti war sein zweiter großer Meister. Und das beeinflusst dann auch meine Interpretation von Händel selber. Aber ich habe von Händel Giulio Cesare gemacht, ich habe Flavio gemacht als Opern. In der Staatsoper haben wir Semele gemacht. Und Rinaldo wollte ich machen im Zusammenhang mit Agrippina eigentlich. Beide Opern sind aus der gleichen Periode. Händel war 25, 26 Jahre alt. Mit Agrippina hat er Italien erobert. Aber ein Jahr später ist er schon nach England gegangen und hatte die Chance da, das englische Publikum und den englischen Markt zu erobern. Man soll in dieser Zeit schon über Markt sprechen: Es war die Stadt, die am besten bezahlen konnte. Er hatte nur 14 Tage. Er hatte keine Zeit um neue Musik zu schreiben. Er hat sehr vieles verwendet - schlau war er schon, der Händel -, was er in Italien und Deutschland komponiert hatte. Und er wusste schon, was beim Publikum ankommt und welchen Effekt es beim Publikum hat. Und das erklärt, warum diese Oper so voll ist von Höhepunkten. Es ist wirklich voll von Höhepunkten, von einem zum anderen. Und bei Rinaldo habe ich immer geliebt diese Browadway-Theatre-Effekte. Es ist damals schon ein großes Musical gewesen mit sehr vielen Bühnen-Effekten auf dem Hintergrund der ersten Kreuzzüge. Also auch etwas, was heute aktuell ist. Und das hat alles zusammengespielt in meiner Entscheidung, wir machen Rinaldo.

Die Inszenierung von Nigel Lowery ist "modern", wie man so sagt. Wie funktioniert das?

JACOBS: Ich finde, es funktioniert sehr gut. Ich habe sehr gern mit Nigel zusammen gearbeitet. Er ist nicht allein, es gibt noch einen Choreografen da, Amir Hosseinpour. Was damals eine große Show war, aber auch mit politischen Hintergründen schon damals, weil wenn der Goffredo, der Gottfried von Bouillon, einen Kreuzzug predigt gegen den Islam, um Jerusalem zu befreien, stand schon diese Koalition vom Westen für das British Empire. Und jetzt steht sie für die Koalition, die Präsident Bush versammelt. Und wir waren sehr beeinflusst durch den 11.September. Wobei natürlich nie dieses Lockere und Musicalhafte fehlt. Wenn am Ende der Oper die große Schlachtmusik kommt mit Trompeten und Pauken, und die Bühne soll auch eine Schlacht vorstellen um Jerusalem, dann sind das in dieser Inszenierung Kinder, die das machen.


Goldnase Kunstbetrieb

Schostakowitschs Nase (Nos), ausgestattet von Jörg Immerndorff, inszeniert von Peter Mussbach, dirigiert von Kent Nagano

16.Nov.2002

Am Ende ist das wie ein Wettkampf, wer die Nase vorn hat, wer siegt im Wettlauf um das Potenzsymbol Nase, auf das der aufstrebende Kollegienassessor Kowaljow so plötzlich und unerwartet verzichten musste, und dem der arme Michael Jackson in den diversen Schönheitslabors immer noch hinterher rennt.

Höchst geschickt haben Regisseur Peter Mussbach und der als Ausstatter eingeladene Maler Jörg Immendorff den ruinösen Zustand der Bühnentechnik der Staatsoper umgangen. Der Orchestergraben ist fast bis auf Bühnenniveau hochgefahren. Das 40-köpfige Orchester sitzt in goldenen Kostümen und Käppis locker verteilt im Proszenium. Sie sind das von Immendorff als Kunstprodukt definierte corpus delicti Gold-Nase im blauen Geldsack sprich Kunstbetrieb. Das Proszenium selbst ist Teil der Bühne, durch das die Darsteller huschen auf der Suche nach der Nase. Zwei Hubpodien dienen als Nebenschauplätze dieses von Dmitri Schostakowitsch filmisch geschnittenen Stücks. In die obere Proszeniumsloge rechts eingebaut ein Kübelwagen, der als Kutsche für den Polizeioberst herausgefahren wird, gleichsam schwebend. Auch so kann man polizeiliche Lufthoheit definieren. Die Bühne selbst öffnet sich nur mit geschrägtem Boden für Totalen. Die Kasaner Kathedrale etwa, in der die verselbständigte Nase als Staatsrat drapiert spazieren geht, ist ein von der Ausstellungshalle zum Andachtsplatz der Deutschen sich öffnendes Brandenburger Tor. Die Newa, wo der Barbier die in seinem Frühstücksbrot vorgefundene Nase versenken will, ist die Kunstbörse Köln mit Dom am Rhein. Die Zeitungsredaktion, wo der Assessor Kowaljow eine Anzeige aufgeben will, um vielleicht so seine Nase zu finden, ist das Feuilleton der FAZ mit einer Heerschaar von Radio- und Fotoreportern und einer Tapete, die die Börsensprache der Broker mit ihrer Arm-, Hand-, Fingergestik ziert.

Auch wenn einiges von Immendorffs zeitnaher Ikonografie der Gogolschen Farce schon wieder veraltet scheint, man hat in diesem "Café Lindendeutschland" immer was zu ventilieren und zu schmunzeln. Von Regisseur Peter Mussbach wird es mit einer von der Bühnensprache der Zwanziger Jahre inspirierten Gestik kongenial übersetzt. Der Polizist figuriert etwa in Osama-bin-Laden-Kluft, klettert über Feuerleitern und kratzt sich den Rücken schon mal mit der Knarre. Die wie eine Nutte daherkommende Brezelverkäuferin im Verona-Feldbusch-Dress wird überfallen wie das Opfer gefräßiger Piranhas. Joseph Beuys, Immendorffs verehrter Lehrer, darf auf der Barrikade figurieren in Goldjoppe, Goldfilzgut und Goldhaaren als Goldjunge des Kunstbetriebs. Eine Art Babelturm mit als Fahnenträger obenauf thronender Nase ist die schiefe Ebene, auf die sich alle flüchten, um ihren Mehrwert zu retten und ihn dann doch verspielen.

Die hundert pausenlosen Minuten karikierender Dauer-Comic sind dann allerdings auch schon das Äußerste, was man noch mit Spannung verfolgen kann. Aus dem personenreichen Ensemble von Schostakowitschs frühem Opern-Geniestreich sticht vor allem der agile Sten Byriel als Kollegien-Assessor hervor. Am Pult steht Kent Nagano. Er soll künftig regelmäßig eine Produktion pro Jahr an der Lindenoper leiten. Auch wenn an der einen oder anderen Stelle das Ensemble etwas auseinander zu driften drohte, hat er mit gestochenen Tempi doch bei diesem rhythmisch höchst komplizierten Stück alles präzis im Griff. Einhelliger Beifall, Jubel am Ende mit zwei Stars im Mittelpunkt, Jörg Immendorff und Kent Nagano, über die der neue Hausherr, Intendant Peter Mussbach, bei seinem szenischen Einstand bescheiden etwas zur Seite stehend, sich nur mitfreuen konnte.


Berga-Masque

Percy Adlon inszeniert Donizettis L’elisir d’amore (mit Rolando Villazon als Nemorino)

Herbst 2002
ADLON: Der Wunsch, das Bedürfnis mit Musik zu tun zu haben, die Beziehung zur Musik war immer ganz extrem da.

Percy Adlon, der Regisseur. Mit einer Doktorarbeit über Wieland Wagners Lichtregie wollte er ursprünglich mal promovieren. Dann schmiss er und beschloss Schauspieler zu werden, debütierte auch als Orlofsky in der Fledermaus.

ADLON: Also ich hab' als Vorbereitung zu Filmen ewig Beethoven-Streichquartette gehört, einfach weil die Strukturen so wahnsinnig sind, weil das Melos so irrsinnig ist, weil die Passion so ungeheuer ist, einfach um mich selbst in eine Sache reinzupuschen, die ein großes Erlebnis darstellt, und zu sagen: Das gibt es, so weit kann man kommen als Kreativer, und mach kein langweiliges Zeug, sondern bekenn' dich zu etwas…

Bekenntnishaft etwa sein Film über den Bildhauer Fritz König und dessen bei der Zerstörung des World Trade Center fast zerstörte Skulptur.

ADLON: Das gab dem Film diesen Symbolcharakter für Zerstörung von Menschenwerk am Beispiel eines Menschenwerks - Menschenwerk, also Kunst, das vergangene Generationen, eine heutig lebende und kommende Generationen miteinander verbindet. Das ist was Kunst kann. Zerstörte Kunst ist eben Verlust dieser Bindungsmöglichkeit.

Seinen Sinn für Skurriles, wie er ihn immer wieder bewiesen hat zumal in seinem Welterfolg Out of Rosenheim kann er kitzeln in seiner ersten Opern-Regie. Donizettis Erfolgsoper Der Liebestrank mit der seltsamen Story über einen armen Jungen, Typ ewiger Zweiter, der sich verliebt in die beste Partie des Dorfes. Nur wie sie kriegen? Sie ist die reiche Erbin, kann’s sich leisten, zu lesen, während die anderen schuften. Und dann findet sie auch noch so was Seltsames wie die Liebesgeschichte von Tristan und Isolde und dem Wunder wirkenden Trank. Und dieser Junge will das auch noch ausprobieren.

ADLON: Ja. die hat was schwer Skurriles. Das ist schon Slapstick eigentlich. Aber ich habe das Ganze in ein Spiel gebracht, das ein ganzes Dorf an einem Wochenende aufführen möchte. Das kommt nie richtig dazu. Wozu es richtig kommt, ist eine Liebesgeschichte zwischen den beiden Hauptdarstellern. Aber die Liebesgeschichte findet in Wirklichkeit auch so statt. Nur dass sie sich innerhalb des Spiels, das diese Bergler aufführen wollen, plötzlich statt in drei Jahren in zwei Tagen entfaltet.

 Mit einem Minimum an technischem Aufwand hat Adlon das auf die Bühne der Staatsoper gebracht. Technik ist nicht, wurde ihm gleich vorweg gesagt. Die Maschinerie des Hauses ist schrottreif, man weiß. Von Frank Philipp Schlößmann hat er sich eine ganz traditionelle Gassenbühne bauen lassen, die er mit kräftigen Anleihen auch bei der Commedia dell’Arte bespielt. Wie eine Art Gebirgler-BergaMasque wirkt dieser Welterfolg des einst in Bergamo geborenen Opern-Vielschreibers und Rossini-Erben Gaetano Donizetti von 1832 bei ihm. Adlon verzichtet weitgehend auf die große Operngeste, hält seine Sänger dafür an zu mimischer Differenziertheit.

ADLON: Ich glaube, dass man jedes Augenzucken, jede Fingerbewegung, wenn sie gut genug vorbereitet ist, im Publikum wahrnimmt.

Eine Mischung aus Pinocchio und Rubens Barrichello ist sein unglücklicher Nemorino, der sich von einem daher gefahrenen Aufschneider das Liebestrank-Wundermittel aufschwatzen lässt, nachdem Adina, die Umworbene, ein Auge zu werfen scheint auf einen anderen Dahergelaufenen, Belcore, einen Soldaten in freilich eher Bahnhofsvorsteher-Zuschnitt. Adlons Trick, die Geschichte als Probe einer Aufführung zu fahren, garantiert, dass immer eine Art Regieassistentin auf der Bühne den weitgehend frei gelassenen Chor animieren kann. Die Dauerkostümierung mit Pappnasen freilich nutzt sich bald ab. Und die gleichsam Pop Up’s à la Internet, die Adlon durch die Szene geistern lässt, wirken manchmal etwas beliebig.

Herrlich der reisende Quacksalber Dulcamara von Natale de Carolis als eine Art André Rieu im herzchenförmigen Puff-Camping-Wagen mit spaghetti-kochendem Ministranten. Schnippisch, wenn auch stimmlich etwas zu scharf im Ton die Adina von Dina Kuznetsova als rosa Braut. Ein Benigni-haftes Stehaufmännchen, der seiner Liebsten zu den Koloraturen auch schon mal den Rücken krault, Rolando Villazon als Nemorino. Enthusiasmiert gab sich das Publikum am Ende nicht, aber doch sehr freundlich. Zu dem Eigentlichen, was diese Geschichte heute interessant machen könnte – dem Verwechseln von Fiktion und Realität, wie Nemorino den Liebestrank missversteht –, stößt Adlon nicht. Nemorinos Arie, die neben den Rossinihaften Verwirbelungen den Erfolg dieser Oper bis heute begründete, wollte das Publikum aber am liebsten gleich zweimal hören.


Oper auf Rädern

Saisonauftakt mit 3sat-Live-Konzert und Strawinskys opéra bouffe Mavra

30.Aug.2002

Chaos birgt Chancen – jedenfalls für Peter Mussbach, den neuen Intendanten der Berliner Staatsoper. Das Haus, seine marode Baustruktur, die Technik bröckelt den Beteiligten unter den Füßen, trotz der glänzenden Fassade. Aber gerade dann trumpft er auf mit einem Saison-Eröffnungsabend der Superlative.

Den Auftakt machte Daniel Barenboim am Pult der Staatskapelle mit einer kleinen Uraufführung. Gefalteter Augenblick nennt sich die 5-Minuten-Miniatur von der jungen Isabel Mundry, beginnend wie ein Paukenschlag und verlaufend ins Elegische. Die beiden anderen, wesentliche Neuproduktionen des Hauses mitgestaltenden Dirigenten folgen: Michael Gielen mit einem etwas nervösen Strauss-Till Eulenspiegel und Kent Nagano mit Karl Amadeus Hartmanns apokalyptischer Gesangsszene. Da die Dresdner Semperoper derzeit noch härter getroffen ist und wegen der Flut gar nicht spielen kann, widmet man das Konzert um zu einer Benefizveranstaltung. Per Fernseh-Live-Übertragung ist eine Spendenhotline geschaltet. Auf dem Bebelplatz neben der Staatsoper lauschen die Menschen dicht gedrängt vor einer dort aufgespannten Großleinwand der Übertragung aus dem Inneren des Hauses.

Auf einem seitlich abgestellten LKW machen sich derweil eine Handvoll Sänger und Musiker bereit für ihren Auftritt. Wie die Spatzen sitzen sie, ganz in Weiß, oben auf dem Dach eines Fahrzeugs mit der Aufschrift Köchin gesucht. Das ist ihr Titel zu Igor Strawinskys Halbstunden-Farce Mavra aus dem Jahre 1922. Das Fahrzeug rollt los, als die Menschen sich nach dem Sinfoniekonzert etwas verlaufen haben. Nach einem U-turn über den Platz öffnen sich sämtliche Seitenwände des Kastenwagens. Aus dem neonhellen Inneren schwenken Teleskopsitze für die fünf Musiker. Eine Leiter führt ins Oberdeck. An der Rückseite des LKW eine handbetriebene Übertitelungsanlage wie einst beim heiteren Beruferaten. Gesungen wird vornehmlich in Russisch.

Die Geschichte nach Puschkin aus dem dörflichen Russland erzählt von dem Mädchen Parasha, die endlich mal allein mit ihrem geliebten Husaren turteln will. Aber die Mutter ist im Weg. Und da die gerade eine neue Köchin braucht, lotst Parasha ihren Husaren als Köchin verkleidet ins Haus – mit einigen Komplikationen. Die Partitur von Strawinskys opéra bouffe hat Wilfried Radeke nach dem Vorbild der freilich ungleich genialeren Geschichte vom Soldaten praktikabel bearbeitet. Ökonomisch wird Klaus Grünbergs Bühne in, auf und vor dem Lastwagen genutzt. Wenige Accessoires genügen der Ausstatterin Marie-Luise Strandt, um die Situationen zu verdeutlichen. Wie eine gesungene Pantomime wirkt das Stück in Tatjana Gürbacas Regie. Am Ende scheint das Paar – Gabriele Näther und Patrick Raftery – wie an einem glühbirnenartigen Plastik-Mond in den Himmel zu schweben, ehe die Tatsachen sie wieder auf die Erde zurückholen.

"Satelliten" nennt das Lindenhaus seine kleinen mobilen Produktionen. Einerseits will man gerüstet sein für den möglichen technischen Totalausfall des Hauses. Vor allem aber will man nach außen sich öffnen in die Stadt, ins Umland. In Kreuzberg, Neuzelle, Beeskow, Jüterbog, auf der Museumsinsel und beim Sponsor Dussmann soll der motorisierte Thespiskarren in den kommenden Wochen noch Station machen. Ein "teaser", ein Appetitanreger sollte diese Aufführung sein – gekrönt von einem Feuerwerk am Schluss. Und das scheint, dem Publikumsinteresse nach, auch gelungen, obgleich die Sichtverhältnisse doch nur sehr begrenzte Zuschauerzahlen erlauben.

Indes zeigt die Produktion einen Trend. Alle großen Institutionen suchen nach neuem Publikum, müssen sich, wollen sich öffnen. Am spektakulärsten die Philharmoniker mit ihrem "Education"-Programm. Aber auch die beiden anderen Berliner Opernhäuser. Einen Wagnerschen Ring kann man sich in dieser Weise allerdings kaum vorstellen – es sei denn als echt Wagnersches Kasperltheater wie Peter Konwitschny es bei seiner Stuttgarter Götterdämmerung so eindrucksvoll demonstrierte. Zumal im Rahmen auch der langen Museumsnacht in Berlin war dies insgesamt aber ein so spektakulärer wie gelungener Saisonauftakt.


Barenboim YouTube Boulez-Saal