Nachdenken über Melancholie soll man bei „Melencolia“ zum Auftakt der MaerzMusik 2025, eigentlich gegründet als Festival aktueller, neuer Musik. Aber melancholisch wird man beim Anhören/Zuschauen vor allem, wohin das Niveau dieses Festivals gedriftet ist. Eine krude Mischung aus Videos, Tonschleifen, dunkelsinnigen Plattitüden und ziemlich viel dilettantischem Agieren von Musiker*innen oder Aufmarschieren von videogerecht grüngewandeten Chor-Damen bekommt man angeboten. Oder auch einen erlköniglichen Cybertruck im Video über die Leinwand huschen. Ausgerechnet!
In einem Interview kann die Komponistin Brigitta Muntendorf zwar manch kluge Sätze von sich geben über diese ihre und Moritz Ernst Lobecks „Show gegen die Gleichgültigkeit“. Erlebbar auf der Bühne wird davon wenig bis nichts. Es gleitet vorüber wie eben eine Show, untermalt entweder mit irrwitzig schnellenKlang-Passagen auf den diversen Streich- oder Blasinstrumenten, oder schmalzigem Gedudel, das per Live-Video vor dem Green Screen mit gestischem Gehampel noch verdoppelt wird. Armes Ensemble Modern.
Oder ein gewaltiger kristallartiger Spiegelklops wird mit sichtbaren Anstrengungen der Agierenden über die Bühne geschoben und schließlich als Partykugel aufgehängt. Höhepunkt als Nummer VIII dieses Opus magnum das Video eines rosaroten Kunstbabys an der Nabelschnur, das Hoffnung machen soll auf neues Leben. Letzteres wäre insbesondere dem Festival selbst zu wünschen, soll es nicht in totale Bedeutungslosigkeit abgleiten.
Eine geschmacksver(w)irrte Veranstaltung wie diese jedenfalls, auch wenn sie eine Koproduktion mit den Bregenzer Festspielen ist, fühlt sich für mich an wie mentale Körperverletzung. Und das mit maximalem technischen und wohl auch finanziellen Aufwand. Oder sollte das alles gar ironisch gemeint sein?
Foto: © Anja Koehler Bregemzer Festspiele
Das Orchester der Zukunft? Gefühlt dreiviertel der Musiker*innen: Frauen. Mit Ingo Metzmacher am Pult spielt das Gustav Mahler Jugendorchester ein Programm, das zum einen dem Jubilar des Jahres Anton Bruckner huldigt, zuvor aber Musik aus dessen künstlerischer Nähe mit zeitgenössischer Verfremdung bietet. Von Richard Wagner aus dem „Parsifal“ das Vorspiel zum 1. Aufzug und der Karfreitagszauber. Sehr weich gibt Metzmacher die Einsätze bei Wagner. Nicht immer präzise reagieren die Musiker*innen – können reagieren, zumal die an den Blasinstrumenten. Aber es fügt sich perfekt zu der Interpolation, die Metzmacher eingefügt hat: von seinem Lieblingskomponisten Luigi Nono „A Carlo Scarpa“, 1984 kurz nach seinem „Prometeo“, entstanden, eine zarte Musik, die sich gleichsam tupferhaft verliert im All. Danach die Brucknersche Dritte in der ersten Fassung. Wie verspielt wirkt sie mit ihren riesigen Bögen einerseits, den unendlichen Wiederholungen, Brüchen, Echowirkungen andererseits. Ein Traum.
Ein Hammerschlag eröffnet die „Dis-Kontur“, 1974 konzipiert und zehn Jahre später revidiert von dem vor kurzem verstorbenen Wolfgang Rihm. Die Filarmonia della Scala unter Riccardo Chailly bot sie neben Berios ebenfalls zum Teil heftigen „Quatre dédicaces“ und Ravels Suite Nr. 1 aus „Daphnis et Chloé“. Mit ohrenbetäubendem Trommeln geht’s in diesem knapp halbstündigen Werk Rihms auch weiter. Schrille Mixturen wechseln mit stampfenden Rhythmen. Aber auch stillere Partien sind gelegentlich eingefügt. Zugetraut hätte ich Rihm diese eher an Varèse erinnernde Musik eigentlich nicht. Zumal Rihm ja immer gern als ein Versöhner mit der Moderne sich verstand.
Eine unerwartet starke Interpretation von Mahlers Sechster Sinfonie – die mit dem Hammerschlag – hörte man auch im Konzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks unter Sir Simon Rattle. Rattle hatte die Mahlersche Sechste meiner Erinnerung nach auch in den frühen Jahren als Chef der Berliner Philharmoniker mal auf dem Programm. Nachhaltig in Erinnerung blieb mir diese nicht. Zu milde schien sie mir. Ganz anders, härter, formt er sie jetzt mit seinen BR-Musiker*innen. Hatte man im ersten Satz an einigen Stellen nicht so ganz den Eindruck, dass Rattle den Klang optimal ausbalancierte – die Oberstimmen gingen manchmal etwas unter, so kam die Balance dann doch bald gut ins Lot. Und zumal im Finale war da eine große Ausgewogenheit des Klangs zwischen Streichern und Bläsern. Gut ausgeleuchtet die Licht-Schatten-Wirkungen, die Mahler in dieser seiner „Schicksals“-Symphonie einbaut, und auch die gleichsam Fernblicke in eine idyllische fernere Wünsche-Welt.
Als Orchesterparade war das Musikfest der Berliner Festspiele in Kooperation mit den Berliner Philharmonikern mal geplant. Längst hat es sich ausgeweitet zu einem eigenständigen Festival. Drei Wochen lang. Etwas unübersichtlich wirkt es und überfrachtet. Nicht immer ist der Konzertsaal gut gefüllt wie etwa bei dem hörenswerten Konzert der Musiker*innen aus Mailand. Vielleicht täte etwas Konzentration doch mal wieder gut.
Foto: © Marco Borrelli / gfk
Ein seltsames Musikfest. Da watscht ein Dirigent, ein sehr berühmter, einen Sänger ab, und muss dann die weitere Tour seiner Produktion absagen. Ein Assistent übernimmt. Ich habe den Event nicht gebucht und also nichts versäumt. Ich hätte dies Konzert sowieso nicht gebucht – diesmal freilich die sehr begehrenswerten „Les Troyens“ von Hector Berlioz. Die „halb-szenischen“ Produktionen von Sir Eliot Gardiner waren mir, seit ich die erste mitleiden musste, ein Gräuel. Musiktheater ist für mich was anderes als dilettantisches Gehampel auf der Bühne. Und gerade die „Trojaner“ sind mir in der unvergleichlichen Inszenierung von Ruth Berghaus, 1983 in Frankfurt mit Michael Gielen und Hans Dieter Schaal im Team, in innigster Erinnerung und Maßstab.
Dann: die Zweite Symphonie von Gustav Mahler. Ganz gewiss der Höhepunkt dieses Festivals. Eingeladen Mirga Gražinité-Tyla mit den Münchner Philharmonikern und dem Philharmonischen Chor. Das Konzert sollte ungewöhnlicherweise erst um 20:30 h beginnen. Als man vor Ort ankam, war auf Bildschirmen zu lesen, das Konzert werde eine Viertelstunde später beginnen, Einlass 20:30 h. Die Besucher im ausverkauften Haus drängten sich vor den Türen – ein echter Corona-Hotspot. 20:37 h endlich öffneten sich die Türen. Gegen 20:52 h dann im Saal die Erklärung für die Verspätung: 10 Stunden waren Chor, Orchester und die Dirigentin im ICE von Köln nach Berlin „unterwegs“. Schallendes Gelächter im Saal. Und frenetische Begrüßung der Musiker. Nach dem Konzert am Hinterausgang sah man, wie Mitarbeiter Berge von leeren Pizza-Kartons entsorgten. Die armen Musiker, und vielleicht ein Nachdenken bei der Festivalleitung über künftige Planungen.
Die Aufführung selbst: ein Wunder. So fein ziseliert, energisch, schroff und weich in den Übergängen, so durchhörbar und klangschön habe ich dies Werk nie gehört. Selbst wohl bei Abbado nicht, der ja eher eine sanfte Art des Herangehens an Mahler hatte. Energiegeladen, explosiv das Hauptthema des ersten Satzes, von ätherischer Leichtigkeit und Schönheit das Seitenthema. Delikat atmend der Ländler des zweiten Satzes mit den harschen Einbrüchen einer brutalen Gegenwart. Gestisch sehr präzise der dritte Satz. Mit dem Übergang zum Alt-Solo. Leider passte Okka von der Damerau mit etwas viel Vibrato sich nicht so recht dem Konzept an. Wohl aber Talise Trevigne mit ihrem hellen Sopran. Sehr diszipliniert der Chor vom zartesten Pianissimo bis zum heftigsten Fortissimo. Prächtig der geschmeidige Klang der Streicher und Holz- und Blechbläser.
Ein tiefes Erlebnis jedenfalls im Unterschied zu der Ersten Mahler-Symphonie, wie sie die jetzt mit viel PR lautstark gefeierte neue Chefdirigentin des Konzerthausorchesters Berlin, Joana Mallwitz, bei ihrem Konzerthaus-Debut im Umfeld des Musikfests vorlegte. Da ist leider viel äußerliches Gehabe, Eitelkeit, Mode und weniger echte Substanz, trotz des wohl bemerkenswerten Gedächtnisses. Petitessen wie Prokofjews gewitzte Symphonie classique, die sie zum Auftakt spielen ließ, liegen ihr da wohl am ehesten.
Aus München ebenfalls angereist das Bayerische Staatsorchester, das Hausorchester der Nationaloper unter ihrem Dirigenten Vladimir Jurowski. Als Hauptwerk hatte es Richard Strauss‘ Alpensinfonie im Programm, ausgeführt mit allem Pomp und malerischer Delikatesse. Zuvor noch Alban Bergs Violinkonzert, von der Norwegischen Geigerin Vilde Frang mit Hingabe, aber doch etwas schmalem Ton gespielt. Und zur Einleitung eine Symphonie Nr. 3 „White Interment“ der ukrainischen Komponistin Victoria Vita Polevá (* 1962), ein mit liegend-changierenden Klängen arbeitendes etwa 15-minütiges Werk, das freilich etwas ziellos mäandert bis zum Vogelruf am Ende. Und ganz davor gab’s noch einen impulsiven Auftritt der Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth, die in enthusiastischen Worten die 500-jährige Institution „Bayerisches Staatsorchester“ würdigte und den Dirigenten Vladimir Jurowski als Brückenbauer zwischen Berlin (RSO) und München pries. In „Vorkriegs“-Zeiten überbrückte Jurowski indes auch zudem die Distanz zur Heimat seiner Familie in Moskau. Roth hinwiederum freute sich über die Musiker aus München als Gruß aus ihrer Heimat – und besonders auf die Kuhglocken der Alpensinfonie.
Zu erwähnen noch Sir Simon Rattles Abschiedstournee mit seinem London Symphony Orchestra. Jetzt wechselt er zum BR-Sinfonieorchester. Gustav Mahlers Neunte Symphonie hatte er im Gepäck. Wirkte der erste Satz mit seinen massiven Interventionen von Bedrohungen noch etwas wenig strukturiert, so kam Rattle bei den folgenden Sätzen doch mehr zu sich, wenn er auch nicht die Strukturiertheit eines Leonard Bernstein erreichte. Bemerkenswert die Pianissimi des Verhauchens, auch eines Lebensgefühls für eine bessere Zukunft, die im Schlusssatz der Zweiten Symphonie noch ein so mächtiger Weckruf sind, und die von Rattles Nach-Nachfolgerin beim City of Birmingham Symphony Orchestra, Mirga Gražinité-Tyla so meisterlich herausgearbeitet wurden. Dass sie jetzt auf den Job in Birmingham verzichtete – aus ganz privaten Gründen –, macht Hoffnung ihr öfter auf dem Kontinent zu begegnen. Lange genug hatte es gedauert, bis die Berliner Festspiele sie einluden.
Fotos: © Fabian Schellhorn
Die schönste Farbe ist die des neuen Plakats: Bordeauxrot mit Schattierungen. Betrunken wird man davon nicht, also von dem, was es ankündigt, die neue MaerzMusik unter der neuen Leitung von Kamila Metwaly. Ein Wechsel war schon seit Jahren überfällig, nachdem der Vorleiter, Berno Odo Polzer, das Festival, das der neuen oder „Aktuellen“ Musik gewidmet sein sollte, in einen teils virtuellen, teils realen Eiskeller-Schlafsaal verkommen hat lassen.
Immerhin am ersten Abend in der renovierten Hauptspielstätte der Berliner Festspiele ist der Laden voll. Das Publikum musste allerdings viel Geduld aufbringen für das, was es von Michael Beil und dem Nadar Ensemble geboten bekam: Kurzimpressionen à la TikTok. In sechs Kästen wie Handy stehen Figuren mit bunten Klamotten. Mal mit Instrumenten, mal nur mit Porree-Wedeln, hektisch sich gestikulierend – gemeint wohl Tanz in der Disco. Die Jalousien an den Kästen gehen kurz auf und schnell wieder zu. Farbiges Discolicht und dazu eine minimalistisch nicht-vielfarbige sondern eintönige Geräuschkulisse, deren Verursacher auch mal die Kästen verlassen.
„Hide to Show“ nennt sich das Ganze. Laut Programmzettel soll es simulieren, wie man sich fühlt, wenn man allein ist in einem Raum und sich mit Leuten synchronisiert, die man nicht sieht. Oder es soll sein wie sich beobachtet fühlen und sich selber sichtbar oder unsichtbar machen. Und es soll eine Lektion sein über Hyperrealität, wie eine Gruppe von Menschen, die nicht sichtbar ist, in die eigene Realität hineinkopiert wird. Hochbedeutendes Kauderwelsch.
„Grenzraum Hören“ ist eine Programmreihe überschrieben, die das Hören selbst zum Thema macht. Ein Kontrastprogramm zum Auftakt. Jakob Ullmann, einer der wichtigsten jüngeren Komponisten aus der ehemaligen DDR und endlich mal wieder im Fokus, und Pauline Oliveros haben das konzipiert. Man sitzt im fast leeren Parkett vor der großen Bühne des Festspielhauses und hört – fast nichts, bzw. das Sirren der elektrischen Installationen. Aber langsam hört man doch auch noch was mehr: sehr ferne Pfeiftöne, zu Intervallen sich spreizend und wieder sich verengend, unendlich langsam die Vorgänge und fast nur ein Hauch. Ein Ort der Meditation, der Andacht, des in sich selber Hineinhörens.
Hans Otte mit seinem großartigen Festival der Bremer Neue-Musik-Tage in den 1970iger Jahren hatte immer mal wieder solche Punkte im Programm. Dort war die Ästhetik um John Cage, der mit seinen 4’33“ ja einen Markstein gesetzt hatte, richtungweisend. Ich war zwar immer etwas skeptisch, und es war auch viel Kult um Cage, um seine Pilze und seine Freundschaft mit Merce Cunningham und David Tudor. Aber solche Haltepunkte zu setzen ist gerade heute wieder ein Petitum. Cage hat ja auch mal gesagt, er wolle „so schreckliche Musik“ schreiben, dass man gern in den Alltag zurück geht. Und der ist für viele zweifellos TikTok, kaum Warten auf Godot.
PS: 6000 Besucher wurden offiziell bei den Veranstaltungen insgesamt gezählt. Etwa so viel wie zuletzt unter der alten Leitung. In früheren Zeiten waren es mal doppelt so viele.
Fotos: © Camille Blake
Die neue Leitung der Berliner Festspiele hat sich vorgestellt. An der Spitze Matthias Pees, vielfach erprobt in leitender Funktion. Konkretes hörte man da wenig. Stattdessen viel modisches Wortgeklingel von divers bis inklusiv usw. Am fundiertesten noch der Japaner Yusuke Hashimoto, der bislang ein Avantgarde-Theater in Tokyo leitet. Als leitender Dramaturg soll er nun dem vielgliedrigen Berliner Festival Linien einziehen. Unter anderem den Pazifik will er dem Berliner Publikum näherbringen.
In der für neue Musik zuständigen MaerzMusik will die Ägypterin Kamila Metwaly „de-koloniales Hören“ fördern – was immer das sein soll. Dabei wären gerade in der MaerzMusik gründliche Aufräumarbeiten von Nöten, nachdem der vormalige Programmverantwortliche Odo Polzer allzu sehr in seinem eigenen ästhetischen Turmkeller werkelte. Auch fürs Jazzfest gibt’s mal endlich eine Frau als Leiterin, Nadin Deventer. Immerhin.
Das dickste Fragezeichen ist das neue ukrainisch-polnisch-deutsche Leiterinnen-Quartett für das Theatertreffen: Olena Apchel, Marta Hewelt, Carolin Hochleichter und Joanna Nuckowska. Zwar wurden Beruhigungspillen verabreicht, dass z.B. nach wie vor eine 7-köpfige Kritiker-Jury für die Auswahl der bemerkenswertesten Produktionen (was immer die sein sollen) zuständig ist. Daneben aber soll es praktisch ein Parallel-Theatertreffen geben, sodass sich das Haupttheatertreffen auf dem Nebengeleis findet.
Nun hat ja die disruptive Tätigkeit des vormaligen Intendanten Thomas Oberender das Theatertreffen weitgehend zur Farce verkommen lassen. Ob aber die Doppelgleisigkeit dem Event wieder mehr Wumms verschafft, bleibt dahingestellt, zumal von zwingenden theaterästhetischen Vorstellungen des neuen Teams nichts zu hören war. Von Nachhaltigkeit wird zwar viel geredet, allein es fehlen die Taten.
Am solidesten wie (fast) immer der bisherige und auch künftige Leiter des MusikFests, Winrich Hopp. Nach wie vor will er aber eher üppige Festwochen programmieren, als ein MusikFest, wie es mal als kompakter Einstieg ins Musikjahr konzipiert war. Immerhin hat er auch schon ein paar inhaltliche Leitlinien verraten, an denen er sich in den nächsten Jahren orientieren will. In der Musik sind das ja meist historische Daten. Aber die Moderne ohne ihre Geschichte – was wäre das?
Festspiele – das waren mal heilige Tage. In der Antike. Ähnlich wollte es Richard Wagner in Bayreuth halten, und dann Gustav Mahler bzw. seine Erben Max Reinhardt, Hugo von Hofmannsthal, Franz Schalk und Richard Strauss in Salzburg. Davon ist nichts mehr übrig, auch an den genannten beiden Orten. Gerade das Jahr 2022 lieferte da eindrucksvolle Beispiele. Man sollte sich aber doch gelegentlich daran erinnern, was Festspiele mal sein wollten. Denn künstlerische Anstrengungen, an die man sich schon beim Verlassen des Theaters nicht mehr erinnern kann oder will, werden irgendwann überflüssig.
Der Paukenschlag gleich zu Beginn. Der neue Jungstar der Szene, der Finne Klaus Mäkelä, mit dem Concertgebouworkest Amsterdam und Mahlers Sechster zum Auftakt des Musikfest 2022 Berlin. Erstmals auch wieder ohne Corona-bedingte Einschränkungen. Wie Mäkelä diese Mahlersche „Tragische“ – die mit den zwei berühmten Hammerschlägen im Schlusssatz – und einem hochpräzis und zugleich höchst differenziert und klangschön aufspielenden Orchester versinnlicht, weckt Erinnerungen an allerhöchste Maßstäbe. Jede Nuance in der Dirigiersprache Mäkeläs wird da vom Orchester aufgegriffen. Feinste Abstufungen in Rhythmik, Agogik, Akzentuierung weiß Mäkelä der Partitur zu entlocken. Man ist von Anfang bis Ende der knapp 80minütigen Symphonie gefesselt. Perfekt. Und eigentlich wäre das genug für einen Konzertabend. Davor hat Mäkelä aber ein Werk seiner finnischen Landsfrau Kaija Saariaho gesetzt, „Orion“. Auch damit wissen er und das Orchester zu brillieren. Es ist aber doch mehr äußerliche Firnis, die da hochglanzpoliert herüberkommt.
Ein anderer Star der jüngeren Dirigenten-Generation, nicht mehr ganz so jung, ist der Kanadier Yannick Nézet-Séguin. Weltweit schon bei allen Spitzenorchestern unterwegs. Seit zehn Jahren Chef des Philadelphia Orchestra. Auch er ein sehr impulsiver Pultvirtuose, der die erklingen sollende Musik den Musikern gleichsam vortanzt. Bei ihm stehen ein Werk der hier eher unbekannten Afro-Amerikanerin Florence Price (1887-1953) auf dem Programm, ihre erste Symphonie aus dem Jahre 1933, nach dem Vorbild Dvořáks. Folkloristisches ist da in eine sehr expressive Musiksprache eingebunden. Davor von Karol Szymanowski das Konzert für Violine und Orchester Nr. 1. Die Lyrismen dieser Musik kommen der Solistin des Abends, Lisa Batiashvili mit ihrer bis in die höchsten Höhen stechend sauberen und zarten Tongebung sehr entgegen. Demonstrativ tritt sie in einem gelb-blauen Kleid auf die Bühne. Am süffigsten entfalten kann Nézet-Séguin seine Klangvorstellungen im Auftakt-Stück, Dvořáks Konzertouvertüre „Karneval“. Wie der Dirigent hier die Farben zum Leuchten bringt, die Akzente und Rubati setzt, das sucht Seinesgleichen.
Weniger extrovertiert in seinem Dirigierstil Lahav Shani, „Zögling“ u.a. der Berliner Eisler-Musikhochschule und gefördert von Daniel Barenboim. Nicht nur als Dirigent sondern auch als Pianist ein aufgehender Stern. Interessant bei ihm und dem Rotterdams Philharmonisch Orkest, dessen Chef er ist, eine Wiederbegegnung mit „Atmosphères“ von György Ligeti (1923-2006). 1961 entstanden als eine Art Gegenentwurf zur seriellen Musik Stockhausens wirkt das Werk mit seinen sanft an- und abschwellenden Clustern heute doch etwas blass. Erstaunlich auch, dass Shani es als gleichsam Einspielstück zu der dann folgenden 2.Symphonie des holländischen Komponisten Willem Pijper (1894-1947). Das zweisätzige Werk, 1921 entstanden, wirkt mit seinem maschinenartigen Ansatz wie ein Versuch in der neuen Sachlichkeit jener Zwanziger Jahre und zugleich auch mit seinen melodischen und tänzerischen Fetzen wie eine Antwort auf Gustav Mahler. Dessen 1.Symphonie bildet den fulminanten zweiten Teil dieses Konzerts.
Weitere Highlights dieses Musikfests: der farbenfrohe Auftritt des Koreanischen Gugak Center mit einer traditionellen Ahnenzeremonie, oder als Kontrast das Ensemblekollektiv Berlin unter Enno Poppes Leitung mit u.a. Musik von Iannis Xenakis oder auch das Genter Collegium Vocale unter Philippe Herweghe mit Monteverdis erratischer Marienvesper. Ein wieder vielfältiges Programm, das aber in Nach-Corona-Zeiten sein Publikum suchen muss. Oder ist das Musikfest in einer Stadt wie Berlin inzwischen im Ambitus einfach wieder zu üppig geworden?
Fotos: © Fabian Schellhorn
Matthias
Pees, geboren 1970 in Georgsmarienhütte, hat als Intendant und
Geschäftsführer des internationalen Produktionshauses Künstlerhaus
Mousonturm in Frankfurt am Main (2013–2022), Leitender Dramaturg der
Wiener Festwochen (2010–2013), Gründer und Ko-Geschäftsführer des
internationalen Produktionsbüros prod.art.br in São Paulo (2004–2010),
Programmdramaturg der Ruhrfestspiele Recklinghausen (2003–2004),
Theaterdramaturg am schauspielhannover (2000–2003) und an der Volksbühne
am Rosa-Luxemburg-Platz (1995–2000) sowie zuvor als Kulturjournalist und
Theaterkritiker Erfahrungen in verschiedenen Bereichen und auf mehreren
Seiten der darstellenden Künste gesammelt.
Perspektivwechsel, kooperatives Arbeiten und „transformative Praktiken“ standen dabei erklärtermaßen im Zentrum seines Interesses; Themen wie globale Solidarität und Postkolonialismus, Zusammenhang und Zukunft von Internationalität und Diversität prägten seine Spielpläne und Projekte. In Frankfurt und der Rhein-Main-Region initiierte oder mitgestaltete er große interdisziplinäre Festivals und Kooperationsprojekte u. a. mit dem Ensemble Modern, dem Jüdischen Museum Frankfurt, dem Hessischen Staatsballett oder zuletzt mit dem Schauspiel Frankfurt, dem Museum Angewandte Kunst und der Frankfurter freien Szene für die Ausrichtung der Festivals „Politik im freien Theater“ der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und „Theater der Welt“ des Internationalen Theaterinstituts (ITI).
PS: Als erste Amtshandlung hat er eine neue Leitung für das Theatertreffen berufen. Gleich vier Köpfe sollen das in den letzten Jahren arg heruntergewirtschaftete Festival wieder auf Trab bringen: die ukrainische Theaterregisseurin Olena Apchel, die Produktionsleiterin Marta Hewelt, die Dramaturgin Carolin Hochleichter und die polnische Kulturmanagerin Joanna Nuckowska.
Liest sich etwas nach modebewusst und Angst vor der Verantwortung einer einzigen Person. Im Theater hat Kollektivität aber nie richtig funktioniert. Und wenn man an den in diesen Tagen 97jährig verstorbenen Theater-Magier Peter Brook denkt - er kreierte ein Theater im leeren Raum, das einen von der ersten bis zur letzten Minute fesselte. Es gibt schon noch Theatermacher, die das können. Aber sie sind nicht mehr gefragt.