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Neuanfang an der Komischen Oper
unter Barrie Kosky ab 2012/13

[07.März 2012]

Spektakulär mit einer Monteverdi-Trilogie an einem Tag will Barrie Kosky seine neue Intendanz an der Berliner Komischen Oper starten. Zwölf Stunden mit Essenspausen soll das Mega-Event am 16.September dauern, bei zwei Wiederholungen. Kosky inszeniert die Opern-Trias „Orpheus-Odysseus-Poppea“ in einer musikalischen Neubearbeitung der aus Usbekistan stammenden Komponistin Elena Kats-Chermin, von 3sat live übertragen.

Eine Woche, nachdem der scheidende Intendant Andreas Homoki in Zürich sein Programm vorstellte, legte sein Nachfolger in Berlin seine Pläne vor. Zum neuen Team gehört als GMD der ungarische Dirigent Henrik Nánási. Kosky will neben der Felsensteinschen Tradition des Ensembletheaters auch auf die ältere des Hauses als Heimstätte der Berliner Operette vor 1933 setzen. So wird er selbst die letzte Operette von Paul Abraham vor seinem Exil, „Ball im Savoy“, inszenieren. In einer Kurt Weill gewidmeten Woche im Januar erklingt – konzertant nur – die im Exil entstandene satirische Oper „Kuhhandel“.

Als Uraufführung geplant ist von Olga Neuwirth eine Neubearbeitung von Bergs „Lulu“ für Jazz-Combo mit einem neuen dritten Akt; inszeniert wird diese „American Lulu“ vom russischen Theater- und Filmregisseur Kirill Serebrennikov. In Koproduktion mit den Bregenzer Festspielen entsteht Detlev Glanerts neue „Solaris“-Oper (nach Stansilaw Lem). Auch eine neue deutsch-türkische Kinderoper wird es geben. Mit der englischen Theatergruppe „1927“ bringt Kosky zum Auftakt eines Mozart-Zyklus eine popige „Zauberflöte“ heraus. In den Folgejahren sollen Alvis Hermanis „Così fan tutte“ und Herbert Fritsch „Don Giovanni“ inszenieren.

Reinhard von der Thannen wird Humperdincks „Hänsel und Gretel“ ausstatten und auch in Szene setzen; die „Königskinder“ könnten später folgen, meinte Kosky auf Nachfrage. Für Tschaikowskys „Mazeppa“ ist als Regisseur der Leiter der Toneelgroep Amsterdam, Ivo van Hove, eingeladen. Wagner und Strauss haben in dem Haus erst mal Pause. Und auch fast alle bisher hier arbeitenden Regisseure. „Alles auf Anfang“ heisst Koskys Motto.


Routiniert klamaukig

Stefan Herheim macht aus Händels „Xerxes“ den palindromen Sex-Rex

13.Mai 2012

Gedacht war das ja wohl als krönender Abschluss der Intendanz von Andreas Homoki: Stefan Herheim, der derzeit meist umworbene und beschäftigte Regisseur der Opernszene, inszeniert an der Komischen Oper. Und zwar mit Händels „Xerxes“ dasjenige Werk aus der Feder des deutsch-englischen Barock-Komponisten, bei dem er die arg ins Rigide gerutschte Operngattung Seria mit ironischen Brüchen aufzulockern trachtete. Schon die Story schlittert an der Grenze: ein König will seinem Bruder Arsamenes die Geliebte ausspannen. Aber dann wird die dank seiner unklaren Befehle doch die Frau des Bruders, und seine eigene Ex-Geliebte Amastris taucht aus der Versenkung aus und erzwingt die Heirat.

Furios beginnt das bei geschlossenem Vorhang im hochgefahrenen Orchestergraben. Konrad Junghänel dirigiert Händels Musik in einer deutsch-italienischen Mischfassung mit Verve, frischer Dynamik und reich akzentuiert. Und immer wieder, wenn das Orchester die Szene dominiert, erfreut man sich an dem wunderbar klar strukturierten, „historisch informierten“ Klang des um zwei Continuo-Gruppen ergänzten Kammer-Ensembles des Orchesters der Komischen Oper.

Ganz und gar nicht furios hingegen, was Herheim und sein bekanntes Ausstatter-Team (Heike Scheele, Bühne, Gesine Völlm, Kostüme) auf die fast permanent rotierende Drehbühne „ausrollen“. Ein Zurücktauchen in das alte Barocktheater soll das sein. Aber man merkt vor allem den Puppenspieler, der hier mal mit übergroßen Bühnen-Teilen hantieren darf. Zunächst blickt man auf die Rückseite einer Gassen-Bühne mit dann immer wieder wechselnden Prospekten und Sofitten. Die Kostüme sind vom Feinsten. Geld spielte bei der Ausstattung offenbar keine Rolle. Sogar ein bewegliches Barockportal mit Vorhang hat man installiert. Alles ist hochgradig professionell gemacht, auch wie aus XERXES per Palindrom der SEXREX wird.

Die Umbauten bei offenem Vorhang indes geraten oft ziemlich rumplig. Und das Spiel in diesem Bühnen-Wechsel-Raum zielt statt auf feine Komik auf platten Klamauk. Hohl, glatt, routiniert kommt es über die Rampe und lässt den etwas kritischeren Zuschauer kalt. Immerhin hat man mit der zumindest im ersten Teil wunderbar ausdrucksvoll intonierenden Stella Doufexis eine Xerxes-Sängerin von zart nuancierender Gestaltungskraft – nicht nur bei ihrem berühmten, allerdings hier etwas zu langsam genommenen „Ombra mai fu“-Largo.

Karolina Gumos gibt den beinahe um seine Liebe betrogenen und darum todesbereiten Bruder Arsamenes mit enormer Geschmeidigkeit in den Koloraturen. Etwas angestrengt klingend Brigitte Geller als die Frau, um die zwischen den beiden Brüdern gestritten wird, Romilda. Ansprechend besetzt auch die weiteren (Frauen-)Partien. Ganz in der poltrigen Rolle des Hanswurst aufgehend der Counter Hagen Matzeit als geschlechter-tauschender Diener Elviro.

Am Ende gab es zwar tüchtig Beifall für die prominenten Protagonisten. Herheim, dem in Berlin noch keine wirklich gültige Inszenierung geglückt ist, beweist mit diesem Abend aber einmal mehr, wie sehr er überschätzt wird. Schade um Händel, schade um die Musik, die hier zugealbert wird, schade um diese Oper, die zumal in der zweiten Hälfte an Tiefe gewinnt, der einige beherztere Schnitte aber auch gut getan hätten. Vielleicht ja in Düsseldorf, wohin die Produktion als nächstes wandert.


 

Exkursion zum Planeten Venus

Die Komische Oper baggert Auberts „Das bronzene Pferd“ aus

11.03.2012

Sex or Nosex – das ist hier die Frage. Zu Beginn der Ouvertüre sieht man zwei kugelige Pandabären sich tummeln. Sie tun sich gütlich lieber an Bambusblättern als an einander. Bei einer Affenhorde, die dann über die Bühne tobt, und im Verlauf des Abends immer wieder und immer hemmungsloser, geht’s sehr schnell und ganz direkt zur Sache, egal ob Affe, ob Mensch, ob Gegenstand. Der Zapfen steht.

Das Stück spielt in einem Fantasie-China – oder eigentlich im Frankreich des 19.Jahrhunderts. Es geht um Fragen wie Sex vor der Ehe, freie Partnerwahl, Vielweiberei – per Trauschein oder sonst wo gekauft. Die Tochter eines Bauern soll mit einem Mandarin verheiratet werden. Der hat aber schon vier Frauen. Die ersten drei sind dick aufgequollene Kugeln, die vierte mit dem Kaiserhaus weitläufig verwandt. Und sie nutzt das, um den Mandarin herumzukommandieren. Der aber will lieber selber kommandieren. Darum die fünfte Frau. Und ihr Vater ist wegen der satten Mitgift schwer begeistert.

Allerdings kommt einiges dazwischen: die vierte Frau hat listig einen der tausend Söhne des Kaisers herbeizitiert. Der ist seit Jahren auf der Suche nach einer Frau, die ihm im Traum erschienen ist, von der er aber nichts weiter weiß. Er sucht sie überall. Die vierte Frau hat ihm als Such-Helfer ihren Mandarin-Mann zubeordert. Und der muss nun wie eine Klette immer mit dem Kaisersohn mit. Der, geil auf Abenteuer, erfährt von dem bronzenen Pferd, das immer mal wieder in der Gegend landet. Und dass, wer sich darauf setzt, auf ihm abhebt in den Himmel und nie mehr wieder gesehen ward. Meistens.

Der Kaisersohn probiert es aus – mit dem Mandarin. Die Tochter des Bauern frohlockt: nun könnte sie endlich ihren Freund, einen Knecht auf dem Hof, heiraten. Aber Pustekuchen. Der Mandarin kommt schon bald wieder zurück , will aber partout nicht erzählen, was er erlebt hat. Im Schlaf allerdings fantasiert er doch von den himmlischen Freuden, die er erlebte. Und prompt wird er starr zu Stein – und so weiter und so weiter. Schließlich macht sich auch die Bauerntochter per Pferderücken auf in den Himmel, pfiffiger Weise in Männerkleidern.

Endlich erfährt sie, was Sache ist: Sie ist gelandet auf dem Planet Venus. Die Frauen laufen dort splitternackt und zum Anbeißen lecker, allerdings wie Statuen, herum. Aber wenn ein Mann nicht wenigstens 24 Stunden seine Lust bremsen kann, wird er sofort wieder zur Erde katapultiert. Der Kaisersohn findet dort zwar seine rothaarige heimliche Traum-Geliebte. Aber er schafft die 24 Stunden nicht. Die Bauerntochter hingegen hat kein Problem, von den vielen schönen nackten Frauen sich nicht verführen zu lassen. So erobert sie von der Prinzessin den Zauberring, mit dem sich Versteinerte auf der Erde wieder zum Leben erwecken lassen.

Zurück auf der Erde bekommt der Kaisersohn seine heimliche Geliebte, und die Bauerntochter handelt dem dort ebenfalls wieder erweckten Mandarin ihre Männer-Wahlfreiheit ab. Der Mandarin gibt sie frei, sie kann ihren Knecht heiraten – ob der dann auch im Eheleben ihr Knecht wird? Das Nachsehen hat jedenfalls ihr Vater, der keine zweite Mitgift kassieren kann. Am Ende ist allgemeines Volks-Swinging angesagt im Liebesparcour – und Schluss.

Die Regie (Frank Hilbrich) peppt die etwas langatmig gestrickte Geschichte aus der Schreib-Manufaktur von Eugène Scribe mit permanenten Affen-Sex-Attacken und gelegentlichen Panda-Rollern leidlich auf. Auch chinoise Unterwürfigkeitsriten werden gern exekutiert, wie Proskynese oder Robben auf den Knien. Die zwei ausladenden Sessel in der kleinen Halle des Volks-Bauern werden immer wieder um- und wieder zurückgestülpt. Verstecken kann man sich in riesigen Umzugs-Pappkartons. So scheint vieles in Bewegung, wo eigentlich nichts passiert (Bühne: Volker Thiele, Kostüme: Gabriele Rupprecht).

Diese Geschichte vom „Bronzenen Pferd“ ist vor allem eine Projektion sexueller Reit-Wünsche. Die Verdrängungen der bürgerlichen Gesellschaft werden angepiekst aber nicht wirklich bearbeitet. Das wäre allerdings wohl auch etwas viel verlangt von einer Opéra Comique wie dieser. Man kann an der Musik von François Esprit Auber aber immerhin hören, woher Offenbach seine Muster bezog. Spritzig ist diese Musik durchaus, gelegentlich sogar inspiriert, etwa in der Arie der vierten Frau Tao-Jin (Erika Roos) oder der der Traumfrau Stella (Julia Giebel) des Kaiserlichen Prinzen Yang.

Der schießt in der Verkörperung von Sung Keun-Park darstellerisch mit allerlei kabarettistischen Einlagen den Vogel ab, auch wenn sein Tenor gelegentlich etwas eng klingt. Sehr gute Figur daneben macht auch die junge Annelie Sophie Müller als Bauerntochter Pe-Ki, die erst gegen Widerstände ihren eigenen Liebhaber Yan-Ko (Stephan Boving) erwählen darf. Tom Erik Lie ist der tumb-schmerbäuchige Mandarin Tsing-Sing. Am Pult hält Maurizio Barbacini Bühne und Graben fast makellos auf Trab.

Bei der Premiere rührte sich immer wieder Szenenbeifall, in der Pause des mit drei Stunden arg üppig bemessenen Abends gab’s allerdings auch einigen Publikumsschwund. Der Applaus ab Ende durchaus freundlich. Als Reminiszenz war das in der deutschen Übersetzung von Bettina Bartz und des Ausgräbers Werner Hintze gewiss ein interessanter Seitenblick. Und noch interessanter wäre er gewiss in einer weniger grobschlächtigen Inszenierung geraten. Dass kein Mensch das Stück heute noch kennt, verwundert allerdings auch nicht wirklich. Ganz so qualitätsblind ist das musikhistorische Gedächtnis denn doch nicht.


Dürre Replikationen

Dagmar Manzel und Barrie Kosky mit Brecht/Weills „Die sieben Todsünden“

12.Febr. 2012

Muss man für Kurt-Weill-Songs eine Lanze brechen? Der Regisseur und künftige Intendant der Komischen Oper, Barrie Kosky, glaubt das. Im Programmheft-Interview zu seiner neuen Produktion führt er auch einen Hauptschuldigen vor, Theodor W. Adorno und seine Phobie gegen Jazz. Wie viel Kosky von Adorno gelesen hat, wer weiß. Viel kann es nicht sein. Richtig sind gewiss andere Hinweise auf gewisse Vorbehalte gegen Weill: Der Bruch mit der Vergangenheit in der Nachkriegs-Avantgarde, Weills Exil und früher Tod und seine von anderer Ästhetik geprägten amerikanischen Musicals. Kosky wählt nun aber keines dieser in Amerika entstandenen unbekannteren Werke. Er wählt die bald nach der Flucht aus Deutschland noch in Europa – 1933 in Paris – und mit Weills langjährigem Textdichter Bert Brecht entstandenen „Sieben Todsünden“, ein Abstrakt dessen, wie man sich Amerika in Europa vorstellte.

Zugleich soll der Abend eine Hommage sein an Dagmar Manzel. In vielen Produktionen der Komischen Oper hat sie mittlerweile als Star reüssiert. Aber was sie als Mrs. Lovett in Stephen Sondheims Grusical „Sweeny Todd“, als Kate in Cole Porters „Kiss me Kate“ oder als Rössl-Wirtin in Ralph Benatzkys „Weißem Rössl“ zeigte, hat mit der doppelten Anna aus den „Sieben Todsünden“ wenig gemein. Gleichwohl repliziert Manzel nur, was sie dort schon zeigte. Sie zickt oder spielt das naive Mädchen, tanzt im Kreis, grimassiert, schlägt Haken oder mimt Pferdchen. Kosky verordnet ihr zudem, beide Annas zugleich zu geben, die singende und die tanzende. Denn die beiden Annas sind zwei Seiten der gleichen Person. In Koskys Inszenierung geht das allerdings nicht auf. Manzel muss Duett spielen mit einem Verfolgungs-Scheinwerfer als zweiter Anna. Und das wirkt meist albern oder unfreiwillig komisch. Von der schizoiden Struktur einer vom Gelddenken geprägten Gesellschaft, die Moral predigt aber von der Unmoral profitiert – wie Brecht und Weill sie geißeln wollten -, kommt hier nichts über die Rampe.

Zudem ist Manzel nun wirklich keine Weill-Sängerin. Ihre Stimme ist zu weich, ohne Kern, mehr vom Kopf her geführt als aus dem Bauch. Dank Mikrofon-Verstärkung kommt sie zwar gut über das Orchester. Aber es fehlt der Pepp. Und auch wenn es nicht galant klingt, Manzel ist für die Rolle nun doch zu alt. Auch instrumental bekommt sie kaum Unterstützung. Die Estnische Dirigentin Kristiin Poska, ab kommender Spielzeit Kapellmeisterin an der Komischen Oper, leitet die auf der Hinterbühne sitzenden Musiker eher symphonisch als mit der notwendigen Weillschen Schärfe. Viel zu sanft, zu schön klingt das – ohne die notwendige Schroffheit. Der die Familie sprich die Gesellschaft repräsentierende Männerchor ist versteckt in den Seitenlogen des Bühnenportals. Er agiert nicht, ist lediglich Beobachter und Kommentator. Eine grundsätzlich plausible Idee, sie trägt allerdings zu der theatralischen Dürre dieses Abends mit bei.

Und da die „Todsünden“ gerade mal eine Dreiviertel-Stunde dauern, wird der Abend aufgefüllt mit einigen Songs und Chansons. Sie dienen zugleich dazu, das Spiel mit dem Scheinwerfer einzuführen. Manzel muss dafür sich peu à peu durch den Vorhang hervor angeln im Kegel des auf sie sich heran tastenden Scheinwerfers. Indes fühlt sich das alles furchtbar angeschafft und abgeschmackt an. In seiner künstlerischen Unbedarftheit ist es ziemlich deprimierend. Zumal wenn diese Vorstellung ein Vorschmack sein soll auf das, was Kosky künftig als Intendant in dem Haus zu veranstalten gedenkt. Und der mauen Premieren-Bilanz dieser Saison bisher hilft es auch nicht aus dem Keller. Das Publikum beklatschte gleichwohl die Interpreten anhaltend, wenn auch kaum enthusiasmiert. Und nach einer Premiere sieht’s in dem Haus dann ohnehin meist noch düsterer aus.


Schwein gehabt

Was Calixto Bieito vom „Freischütz“ übrig lässt

Premiere: 29.01.2012 / besuchte Vorstellung 07.02.2012

Man wusste es eigentlich schon länger, aber nun müsste es auch dem letzten Blinden aufgefallen sein: Der Mann ist nun wirklich am Ende. Was Calixto Bieito mit seinem „Freischütz“ zu bieten hat, ist Steh-Theater antiquiertester Sorte plus den bei ihm mittlerweile sattsam bekannten Zutaten: Blut, Raufen, Rempeln, Knebeln. Stupide, langweilig, doof.

Die dritte Vorstellung, die ich besuchte, war zu vielleicht zwei Drittel frequentiert. Immerhin viel recht junges, wohl studentisches Publikum. Im gesamten ersten Teil aber rührte sich keine Hand zu irgendwelchem Szenenapplaus, und zur Pause klang es auch nur höflich-schütter. Mir hat’s danach gereicht, ich bin gegangen.

Szenisches Hauptmittel Bieitos bis dahin: Lampen, die gegen das Publikum gerichtet waren. Sollten sie aufrütteln? Von was? Mit was? Sie blendeten einfach nur. Nun, immerhin sah man zur Ouvertüre im Gegenlicht ein schönes dunkles Schwein grunznickeln im Bühnenlaub zwischen dem blattlosen Gestrüpp. Auf der Bühne gespannte Fäden oder Elektrodrähte sorgten dafür, dass das Schwein sich nicht in den Orchestergraben verirrte. (Bühne: Rebecca Ringst, Spezialisitn fürs Grobe).

Zum Eröffnungs-Chor hört man die Bühnen-Menschen „Versager“ brüllen. Gemeint ist Max. Ein tierisch-menschliches Wesen im Bärenfell torkelt durch die Reihen, wird erlegt und blutüberströmt ausgeweidet. Die Leute holen sich in blutigen Eimern (!) was von dem Fell-Inneren. Zum Dorf-Tanz wird auf quer liegende Klötze losgehackt. Sein „Nein länger trag ich nicht die Qualen“ absolviert Max – man muss das so sagen – auf einem solchen Baum-Teil stehend oder sitzend.

Ganz nett ist die Szene Ännchen-Agathe. Agathe schon mit Brautschleier-Ansatz und Magenta-Preis-Schärpe überm Oberteil im gelben Schleppenkleid, Ännchen viel kichernd und meckernd mit Schäfchen-Ohren im Haar (Kostüme: Inga Krügler). Ännchen (Julia Giebel) singt auch ihre Ariosi sehr ansprechend mit leichter, schlanker Stimme, während Agathe (Ina Kringelborn) doch arg herumorgelt und Probleme hat mit den Höhen.

Zur Wolfsschlucht sieht man Kaspar (handfest: Carsten Sabrowski) ein Alias-Hochzeits-Paar, gefesselt und geknebelt, heran schleifen. Ins Gestrüpp haben sich Baumstümpfe aus dem Bühnenhimmel gesenkt, durch die Kaspar mit seiner Opferbeute stolpert. Die Frau legt er auf dem Waldboden flach, ersticht sie waidgerecht und stellt Leuchten drum herum auf wie für eine schwarze Messe.

Wenn Max da ist und das Kugelschießen beginnt, beginnen die Baumstümpfe zu wanken. Max entkleidet sich (bis auf die Unterhose), um seine halluzinierte Agathe aus dem Fluss zu retten, und saust dabei von der rechten auf die linke Seite der Bühne. Woraufhin ein altes Mütterchen auftaucht (Text-Deutung!) und ihn gütig streichelt. Mit der letzten gegossenen Kugel ist Max wieder putzmunter und schnappt sich den gekidnappten Bräutigam, um auch ihn abzumurksen. Black. Pause.

Wie es weiter geht? Keine Ahnung. Immerhin das Orchester unter Patrick Lange ließ sich vom Shitkram auf der Bühne kaum beeindrucken und spielte Webers Musik ausgesprochen schön. Der B-Max (Dmitry Golovnin), den man vorfristig aufbot (der A-Max, Vincent Wolfsteiner, hat sich mit Grippe [?] entschuldigen lassen) war allerdings auch höchst gewöhnungsbedürftig, so flattrig ist sein Tenor, so miserabel seine Aussprache. Aber es gibt ja die Texte auf dem Display.

Man fragt sich nur immer wieder, was ist übrig geblieben von der einstigen Felsenstein-Bühne, mit der noch immer geworben wird. Die Besucher damals hatten wirklich noch Schwein gehabt, Aufführungen zu sehen und zu hören, bei denen sie als Zuschauer zum Mitdenken eingeladen waren. Hier kann man nur noch das Weite suchen.


Gerupfte Hühner

Sebastian Baumgarten fleddert die „Carmen“

27.Nov. 2011

Sie ist ein Vexierbild. Ein bisschen wie Lady Gaga wechselnd maskiert kommt sie daher. Erst mimt Carmen mit weißem Totenkopf bei der Habanera eine "rührende" Voodoo-Priesterin, dann den aufreizend stöckelnden Vamp, dann die Tamara-Bunke-Guerillera und schließlich die züchtige Señora im kleinen Schwarzen. Da will ihr durch die Stadt streunende Ex-Liebhaber Don José sie nochmal zurückerobern. Aber sie ist schon bei Escamillo auf dem nächsten Trip. Sinnlos sticht José auf sie ein.

Nach seinem Absturz mit „Tannhäuser“ bei den letzten Bayreuther Festspielen versucht Regisseur Sebastian Baumgarten an der ihm heimischen Komischen Oper Berlin mit „Carmen“ wieder Boden unter die Füße zu bekommen; näher am Text entlang will er inszenieren. Die vielgespielte und werblich benutzte Musik Bizets versteht er als Spielmaterial, dessen auch operettenhafte Schichten er freilegen will. Als kolportagehaftes Kunst-Spanien wollen er, sein Bühnenbildner Thilo Reuther und die Kostümbildnerin Ellen Hofmann das Spanien dieser „Opéra comique“ zeigen mit Mitteln des Grand Guignol.

Im Bühnenportal prangt ein übermaltes Plakat des Films „Biutiful“ von Alejandro Gonzáles Iñárritu über einen krebskranken Mann aus dem Migrantenmilieu Barcelonas. Knallig beginnt‘s: Licht aus, Musik ab. Auf dem zur Ouvertüre mit einer Leinwand verhängten Vorhang liest man Sinnsprüche aus der Fibel eines Torero wie: Nicht zweifeln im Augenblick des Tötens. Oder: Im End-Stadium des Kampfes bittet der Stier förmlich um seinen Tod. Wenn die Bühne sich öffnet, blickt man auf eine abgefackelte Filiale der „Santander“-Bank, dahinter eine ausgehöhlte Wohnwabe. Schutt türmt sich auf. Aus einem noch intakten Rollladen-Tor strömen die Arbeiterinnen der wohl unterirdischen Zigarettenfabrik, lassen sich nieder, stecken sich Glimmstängel an und rupfen Hühner für Carmens Voodoo-Kult.

Micaela, der Gegenentwurf von Weiblichkeit, Josés frühere Geliebte, kommt angeschwebt auf einem Roller wie eine Madonna. Gehüllt ist sie in einen wasserblauen Umhang mit Heiligenschein über dem blonden Haupt. Im Gepäck hat sie eine Grußpostkarte von der Mutter: die heimatlichen Hügel und Wiesen im Mega-Flachbildschirm-Format. Doch José ist längst abgetaucht im Großstadt-Dschungel, hat angeheuert bei der Security. Deren Boss Zuniga figuriert hier als Operetten-Knall-Charge. Escamillo, mit Goldkettchen und Geldköfferchen, hinkt; seinen Stierkampf hat er verlegt ins Kino oder ins Casino (?).

Gespielt wird die verdeutschte Dialog-Fassung der „Carmen“ mit französischen Arien-Resten. Eingesprenkelt in die von Baumgarten bearbeiteten Dialoge sind auch Multikulti-Fetzen von Spanisch und Englisch. Dazu noch erleben wir eine – leider mindestens einmal zu oft – Flamenco tanzende Manuela, Ana Manjibar. Zuniga, alias Jens Larsen, darf auch schon mal à la Nietzsche zur Peitsche greifen, wenn er zum Weibe strebt. Die Schmuggler kriechen als Ideologie-schmuggelnde Demonstranten mit Gerippen von Marx und Lenin über die Bühne.

Mit derlei Scherzen hält Baumgarten seine Fans bei Laune. Tiefer dringt das nicht. Zuviel bleibt unbestimmt. Immerhin gesungen wird zumindest von den beiden Hauptdarstellern sehr gut. Stella Doufexis ist eine zart nuancierende Carmen. Timothy Richards gibt einen Don José mit Sentiment in der Stimme. Im Graben lässt Yordan Kamdzhalov es vor allem krachen; die feineren Zwischentöne findet er nicht. Das Publikum spendete freundlichen aber knappen Beifall. Es ist Baumgartens vierte Arbeit an dem Haus und seine vorläufig letzte. Er sei Berlin-„müde“, bekundete er, wolle lieber beim gen Zürich abwandernden Intendanten Andreas Homoki und in Stuttgart arbeiten. Ach ja?


Viermal Wirtshaus

Homoki inszeniert Leoš Janáčeks Oper „Das schlaue Füchslein“ zum Abschied

02.Okt. 2011

Eine späte letzte Reverenz an den Gründervater des Hauses, Walter Felsenstein, sollte das nicht sein. Eher aus organisatorischen Gründen hat - so sagt er - Andreas Homoki, der scheidende Intendant der Komischen Oper, dies Stück an den Schluss seiner Berliner Amtszeit gestellt. Legendär war die Felsenstein-Inszenierung von Leoš Janáčeks Oper „Das schlaue Füchslein“ aus dem Jahre 1956, über zweihundertmal aufgeführt im Haus an der Behrenstraße. Für Homoki aber würde die Art der Vermenschlichung von Tieren, wie Felsenstein sie zeigte, heute nicht mehr funktionieren – durchaus nachvollziehbar, wenn man sich die digitalisierte Technik moderner Trickfilme vergegenwärtigt.

Homoki akzentuiert stärker die Rahmenhandlung dieser Oper. Dafür hat er sich von Ausstatter Christian Schmidt ein viermal exakt gleiches Bühnenbild auf die Drehbühne bauen lassen. Es zeigt den zentralen Ort der Handlung, das Wirtshaus mit Blick auf den Wald. Mal ist das der Schankraum, mal Hochzeitssaal oder Schule, Fuchsbau. Mal ragen die Tannen kerzengerad hinter der Glastür, mal liegen sie umgestürzt in dem verwüsteten Raum. Der Förster und die Notabeln des Dorfs – Pfarrer, Schulmeister – tummeln sich darin ebenso wie die Tiere. Schnelle Wechsel der Sängerdarsteller/-innen von Mensch zu Tier mit entsprechenden Masken sollen das Tierische in den Menschen und umgekehrt spiegeln. Es gibt skurrile Bilder, etwa wenn die Schülerinnen Lernen mimen oder sich in Hennen oder junge Füchslein verwandeln.

Aber das fast permanente Drehen der Drehbühne, die starke Segmentierung in video-getaktete kurze Bildsequenzen bringt auch eine gewisse Unruhe in die Szene. Was Janácek mit dieser Oper vor allem vermitteln wollte, Achtung der Menschen vor der Natur, geht dabei doch etwas verloren. Die Inszenierung bekommt einen stark realistischen, fast naturalistischen Zug; zu kurz kommt das Poetische. Großartig gleichwohl die Leistung von Brigitte Geller in der Titelpartie der Füchsin Spitzohr. Mit lichtem Ton und katzenhafter Beweglichkeit huscht sie über die Bühne. Stark kontrastiert sie so zum reichlich vierschrötigen Förster von Jens Larsen. Alexander Vedernikov im Graben kostet die reichen Farbnuancen der Partitur voll aus, macht insbesondere die weiträumigen instrumentalen Strecken des Werkes, von Janáček auch gedacht als Hinweis auf seine Natur-Botschaft, zum eigentlichen Zentrum.

Am Ende viel Beifall für das ganze Team und insbesondere für Homoki und seine letzte Arbeit am Berliner Haus vor dem Wechsel nach Zürich.


 

Schöner träumen

Die Berliner Opernbühnen am Saisonschluss - eine Bilanz

15.Juli 2011



Gefangen im eigenen Gefängnis

Bieito mit Poulencs „Gespräche der Karmelitinnen“ (Dialogues des Carmélites)

26.Juni 2011

Francis Poulencs 1957 uraufgeführte Oper über den Märtyrertod eines Frauen-Konvents in der Französischen Revolution begegnet man jetzt häufiger auf den Spielplänen. Nun veruschte sich auch Calixto Bieito daran.

Eingestimmt wird man beim Betreten des abgedunkelten Theatersaals mit religiösen Gesängen vom Band. Auf der Umrahmung der Bühne rechts und links: Bildschirme mit Frauengesichtern im Interview. Live singt der Damenchor vor Beginn der Oper noch einen Hymnus. Dann klettern die Frauen in die Kojen ihrer aus Metallgestängen vier Etagen hoch gebauten gefängnisartigen Blocks. Zwei lange Stunden geht‘s dann ziemlich monoton weiter mit Mono- und Dialogen vorn an der Rampe. Immer mal wieder dreht sich die Drehbühne mit den Frauensilos. Wenn die alte Priorin stirbt, wird sie auf ein weißes Leinentuch gebettet und ihr nackter Körper ausgiebig gewaschen. Auch einer Enthauptung darf man beiwohnen.

Spannend wird es in dieser Inszenierung erst am Schluss, wenn die Ordensfrauen vom Exekutionskomitee Schilder um den Hals gehängt bekommen mit der Aufschrift „Hure Gottes“ und dann einzeln in die Todesmaschinerie steigen, um geköpft zu werden. Auch Blanche, die ursprünglich in den Orden eintreten wollte, um ein „heldenhaftes“ Leben zu führen aber dann geflohen war aus dem Konvent, als die Häscher anmarschierten, stellt sich schließlich dem Todesurteil und stirbt. Übrig bleibt eine Geistesverwirrte, die mit bloßem Unterkörper in durchsichtigen Strumpfhosen und grinsendem Blick von Anfang an über die Bühne holperte und ihre Blöße präsentierte.

Stefan Blunier am Pult des Orchesters der Komischen Oper arbeitet gerade im Schlussbild die martialischen Schläge, die das Fallen der Guillotine-Schneide symbolisieren, sehr plastisch heraus. Aber Poulencs in kurzen Phrasen wie Sprechgesang gegliederte Sequenzen klingen auf Dauer bei ihm doch etwas zu eintönig. Maureen McKay ist eine exzellent intonierende Blanche, Erika Roos die resolute neue Priorin Marie. Den Regie-„Berserker“ Calixto Bieito bekommt man an dem Abend kaum zu erahnen. Und siehe, seine Bühnensprache wirkt ohne seine üblichen Zutaten spröde, steif und leer. Die Bühne von Rebecca Ringst lässt allerdings auch kaum Raum für spielerische Entfaltung. Oder soll sie es nicht?

Jubelnder Beifall beim Publikum am Ende, der aber wohl eher der „Marke“ Bieito galt, als dem was er hier zu bieten hatte. Bieito schien da wie gefangen im eigenen Gefängnis.


Loch in der Planke

Benedikt von Peter versenkt Mozarts „Idomeneo“

Premiere: 14.05.2011 (besuchte Vorstellung: 20.05.11)

Dies ist nun schon die dritte Regiearbeit, die der als Nachwuchs-Hoffnung gehandelte Benedikt von Peter an der einstigen Felsenstein-Bühne vorlegen durfte. Die durch einen Götz-Friedrich-Preis geadelten Qualitäten des Jung-Regisseurs erschließen sich auch bei diesem „Idomeneo“ nicht. Von Peter beweist zwar einige Fantasie überkommene Opernpartituren durch aufgesetzte Neustrukturierungen zu verändern. Sinnvolle neue Erkenntnisse ergeben sich daraus nicht.

Hier will er die Geschichte um den aus dem trojanischen Krieg zurückkehrenden Kretischen König Idomeneo, der aus einem Sturm nur dadurch gerettet wird, dass er den ersten Menschen, der ihm am Strand begegnet, zu opfern gelobt – es ist sein Sohn Idamante –, aus der Perspektive wiederum zehn Jahre später erzählen. Das Paar Idamante und die befreite Trojanische Königstochter Ilja sind verheiratet, haben ein Kind. Und die Geschichte wird nochmal in der Erinnerung rekapituliert.

Dazu wird der Chor mit Stühlen auf einer tsunami-gewellten Schiffsplanken-Bühne (Annette Kurz) platziert. Das vor allem durch die Chöre dramatisierte Werk wird zurück ins Oratorische geschraubt. Und alle an der Geschichte Beteiligten dürfen hin und wieder in einer in die Schiffsplanken eingelassenen Pfütze ein Taufbad nehmen. Das Kind spielt immer mal wieder in der Pfütze mit seinem Bastel-Segelschiff, oder lauscht ansonsten, wenn die Mutti es nicht wegholt, den Erzählungen des etwas tattrigen Opas im roten Strick-Pulli (Kostüme: Annelie Vanlaere).

Immerhin musikalisch hat das mit Patrick Lange am Pult einige Meriten. Die Tempi sind meist straff, vielleicht eine Idee zu straff, aber die Orchesterstimmen gut durchartikuliert. Rainer Trost ist stimmlich ein fast lyrisch intonierender Idomeneo, der auch mit den schwierigen Koloraturen gut zurande kommt. Brigitte Geller gibt eine doch etwas verhärmte Ilja. Karolina Gumos ist der eher schroffe Idamante, Erika Roos die schlangen-schlampenhaft-rachsüchtige Elektra im schwarz glitzernden Palletten-Kleid.

Die Partie des Königsberaters Arbace, meist reduziert aufs Nötigste, ist hier ganz gestrichen und auf die anderen Sänger aufgeteilt, was die Verwirrung um den Gang der Erzählung eher noch steigert und die ohnehin schon gegen Null gefahrene Spannung weiter vermindert. In der von mir besuchten zweiten Vorstellung gähnten die Lücken im Parkett denn auch lautstark. Vielleicht ein Viertel der Plätze waren besetzt. Kein Wunder.


MG statt Flüstertüte

„Salome“ als Revoluzzerin

10.April 2011

Mit Untertiteln auch in Türkisch will die Komische Oper demnächst mehr Besucher ins chronisch unterfrequentierte Haus locken. Für ihre jüngste Produktion, Richard Strauss‘ „Salome“, wird sie dabei sogar mit einer besonderen Attraktion aufwarten können: Keine Mohammed-, sondern Christus-Karikaturen hat der Regisseur Thilo Reinhardt in die heikelste Partition des Strauss-Einakters eingebaut, den Tanz der sieben Schleier.

Salome, die hier weniger femme fatale als pubertierende Jung-Revoluzzerin ist und ihre Initiation durch die düsteren Prophezeiungen des Wort-Guerilla Jochanaan erfährt, durchlebt da eine Art surrealistischen Albtraum. Sie empfängt da etwa ihren durchs Fenster einsteigenden Verehrer Narraboth, sieht, wie Mutter Herodias sich auf ihrem gelben Thron von Jochanaan begatten lässt und wie die Juden in einem masochistischen Massenakt sich selber ans Kreuz nageln. Bisweilen wirkt das alles eher unfreiwillig komisch.

Am Ende ist es die Mutter, die zum langen Messer greift, in den Keller steigt und dem Jochanaan den von der Tochter begehrten Kopf abschlägt. Warum Salome dieses Jochanaan-Haupt unbedingt noch küssen will, bleibt in dieser Inszenierung eher schleierhaft. Schon vorher, als auf Salomes Insistieren hin die Soldaten den wortgewaltigen Prediger aus seinem Verlies aufschlossen, hat sie sich mit Verve auf ihn gestürzt, ihn geküsst, seine blutbespritzte Jacke ausgezogen und sich übergestreift (am Ende auch seine Hose). Sie ist gleichsam in seine Rolle geschlüpft.

Morenike Fadayomi, die hier die Salome singt, kommt als eher rotzige Göre im rot gepunkteten kurzen Kleidchen und mit roten Pumps über die stark angeschrägte, schwarz-weiß getigerte Bühne (Paul Zoller) gestöckelt. Etwas Mühe hat sie mit ihren in tiefer Tonlage ausgestoßenen Drohungen und Forderungen. Die Höhen bewältigt Fadayomi mit strahlender Kraft bis zum Schluss, wenn sie als Nachfolge-Terroristin die Jochanaansche Flüstertüte mit dem MG vertauscht und in Siegerpose den Befehlen des Stiefvaters Herodes „man töte dieses Weib“ trotzt.

Am Pult steht der frühere Chefdirigent des Bolschoi-Theaters, Alexander Vedernikov. Unter seiner Leitung spielt das Orchester der Komischen Oper die als Muster der Instrumentationskunst des frühen 20.Jahrhunderts berühmte Partitur mit blühendem Ton. Plastisch modelliert Vedernikov auch die schrofferen Farben. Was etwas fehlt, ist die schlanke Durchsichtigkeit, wie sie der früh verstorbene Giuseppe Sinopoli aus dieser Partitur zauberte. Gleichwohl hat man das Orchester seit den Zeiten von Kirill Petrenko nicht mehr so präzis musizieren gehört.

Musikalisch wird die Aufführung denn auch fast einhellig gefeiert. Andreas Conrad gibt in seinem gelben Hemd mit blauem Anzug (Kostüme: Katharina Gault) einen zappeligen Herodes, Christiane Oertel ist die tigerhaft zupackende Herodias, Egils Silins der stoische Jochanaan. Das Regie-Team musste sich indes heftigste Buhs gefallen lassen, was den Intendanten Andreas Homoki nicht weiter irritieren dürfte.


Am Angelhaken

„Rusalka“ in der Sicht von Barrie Kosky

20.02.2011

Märchen müssen sein, verkündet Regisseur Barrie Kosky und überrascht mit einer „Rusalka“, die sich relativ eng an das hält, was in Antonín Dvoráks Noten steht. Man will wieder nachvollziehbare Geschichten erzählen an der Komischen Oper. Auch Barrie Kosky erprobt sich an der Idee, nicht für alles, was sich in vergilbten Notenblättern findet, nach modernen Entsprechungen zu krampfen. Verzichten will er dennoch nicht auf ein paar grelle Jokes wie die kreischend-stampfenden Waldelfen in schwarzen Kleidchen à la „Das weiße Band“. Klaus Grünberg hat ein Bühnenbild gebaut wie aus der Wende 19./20.Jahrhundert, eine Muschel mit einer schmalen Tür wie ein Mauseloch, durch das die Figuren meist mit lautem Knall auf- und abtreten. Die Undine Rusalka, die vom Meerestier zum Luftmenschen mutieren will, hat einen richtigen Fischschwanz, der ihr von der gestrengen Hexe Ježibaba unter Assistenz eines debilen Epileptikers und mit Eintrichtern von schwarzem Katzenblut, auf dem Operationstisch amputiert wird.

Da ihr auch die sauber abgenagte Fischgräte aus dem Leib gezogen wird, hat Rusalka zunächst Probleme mit Laufen, mit Sprechen sowieso, was ihre Beziehung zu dem Rehlein-suchenden Prinzen vor unüberwindliche Schranken stellt. Dann kommt noch die fremde Fürstin ins Spiel, ein kalte Schlange, die den doch schon etwas angegrauten Fürsten um den Finger wickelt wie eine Professionelle. In der Küche sieden sie derweil jede Menge Fische in riesigen Kochtöpfen, auch Hummer, die, weil in roter Schale angeliefert, eigentlich schon gegart sind. Aber auch die schöne lange Robe mit braunem Muster wie auf einer Sahnetorte nützt nichts: Das weiße Rehlein kann auch nicht tanzen, knickt ein wie ein dünnes Zweiglein. In einer Trauerversammlung von schwarz Verschleierten lässt sich Rusalka schließlich an den Angelhaken nehmen und küsst ihren Prinzen zu Tode.

Patrick Lange im Graben dirigiert einen sehr bewegten Dvorák, lässt die Musik gleichsam fluten. Mit kleinen Überblendungseffekten wird Klaus Grünbergs sonst starre Bühne flexibilisiert zu einer Gummizelle. Ina Kringelborn ist die naiv-unbeholfene Rusalka, Timothy Richards mit strahlendem Tenor der etwas angegraute aber gut erhaltene Prinz. Agnes Zwierko gibt die herrische Ježibaba, Ursula Hesse von den Steinen die tückische fremde Fürstin. Den Chor hat Kosky ins Off verbannt, was viel Probenarbeit spart. Der wie ein Papa im samtenen Hauskittel (Kostüme: Klaus Bruns) auftretende Wassermann singt auch des Öfteren aus dem Off (Dimitry Ivashchenko). Das Publikum goutierte die Aufführung am Ende mit fast einhelligem Jubel. Dennoch sollte Kosky dringend mal sein Frauenbild auf den OP-Tisch legen. Auch wenn er hier auf Märchen macht, so einspurig ticken (selbst) Frauen nicht.


Die Kathi von der Post

Ralph Benatzkys „Im Weißen Rößl“
als Revue-Operette

28.November 2010

Man durfte gespannt sein. Nach Notenfunden vor einiger Zeit in Zagreb konnte Ralph Benatzkys „Rößl“-Operette in der einst von Eduard Künnecke orchestrierten Originalfassung rekonstruiert werden. Sebastian Baumgarten am Regie-Pult, der demnächst den Grünen Hügel erklimmen will, sollte sie spritzig neu präsentieren.

Bekannt ist die Schmonzette vom Wolfgangsee heute in einer nach dem Krieg vor allem instrumental trocken gelegten Fassung. Revue-Operetten, wie diese von Erik Charell 1930 im Großen Schauspielhaus Berlin uraufgeführte, waren indes Massen-Veranstaltungen mit einigen hundert Darstellern auf der Bühne für einige tausend Leute Publikum im Saal. Neben einem groß besetzten symphonischen Orchester waren da auch kleinere Kapellen aufgeboten, die – zumal wenn der Kaiser zur Jagd an den Wolfgangsee kommt und im „Weißen Rößl“ absteigt – sich ineinander mischten à la Charles Ives. Oder ein Barpianist kommentiert jazzig die Dialoge, improvisiert Übergänge. Revue-Operette hieß aber auch: es gibt viele meist eher kleine Rollen, die sich wie Kometenschweife durch die von (nicht nur damals) aktuellen Anspielungen wie Wirtschaftskrise, Angst vor der ungebremsten industriellen Revolution angereicherte Komödie ziehen. Dabei sind es eigentlich nur fünf bis sechs Charaktere, die für die Story wichtig sind.

In der Komischen Oper hat man dafür mit Dagmar Manzel als ewig zickender Rössl-Wirtin und dem wunderbar wandlungsreichen Max Hopp als Zahlkellner Leopold durchaus prominente Schauspieler, die auch gut singen. Dieter Montag gibt den wilhelminisch Berlin-verbohrten Untertrikotagen-Fabrikanten Giesecke. Als dessen Töchterlein Ottilie bandelt die piepsige Kathrin Angerer mit seinem ärgsten Feind, dem Anwalt Dr. Siedler, an. Roland Späth verleiht ihm tenorale und muskulöse Strahlkraft. Aber dann wird’s mit der Personage schon periphär. Auf mehr als dreieinhalb Stunden dehnt sich der Abend. Von den endlos herunter gehasteten Dialogen versteht man bestenfalls ein Viertel. Selbst die Übertitelungs-Anlage war da überfordert und nur für die Musiknummern geschaltet. So schleppt sich das dahin zwischen dem beeindruckenden Aufwand an ungestalten Kostümen für den eher einfallslos choreografierten Chor und den bekannten musikalischen Sternschnuppen zum Mitsingen (am Pult: Koen Schoots). Immerhin eine neue Jodler-Königin wurde kreiert: Mirka Wagner als die stahlblaue Kathi von der Post. Alt-Fassbinder-Mimin Irm Hermann durfte als rotblond gelockter Kaiser ins Klohäusel stürzen. Und auch sonst gab's noch ein paar Schmankerln.

Aber Regisseur Baumgartenwar sich wohl bewusst, dass das Feuerwerk nicht recht zündete. Beim Applausreigen verschwand er schnell wieder in der Kulisse. Der Versuch war wohlgemeint, die Spezies Revue-Operette aus Vor-TV-Unterhaltungs-Zeiten zu rekonstruieren. Zu einem Rasse-Theatergaul wuchs das Rössl nicht. Schon die Bühne eines Hauses wie der Komischen Oper wäre für derlei Breitwand-Epen zu schmal. Der Beifall des Premieren-Publikums hielt sich denn auch in Grenzen. Kathrin Angerer bekam sogar ein paar Buhs mit nachhause. Da war die sehr viel weniger aufwändige, dafür intime Version in der "Bar jeder Vernunft" mit den Pfister-Geschwistern und Andreja Schneider als Wirtin vor vielen Jahren ungleich viel spannender.


Stuhlgang oder:
die Preisfrau im Christkindllook

Andreas Homoki inszeniert Wagners „Meistersinger von Nürnberg“

26.Sept. 2010

Fast dreißig Jahren ist es her, da hatte der damals frischgebackene Chefregisseur Harry Kupfer den Kraftakt auch schon gewagt: Richard Wagners „Meistersinger“ in der Berliner Komischen Oper. Sehr unterhaltsam und nicht ohne politische Spitzen. Walter Felsenstein, der Gründervater des Hauses, hatte lediglich den „Holländer“ als für dies Haus passable Wagner-Oper „geduldet“; Joachim Herz durfte inszenieren. Jetzt hat Intendant Andreas Homoki, zwei Jahre vor dem Sprung nach Zürich, wieder Wagner auf den Spielplan seines Hauses gesetzt. „Die Meistersinger von Nürnberg“ empfindet er als Ensembletheater par excellence, und als Kammerspiel hat er es auch inszeniert. Zwölf Wochen hat er sich an Probenzeiten gegönnt mit meist Novizen von Sängerinnen und Sängern in ihren Rollen.

Homoki wagt keine heikle Neudeutung, wie Katharina Wagner sie in Bayreuth mit der Einbindung des Werks in die Nürnberger NS-Parteitags-Geschichte und überbordendem Materialaufwand auf die Bühne stemmte. Homoki versucht das Werk aus sich heraus zu erzählen als einen Diskurs über künstlerische Tradition und Erneuerung. Frank Philipp Schlößmann hat ihm dazu eine Stadtkulisse aus beweglichen, spitzgieblig-würfelartigen Häuschen samt Kirchturm gebaut, die einen mobilen, freilich engen Spielraum bieten. Ständig werden (von zwei Dutzend Bühnenarbeitern!) die Gebäude verfahren, bilden mal eine trutzburgartige Stadtmauer mit Wachhäuschen für den Zensor, mal ein offenes Rund oder ein verwinkeltes Labyrinth. Die Figuren hangeln sich daran entlang, lugen um die Ecke oder lauern in den Nischen.

Wenn der junge Ritter Walther von Stolzing im 1.Akt mit einem Probelied bei den Meistersingern andocken will, um Eva Pogner zu bekommen, verdrücken die Meisterprüfer sich in die im Halbkreis formierten Häuschen wie zum Stuhlgang in ihre stillen Örtchen. Nur Hans Sachs, den weiter blickenden unter ihnen, hält es dort nicht, und er begutachtet aus der Nähe, was dem jungen Walther in die Kehle strömt. Sachs (Tómas Tómasson) ist gezeichnet als bodenständiger Kumpel, man könnte sich ihn auch als Vorarbeiter in einer Danziger Werft denken. Wenn ihm aber einer blöd kommt, geht er auf den schon mal los mit dem spitzen Leisten als wär’s eine Pistole. Eva Pogner (Ina Kringelborn), die er sich heimlich als zweite Frau vorstellt, ist denn auch hin und her gerissen zwischen ihm als väterlichem Freund und dem jungen Walther im langen Militärmantel.

Zur Festwiese ist Eva mit steifem lachsfarben-goldenen Glockenrock herausgeputzt wie ein Nürnberger Christkindel. Dem Sachs drückt sie nach dem „Traum“-Sieg ihres Walther beim Preissingen noch dankbar einen Kuss auf die Lippen. Gegen einen wie diesen Beckmesser hatte Stolzing allerdings keine Mühe. Wie eine hibbelige Knallcharge, Theo-Lingen-Kopie, mit grauen Schwalbenschwänzen und gepflegtem Bärtchen wirkt der Beckmesser von Tom Erik Lie. Das Tohuwabohu, das der Stadtschreiber mit seinem mitternächtlichen Ständchen vor Evas Haus bewirkt, kommt als mittleres Erdbeben daher, die Häuser samt Kirchturm kippen übereinander.

Für das Quintett im 3.Akt wird die Bühne leer geräumt und auf der Festwiese ist nun alles bunt, auch die Stadtbewohner toben kunterbunt herein. Zu Sachs‘ deutschtümelnder Warnung vor dräuenden „üblen Streichen“ allerdings verziehen sie sich und kommen erst ganz zum Schluss wieder hervor, packen Stolzing auf ihre Schultern und tragen ihn jubelnd davon als einen der Ihren, einen Neuerer. Sachs guckt ihnen zufrieden hinterher, und auch Beckmesser gesellt sich erstaunt dazu.

Musikalisch gelingt dem neuen jungen GMD Patrick Lange mit dem Orchester der Komischen Oper ein anfangs etwas zu massiver, dennoch sehr präziser und zumal in den kontrapunktischen Teilen sehr durchsichtiger Wagner-Ton. Selbst in der schwierigen „Prügelfuge“ des 2.Akts hält er den famosen Chor und das Orchester gut zusammen. Auch die Sänger sind fast immer gut zu hören. Homoki lässt sie allerdings auch meist weit vorn, fast an der Rampe singen. Marco Jentzsch als Walther hat ein metallisch glänzendes Organ, auch wenn es ihm wie auch der Eva etwas an Geschmeidigkeit und Schmelz fehlt. Davon hat Dimitry Ivashchenko als ihr Vater Veit Pogner dafür umso mehr zu bieten; dass er trotz Johannisnacht aber immer im Pelzkragen-Mantel schwitzen muss, mutet wie auch die sonstige Kostümierung (Christine Mayer) etwas seltsam an. Kregel das Nebenpaar Karoline Gumos als Magdalene und Thomas Ebenstein als David.

Für das Haus dennoch ein gelungener Spielzeitauftakt mit einmütigem Beifall am Ende für alle Beteiligten. Einmal mehr aber fragt man sich nach diesen langen 5 ½ Stunden, ob Wagner der Welt nicht mehr als nur „noch einen Tannhäuser schuldete“.


 

Operette vom Feinsten

Nicolas Stemann mit seinem Musiktheaterdebut: Offenbachs „La Périchole“

06.Juni 2010

Endlich einmal wieder eine Aufführung an der Komischen Oper, die Lust macht zuzuschauen; endlich einmal eine Aufführung, bei der man nicht schon nach ein paar Minuten denkt „oh Gott“. Das Wunder vollbrachten Regisseur Nicolas Stemann mit seiner ersten Musiktheater-Produktion und Markus Poschner am Pult. Fußend auf einer Neuübersetzung von Bernd Wilms haben sie eine so intelligente wie unterhaltsame Umsetzung von Offenbachs Straßensänger-Ballade „La Périchole“ zustande gebracht, die die verhältnismäßig banale Story für ein heutiges Publikum aufbereitet wie auch das Genre Opéra-bouffe selbst thematisiert.

Das Stück erzählt von einer durchaus aktuellen Situation, der gesellschaftlichen Spaltung von oben und unten, und dass die Regierenden nicht wissen, was die Regierten denken. Don Andrès, der Vizekönig von Peru (natürlich möglichst weit weg), streift inkognito durch die Straßen. Er will endlich die Pilatus-Frage über sich klären, was es auf sich hat mit der Wahrheit und was die Leute denken über ihn. Aber er will auch nur einfach Mädchen aufreißen, weil ihn das Regieren langweilt. Dabei stößt er auf das Bänkelsänger-Pärchen Périchole und Piquilla, die hemmungslos schimpfen über das Treiben derer da oben.

Stemann durchbricht diese Geschichte immer wieder mit diversen weiteren Erzählsträngen als running gags. Da figurieren die beiden Hofschranzen Graf Miguel und Don Pedro als gleichsam Conférenciers, die die Wendungen der Geschichte launisch kommentieren. „Drei Cousinen“ treten auf wie die Rheinnixen, fungieren als Kioskdamen wie als Leibwächtergarde. Ein „alter Gefangener“, der im Verlies des Vizekönigs schmort, versucht immer wieder auf die Querverbindungen zur Entstehungszeit dieser Operette vor und nach der Pariser Commune zu verweisen mit roter Fahne und schüchternen Aufrufen an die „Arbeiter“, ihre Chancen klug zu nutzen zum Umsturz. Und schließlich, und das ist der entschiedenste Eingriff, wird die Liebesgeschichte der kessen Périchole und ihres etwas begriffsstutzigen Piquilla aufgewertet durch Einschübe aus Wagners „Tristan“.

Eine Paraderolle hat hier Harry Kupfers früherer Don Giovanni Roger Smeets, der dem so verkalkten wie cleveren Vizekönig ein höchst differenziertes Profil verleiht. Andreas Döhler ist der verdruckste „alte Gefangene“, der beharrlich seine rote Fahne schwingt, um am Ende piekfein das Happyend einzuläuten mit dem Cancan „Oh welches Glück, dass es die Liebe gibt“. Karolina Gumos ist als Straßengöre die so gerissene wie als Hofdame alerte Périchole. Zusammen mit Johannes Chum als Piquilla weiß sie nicht nur freche Chansons zu schmettern sondern auch in Wagners „Nacht der Liebe“ einzutauchen. Schmissig das Orchester der Komischen Oper unter Markus Poschner; zum Finale wird es hochgeholt aus dem Graben, darf aufspielen auf einem Rollpodium auf der Bühne. Immer wieder Szenenbeifall einheimsen konnten auch „die drei Cousinen“ (Anna Borchers, Mirka Wagner, Olivia Vermeulen) mit ihren Couplets.

Das Inszenierungsteam (mit Katrin Nottrodt, Bühne, Marysol del Castillo, Kostüme) musste am Ende zwar auch einige heftige Buhs kassieren, doch die Bravos überwogen. Zu Recht: Operette war das vom Feinsten, etwas zeitversetzt per „3sat“ übertragen auch im Fernsehen. Und der Abend zeigt, es bedarf eines überlegenen Handwerks, um die Struktur eines Werks aufzubrechen und heutigen Wahrnehmungs-Mechanismen anzupassen. Bloßes modisches Rumgefummele, wie man es meistens vorgesetzt bekommt, genügt nicht. Aber auch nur stromlinienförmiges Aufpeppen, das innerlich hohl bleibt, bringt’s nicht. An der Komischen Oper kann man nun Beispiele für alle drei Varianten finden, leider vor allem für die beiden letzteren.


Fidel auf der Müllkippe

Ludwig van Beethovens „Fidelio“ in der Urfassung von 1805

25.April 2005

Oh welch namenlose Freude! Gott sei Dank ist er nicht erstickt, unser Florestan – unter all den Müllsäcken im rostigen Container und nach all den Jahren. Nein, im Gegenteil. In einem goldseidenen Rock kommt er wie frisch gepellt hervorgekrochen aus dem stinkenden Loch, als sein Widersacher Pizarro ihn endlich gar machen wollte. Der junge Regisseur Benedikt von Peter liebt es ein bisserl schmuddelig-trashig. Vor zwei Jahren bei seinem Debut an der Komischen Oper mit Händels „Theseus“ durften wir einer veritablen Schlammschlacht beiwohnen. Jetzt prunken von Peter und seine Bühnenbildnerin Natascha von Steiger mit einem Müllcontainer als zentralem Bühnenrequisit, wie es einst Peter Konwitschny in Graz dem Falstaff als Wohnmobil zuordnete. Ständig sind da Müllsäcke umzuschichten – der wichtigste Vorgang –, immer mal wieder dampft’s und qualmt’s aus der Rostlaube. Alles wird entsorgt, ein ganzes Theater, auch schon die Ouvertüre.

Statt der Ouvertüre spielt der Müll-Container auch im Vorspiel die erste Geige. Elektrische Schraubenzieher brummen. Parkettstühle und anderes Theatermobiliar wandern in den Container. Regisseur von Peter möchte des Tonschöpfers Ludwig van Beethoven tief vergrabene Hoffnungsbotschaften, an die heute keiner mehr glaubt, wieder ausgebuddelt wissen. So jedenfalls spricht er im durchaus lesenswerten Programmheft. Von Peter hat die Frühfassung der einzigen Oper van Beethovens ausgegraben, die sich theatertechnisch vor allem durch mehr Umständlichkeit auszeichnet und die bekanntlich krachend durchfiel bei der Uraufführung 1805, weil Kaiser Napoleon gerade Wien erobert hatte und das noble Publikum gern auf eine französisch angehauchte Rettungsoper verzichtete.

Eine Variante ist allerdings höchst bemerkenswert und weitsichtig in dieser Frühfassung: der Gefängnisgouverneur Pizarro wird am Ende nicht bestraft. Vielmehr verzeiht ihm sein Ex-Gefangener Florestan als echtes Blumenkind die Qual und nimmt ihn in die Arme, während der zur Inspektion mit Kutsche und lebendigem Schimmel angereiste Minister Fernando ob so viel Güte auf seinem Kutschbock zwischenzeitlich sanft entschlummert. Und das Volk, das zuvor eifrig Hartz-IV- und Sonstwas-Demo-Plakate malte, trägt nun als neue Losung blütenweiße Spruchbänder mit sich, verteilt sogar unbeschriftete weiße Tafeln zum Durchreichen ins Parkett. Am Ende bleiben der Müllwächter Rocco, seine von Fidelio ernüchterte Tochter Marzelline, der Müllkippen-Pförtner Jaquino und der reintegrierte Müll-Gouverneur Pizarro allein zurück, ratlos in ihren nun barockisierenden Kostümen (Katrin Wittig).

Die beiden Protangonisten Leonore, alias Fidelio, und Florestan dürfen als „hohes (Geister-)Paar“ einer vergangenen Zeit allerdings von Anfang an in barockisierendem Goldbrokat durchs Stück wandeln, zudem werden ihre (insgesamt recht dilettantisch erklingenden, mit Grundrauschen untermalten) Dialoge wie die von Aliens per Verstärker auratisch verhallt. Beim Singen allerdings helfen auch die Mikros nichts. Es ist nur das (leider) Komische-Oper-übliche Mittelmaß. Will Hartmann presst einen engen Florestan heraus, Ann Petersen ist eine Koloraturen-verschwommene Leonore, Maureen McKay gibt eine vibratostarke Marzelline. Vielschichtig am ehesten noch Carsten Wittmoser als so schlitzohriger, wie verschmitzter und verdutzter Don Pizarro. Carl St. Clair am Pult dirigiert einen straffen, allerdings weniger auf Nuancen bedachten Ludwig van.

Schon zur Pause tönt nach matten Zwischenapplausen ein kräftiges Buh. Am Ende wogt es hin und her zwischen Buhs und Bravos. Fidel auf der Müllkippe. Ja, so lieben wir unsere Komische Oper.

PS: Kurz nach der Premiere hat der Dirigent St.Clair sein GMD-Amt niedergelegt. Sene (berechtigten) Einwände gegen die Inszenierung wurden von der Leitung des Hauses verworfen. Ein GMD spielt an der Komischen Oper allenfalls die zweite Geige...


Beziehungs-Tausch

Georg Friedrich Händels später „Orlando“

26.Febr. 2010

Händel allerorten. Die Jubiläumsjahre 2009 (250.Todestag) und 2010 (325.Geburtstag) erinnern an ihn nachhaltig. An der Berliner Komischen Oper war er allerdings schon vorher präsent – mit unterschiedlichem Erfolg. Der neue Versuch mit „Orlando“  hübscht die Bilanz nicht unbedingt ins Plus.

„Orlando“ ist eine der späten Opern Händels, ein Versuch nochmal wieder „ins Geschäft“ zu kommen, indem er Abschied nahm von den mythologischen Themen und sich einem literarischen Sujet, einer Episode aus Ariosts „Orlando furioso“, zuwandte. Die Oper hatte keinen Erfolg, vielleicht auch weil Händels Lieblings-Kastrat Senesino das Werk nicht mochte und vorher ausstieg. Erst mit den zwei folgenden Werken, zumal der auch musikalisch ungleich stärkeren, weil auch die eigene Betroffenheit genauer spiegelnden „Alcina“ (1735), deren Sujet er ebenfalls Ariosts „Orlando furioso“ entnahm, kam noch mal ein größerer Erfolg. „Orlando“ ist die Geschichte vom Ritter Roland aus Kaiser Karls des Großen Paladin-Runde, der aus unerwiderter oder verlorener Liebe in rasenden Eifersuchts-Wahn verfällt. Den Verlust seiner Geliebten Angelica an einen weniger karriere-bewussten, gefühlszarteren Konkurrenten, Medoro, erträgt er nicht. Dass dieser Medoro dabei auch seine Geliebte, Dorinda, verletzt, kompliziert das nur schwer durchschaubare Beziehungs-Geflecht.

Der für die Produktion an der Komischen Oper bemühte norwegische Regisseur Alexander Mørk-Eidem verkompliziert das Geschehen optisch weiter, indem er die Geschlechter-Rollen der Figuren aufweicht. Medoro wurde von Händel tatsächlich für eine Frauenstimme konzipiert im Kontrast zum Titelhelden Orlando als Kastraten-Partie. Hier tritt Medoro (Elisabeth Starzinger) von Anfang an auf als Frau. Kostümbildnerin Maria Gyllenhoff präsentiert ihn/sie in bodenlangem dünnem Kleid mit wallendem Haupt-Haar. Die Beziehung zu Angelica, Typ moderne Geschäftsfrau, wandelt sich mithin in eine lesbische. Medoros Ex, Dorinda, mit knabenhaft klarer Stimme gesungen von Julia Giebel, wird gezeigt als burschikoser Typ mit Bubikopf in gemixt-geschlechts-spezifischer Kleidung. Und Orlando (Mariselle Martinez) stimmlich mit überstarkem Vibrato leider eine glatte Fehlbesetzung, tritt schon mal auf mit Che-Guevara-Guerillero-Habit und Pistole im Anschlag.

Die heute wieder barocken Moden sich annähernde Aufweichung der Geschlechter-Rollen zu thematisieren, wäre sicherlich interessant gewesen. Allerdings gelingt es Regisseur Mørk-Eidem kaum, die Charaktere psychologisch zu unterfüttern. Viel wird herumgeballert, im Theaterblut gerührt, mit medizinischem Gerät hantiert – der übliche Klamauk. Im Stück gibt’s auch noch eine Art Therapeuten. Der hört auf den schönen Namen Zoroastro oder Zarathustra (Wolf Matthias Friedrich). Er versucht das Spiel zu dirigieren, hier mit Rasta-Haaren, Guru-Kettchen und Wasserpfeife. Ein dichter Nadelwald auf Erlend Birkelands Bühne dient erst als Urlaubs-Idyll mit VW-Campingbus und Wäscheleine für Medoro/Dorinda/Angelica, mutiert dann zu einer Art Birnam-Albtraum-Wald für Orlando. Geöffnet oder verschlossen wird er mit einer halbrunden Bretterwand von einem in dieser Form hinzugefügten, zwischen Hausmädchen und Dienstbote changierenden, Voll-Glatzen-Faktotum Isabella.

Spannender macht das die Aufführung nicht. Der zynische Besserwisser-Ton, der sich in der Komischen Oper immer mehr ausbreitet, wird zwar voll bedient, das Publikum erreicht man damit nur bedingt. Beklatscht werden die Sänger und auch der Dirigent Alessandro De Marchi, der von der gewachsenen Einübung des Orchesters in barock-nahe Spielweisen sehr profitieren kann. Das Inszenierungsteam muss sich am Ende kräftige Buhs gefallen lassen. Einmal mehr zeigt sich: ein fast 280 Jahre altes Stück bloß in gängiges Alltags-Outfit von heute zu kleiden, bringt es uns kaum näher. Innerlich erfahrbar wird es dadurch nicht. Und das Gespür dafür scheint an der Komischen Oper allmählich verloren zu gehen.


Bis der Notarzt kommt

Gaëtano Donizettis „Don Pasquale“ zu Besuch im Sarglager

31.Jan. 2010

Es war nicht mehr die Blüte-Zeit der Buffa. Rossini, der das Genre aus dem 18.Jahrhundert ins 19te hinüber zu retten versuchte, hatte sich längst davon verabschiedet. Das 19.Jahrhundert tat sich überhaupt schwer mit der Komödie. Und wenn Wagner es dann in den „Meistersingern“ noch einmal damit versuchte, wurde daraus ein unheilschwangeres Drama über die Kunst. 1842 schrieb Gaëtano Donizetti seinen „Don Pasquale“. Das Libretto bastelte er sich aus älteren Vorlagen überwiegend selbst. Von Krankheit gezeichnet, war er aus dem Zensur-beengten Italien nach Paris gewechselt, um noch einmal seine Möglichkeiten auszutesten. „Don Pasquale“ wurde für ihn und das Genre ein später Triumph.

Das Szenario, das sich die junge holländische Regisseurin Jetske Mijnssen für ihren „Don Pasquale“ an der Komischen Oper in Berlin ausgedacht hat, ist von makabrer Totschlagkraft. Don Pasquale hängt am Tropf. Mit einem Stützwagen hält er sich aufrecht. Den Sarg hat sich der alte Herr schon bestellt und lässt ihn wie ein Kunstwerk in seiner Wohnung aufbahren, gut staubpoliert und gepflegt von der Dienerschar. Im Sarg macht er immer mal wieder Probeliegen. Dort deponiert er auch sein Geld, das er sich alles von der Bank geholt hat, aus Angst die Übersicht zu verlieren. Von seinem zwielichtigen Arzt Malatesta hat er sich die Heirat mit einer jungen Frau aufschwatzen lassen als körperlichen Jungbrunnen. Fein putzt er sich dafür heraus in Anzug und Krawatte statt ärmellosen Pulli. Die ihm zugeführte Jung-Witwe Norina ist freilich ein Biest. Eigentlich hat sie’s abgesehen auf den seinem Erbteil entgegen wartenden Pasquale-Neffen Ernesto. Aber sie legt auch noch gern einen kleinen Fick ein mit dem eigenen Bruder Malatesta. Praktischerweise treiben sie‘s unter dem auf einer Lafette ruhenden Sarg. Und als sie unter falschem Namen mit Pasquale verheiratet ist, feiert sie Partys bis tief in die Nacht, verprasst sein Geld und legt ihn an die Kandare – bis ihn der Schlag trifft und der Notarzt kommt.

Man kann das für lustig halten, besonders witzig ist es nicht. Die Buffa bezog ihre Kraft einst aus ihrem gesteigerten Sinn für Realität. Aber wer außer vielleicht ein Bestatter verbringt sein Leben schon bevorzugt im Sarglager? Mijnssen häuft so viele Klischees des Unterhaltungs-Gewerbes an, dass sie sich darin verheddert und das Stück als Klamotte versenkt. Natürlich rennt der Neffe ständig mit einer Pistole herum und fuchtelt damit an seinem Kopf und den Köpfen anderer, um sich die Wartezeit bis zum Erbe-Kassieren zu verkürzen. Und natürlich wandert die Pistole dann auch durch verschiedene unbefugte Hände, um den Kitzel ein bisschen zu steigern. Am Ende, wenn Pasquale auf Norina verzichtet und sie seinem Neffen überlässt, grapscht sich der Intrigenspinner Malatesta den Beutel mit dem Geld. Das junge Paar hat das Nachsehen, und insbesondere Norina. Pasquale wird, aufrecht sitzend in seinem Sarg, wie ein Bootskapitän von seinen Dienern hinaus gefahren. Vielleicht ins Krematorium.

Das Einheitsbühnenbild von Paul Zoller ist ein trapezförmiger, mit milchig-blauem Tuch ausgeschlagener Raum. Arien de Vries hat die ganz und gar heutigen Kostüme entworfen. Am Pult waltet Maurizio Barbacini; wie die Regie setzt er mehr auf knallige Effekte. Immerhin gesungen wird recht anständig. Eine kregle Norina ist Christiane Karg, die auch die sanfteren Töne wohl zu intonieren weiß. Günter Papendell gibt den gewieften Falschspieler Malatesta, Adrian Strooper ist der auch stimmlich spindelige Ernesto und Jens Larsen der fast bemitleidenswerte Pasquale. Am Ende viel Beifall und vereinzelte Buhs. Schade, intelligente Komödie könnte man sich so anders denken.


Ab zu den Würmern

Hans Neuenfels inszeniert Aribert Reimanns „Lear“

22.Nov. 2009

Larven, Maden, Würmer. Es wimmelt von Würmern. Was man zunächst sieht auf der wie ein durchbrochener Bildschirm wirkenden Bühnen-Rückwand sind Würme. Brav sitzen die Höflinge davor auf ihren Stühlen wie bei einer Schulstunde. Aus der hinteren Reihe erhebt sich Lear. Der greise König – oder ist der ältere Herr in Strickjacke und Cordhose nur ein fürsorglicher Rentner, der dafür, dass er seine Reichtümer aufteilt, geliebt werden will? – Lear will sein „Reich“ aufteilen unter seine drei Töchter. Für jede reißt er sich ein Drittel seines Mantels von den Schultern. Nur die jüngste, Cordelia, verweigert sich. Sie verzichtet zum Unmut des Vaters auf die Teilhabe. Die beiden älteren, Goneril und Regan, lassen sich nicht lange bitten. Der Kampf beginnt, jeder gegen jeden.

Es ist das blutrünstigste der Shakespeare-Dramen. Gier und Gewalt beherrschen die Szene. Massenweise geht’s hier ab zu den Würmern. Und das Alter schützt vor Torheit nicht beim Einschätzen des Machtstrebens der Jüngeren. In nüchternen geradezu Brechtischen Bildern zeigt Hans Neuenfels das an der Komischen Oper, mit akzentuierter Mimik lässt er spielen. Reimanns und seines damaligen Librettisten Claus H. Henneberg fast existenzialistischen Ansatz von 1978 greift er auf. Verdi war an dem Stoff gescheitert und auch Reimann brauchte dafür zehn Jahre.

NEUENFELS: Ich denke, dass der Reimann eine ganz unglaublich gute Situation für sich geschaffen hat musikalisch, indem er gewagt hat, die Figur des Lear freizusetzen ohne Gesellschaft, ohne soziologische und psychologische – also indem er die Figur blank gesetzt hat. Das konnte damals Verdi noch nicht, oder wollte nicht.

Die Bühne von Hansjörg Hartung ist ein schmuckloser Raum von milchig-transparenten Rechtecken. Als Abschluss vorn werden drei Elemente wie eine Fotolinse ineinander gefahren. Die Kampfhähne der Nebenhandlung, loster mit seinen beiden rivalisierenden Söhnen, gehen aufeinander los aus Tiger-Laufställen. Goneril, die älteste der Lear-Töchter, ist von Elina Schnizler in ein graues Kostüm mit Krawatte gesteckt, Regan, die blutrünstigste, in Schwarz-Rot mit keckem Hütchen und ebenfalls Krawatte, Cordelia, die verzichtbereite, trägt Sahara-Beige. Den Narren, der die Wahrheiten hinter der Fassade verkündet, lässt Neuenfels von seiner Frau Elisabeth Trissenaar spielen: wie ein Joker mit Krankenpflege-Funktion begleitet sie in schwarz-weiß kariertem Hosenanzug den greisen König durch das von ihm selbst kreierte Chaos, mutiert bald zum Gevatter Tod.

Auch anderes Neuenfelssches Lieblingspersonal findet sich auf der Bühne: in graue Kapuzenjacken gesteckte junge Männer und Frauen figurieren als Liebende, Raufende, Fackelträger; Edelhunde, die sich über den Machtrivalen der beiden Schwestern, Gloster, hermachen, sitzen bissfest an transparenten Plastikmöbeln in Regans Heim und ihr auf dem Schoß. Goneril dagegen ist die Glucke, die mit der Produktion von Kindern ihre Macht mehren will. Freilich, der Verzicht auf Psychologie macht es gelegentlich mühsam, Neuenfels‘ skelettierter Dramaturgie zu folgen. Was die beiden älteren Schwestern wirklich im Inneren treibt; woher Edgar, Glosters in die Heide verstoßener legitimer Sohn, die Kraft nimmt, den Halbbruder Edmund ebenfalls zu den Würmern zu schicken – es bleibt im Dunkeln.

Gleichwohl einhelliger Jubel am Ende für den Regisseur und sein Team, für den Komponisten, für den die Partitur eher überforcierenden Dirigenten Carl St. Clair und die Sänger. Tómas Tómasson ist ein recht rüstiger Lear. Irmgard Vilsmaier und Erika Roos geben die verdrängungsmächtigen Goneril und Regan, Caroline Melzer die stolze Cordelia. Mit schönem Counter singt Martin Wölfel den Edgar. Die Macht fällt nach dem großen Schlachten an einen eigentlich Unbeteiligten; er bleibt am Ende allein stehen auf der Bühne. Neuenfels‘ „Lear“ an der Komischen Oper ist ein altersweises Kammerspiel, sehr auf Distanz gearbeitet, aber von bezwingender Ernsthaftigkeit.


Narr mit Hüftproblem

Barrie Kosky inszeniert Verdis „Rigoletto“ zum Spielzeitauftakt

20.Sept. 2009

Einer wie der sogenannte „Inzestvater“ Josef Fritzl und Kollegen ist er nicht, dieser Rigoletto. Seine Tochter Gilda hält er nicht unter Verschluss für eine heimliche Parallel-Ehe. Gilda will er vielmehr „rein“ erhalten vor den Anfechtungen ihres eigenen Körpers. Aber Gilda ist längst auf einem anderen Stern, hat sich beim sonntäglichen Kirchgang – so viel muss sein – in einen attraktiven jungen Mann verliebt, der allerdings zufällig der Chef ihres Vaters ist, ein Schwerenöter von Geblüt.

Durchaus überraschend das Bild, mit dem Regisseur Barrie Kosky und seine Ausstatterin Alice Babidge jetzt die Neuinszenierung des Verdischen „Rigoletto“ an der Komischen Oper beginnen. Man sieht auf einer arenaähnlichen lindgrünen Bühne eine Figur mit Grandguignol-Riesenkopf in einem pfauenartigen weißen Glitzerrock von rund vier Meter Durchmesser, unter dem immer neue Comic-Figuren hervor krabbeln. Auf- und Abtritte in diesem hermetischen Raum geschehen hier immer nur durch Boden-Klappen. Die Glucken-Figur entpuppt sich allmählich als der rotlockige Narr Rigoletto. Statt Buckel als Zeichen seiner geistigen Verkrümmungen hat er hier ein Hüftproblem, das ihm das Gehen erschwert. Die Tochter hat er verschlossen in einer Schrankkiste, aus der sie, freigesperrt, im kanariengelben Kleid hüpft wie ein munteres Vögelchen. Offenbar hat sie ihren heimlichen Fitness-Trainer in diesem bunten Sarg immer dabei. Und der Liebhaber aus der Kirche schleicht auch schon wieder um die Kiste, heran gelotst von der Zofe.

Barrie Kosky, der Regisseur und designierte Intendant des Hauses (ab 2012), ist ein Regisseur der kurzen Wege. Im Programmheft äußert er zwar Kluges wie, diese Gilda sei für ihn eine Art weiblicher Kaspar Hauser. Das Ganze inszeniert er aber in einer Art Zirkusmilieu. Die herzogliche Dienerschar verpflanzt er wie einst Doris Dörrie auf einen Planeten der Affen, lässt sie unter einem schwarzen Sternentuch immer neue Verwandlungen herbeizaubern. Selbst der Trick mit der zersägten Frau darf nicht fehlen. Eine Beleidigung fürs Auge sind die schuhplattelnd stampfenden Tänze. Aber so kommt es, wenn man an einem Haus, das mal ein Zentrum zeitgenössischen Tanztheaters war, den Tanz hinaus eskamotiert. Andererseits gibt man sich traditionsbewusst. Gesungen wird nach wie vor in wenn auch kaum verständlichem Deutsch. Dabei kann man auf einer neu installierten Übersetzungs-Anlage in den Stuhllehnen den Text mitlesen. Warum man dann nicht gleich in die Originalsprache schwenkt und dafür unter einem breiteren Sängerangebot wählen kann? ’s ist halt an der Behrenstraße so Sitte, wie der Intendant auf Nachfrage meint.

Nach gut zwei Stunden ist der Theaterabend vorbei. Kosky lässt ohne Pause durchspielen – wegen der angeblichen Dramatik seiner Inszenierung. Das Publikum dankt es ihm mit einem Schwall von Buhrufen. Den Sängern geht’s sehr viel besser. Den meisten Applaus bekommt zu Recht die quirlige Russin Julia Novikova als Gilda. Der Mexikaner Hector Sandoval kämpft als Herzog tapfer mit der deutschen Sprache und sauberen Tönen. Der italienstämmige Nordire Bruno Caprani gibt einen stämmigen Rigoletto. Patrick Lange am Pult legt es vor allem auf Kontraste an, vernachlässigt die klangliche Differenzierung. Volkstheater, wie die Komische Oper es gern will, wird es dennoch nicht, trotz des melodramatischen Schlusses mit einer blutüberströmten Gilda, die mit Babybauch in den Armen des Vaters stirbt. Da hat sich’s der gedungene Mörder in Weiß und Zirkusdirektor, Sparafucile, doch etwas zu leicht gemacht.

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